Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


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nur hoch genug ansetzt: Konsensfähig in jeder Gesellschaft ist, dass Gesellschaft überhaupt zustandekommt. Im Hobbesschen Dschungel ist die Schaffung eines Rechtsstaats, der den Krieg aller gegen alle beendet, allgemein zustimmungsfähig, weil die Friedensdividende es erlaubt, alle besserzustellen. Der Verzicht auf das Hobbessche „Recht auf alles“[42] – insbesondere der Verzicht auf eigene Gewaltanwendung: die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols – ist eine Investition in das Zustandekommen von Gesellschaft, und es ist die Rendite dieser Investition, die es für jeden einzelnen vorteilhaft macht, die entsprechenden Kosten in Kauf zu nehmen. Ohne diese Kosten lassen sich die Erträge gesellschaftlicher Kooperation nicht aneignen.[43] Freiheit entsteht durch Leviathan. Aus dieser konstitutionellen Perspektive ist der Staat eine Organisation der Gesellschaft, die durch einen kollektiven Tauschakt zustandekommt, in dem die Option gesellschaftlicher Zusammenarbeit – inklusive miteinander integrierter Kooperations- und Konkurrenzsphären – ‚erkauft‘ wird durch einen sanktionsbewehrten Verzicht auf einzelne Handlungsmöglichkeiten, die dieser Zusammenarbeit nicht förderlich wären.[44] Freilich wird Freiheit durch Leviathan auch bedroht. Aufgabe einer klugen Verfassungsbildung ist es daher, erstens einen Staat überhaupt zustandekommen zu lassen und ihn zweitens so auszugestalten, dass er sich als ein Instrument zur Förderung der Gesellschaft als eines Unternehmens wechselseitiger Vorteilsgewährung bewährt.

      Wählt man niedrigere Abstraktionsebenen, so lässt sich das Konsenskriterium in Bezug auf genuin politische Probleme ebenfalls immer anwenden, sofern man nur sorgsam auf die relevanten Alternativen abstellt. Folgendes Beispiel macht das deutlich: Es lohnt sich nicht, einen Verbrecher zu fragen, ob er einen kriminellen oder eher einen gesetzestreuen Einkommenserwerb vorzieht, denn diese Frage ist durch sein Verhalten ja bereits faktisch beantwortet: Offensichtlich empfindet er es als individuell vorteilhaft, seinen Lebensunterhalt durch Gesetzesübertretungen zu bestreiten. Betrachtet man diesen Fall als ein Spiel, in dem der Verbrecher (A) gegen den Rest der Gesellschaft (R) spielt – vgl. Abb. 1 –, so wird der Status quo durch den II. Quadranten repräsentiert: Spieler A defektiert, er verletzt das Gesetz, während Spieler R kooperiert, d.h. das Gesetz achtet.

      |34|Abbildung 1:

      Die relevanten Alternativen im Konsenstest

      In dieser Situation hieße es nun, systematisch die falsche Frage zu stellen, wollte man Verhaltensänderungen einem Konsenstest unterwerfen. Konstitutionelle Ökonomik fragt nach der Zustimmungsfähigkeit von Regeln. Die systematisch richtige Frage muss daher auf die relevanten Regelalternativen abstellen. Sie lautet, ob Spieler A eine allgemeine Defektion einer allgemeinen Kooperation vorziehen würde. Genau dies ist natürlich nicht der Fall: Ein Verbrecher lebt davon, dass andere sich an das Gesetz halten. Würden auch alle anderen zu Verbrechern, so stünde er sich schlechter, als wenn alle Gesellschaftsmitglieder – einschließlich seiner selbst – das Gesetz befolgten. Die relevanten Alternativen, die es zu vergleichen gilt, bilden also nicht die Quadranten I und II, sondern die Quadranten I und III. Damit vergleicht man den Status quo minor mit einer pareto-superioren Alternative. Folglich fällt der Konsenstest eindeutig aus: zugunsten einer Regel, die für allgemeine Kooperation sorgt.

      Folgende Beispiele führen zu ähnlichen Ergebnissen: Ein Schwarzfahrer, vor die Wahl gestellt, in einer Gesellschaft zu leben, in der alle Bürger den Fahrpreis zahlen oder alle Bürger schwarzfahren, wird sich für ersteres entscheiden, weil es sonst keine öffentlichen Verkehrsmittel gäbe. Ähnliches gilt für einen Monopolunternehmer. Er kann dem Prinzip der Marktwirtschaft zustimmen, weil er lieber in einer Gesellschaft lebt, in der ausnahmslos alle Unternehmer unter Konkurrenzbedingungen handeln, als in einer Gesellschaft, in der alle Unternehmer Monopolisten sind. Der Grund hierfür lässt sich allgemein angeben: Wer als Trittbrettfahrer gesellschaftlicher Kooperation privilegiert ist, präferiert eine allgemeine Deprivilegierung gegenüber einer allgemeinen Privilegierung, d.h. einer allgemeinen Beeinträchtigung des Funktionierens gesellschaftlicher Zusammenarbeit.

      An diesen Beispielen lässt sich nicht nur demonstrieren, dass es – will man den Sinn konstitutioneller Konsenstests nicht verfehlen – in besonderer Weise darauf ankommt, die relevanten Alternativen, d.h. Regelalternativen, zu vergleichen. Die Beispiele zeigen auch, dass man zwischen empirischer und hypothetischer Zustimmung unterscheiden muss, weil Handlungsinteresse und konstitutionelles Regelinteresse auseinandertreten können: In sozialen Dilemmasituationen gibt es keine ‚revealed preferences‘; im Gegenteil. Diese Situationen sind ja gerade dadurch definiert, dass von ihnen Anreize ausgehen, die rationale Akteure veranlassen, sich so zu verhalten, dass sie ein pareto-inferiores Ergebnis erzielen, obwohl sie ein pareto-superiores Ergebnis vorgezogen hätten.

      |35|Aufgrund des möglichen Auseinandertretens von Handlungsinteresse und konstitutionellem Regelinteresse können empirische Meinungsbekundungen strategisch verfälscht sein, um eine eigene Privilegierung im Status quo möglichst lange aufrechtzuerhalten. Eigeninteressierte Akteure sind hier versucht, auf Zeit zu spielen. Inwiefern ihnen dies gelingt, hängt davon ab, wie sich der Rest der Gesellschaft verhält. Prinzipiell sind sowohl positive wie negative Sanktionen geeignet, der Privilegierung ihre individuelle Vorteilhaftigkeit zu nehmen. Im ersten Fall erfolgt eine Kompensation aus den Erträgen, die durch den Abbau von Privilegien gesellschaftlich angeeignet werden können. Im zweiten Fall erfolgt eine Drohung mit dem Status quo minor – und das heißt im Extrem: die Drohung, in den Hobbesschen Dschungel zurückzukehren. Ist diese Drohung glaubwürdig, dann kann sie von rationalen Akteuren antizipiert werden. Sie haben dann gute Gründe, hypothetische und empirische Zustimmung in Übereinstimmung zu bringen – und das heißt: ihrer Einsicht Taten folgen zu lassen. Die kollektive Deprivilegierung einer weißen Minderheit in Südafrika und einer kommunistischen Funktionärselite im ehemaligen Ostblock – beide weitgehend gewaltlos – gehören in dieser Hinsicht wohl zu den eindrucksvollsten Beispielen, die die Weltgeschichte hervorgebracht hat.

      (3) Im Unterschied zum Effizienzbegriff handelt es sich beim Konsensbegriff um ein internes Kriterium. Dies wird sofort deutlich, sobald man sich den Unterschied zur wohlfahrtsökonomischen Kategorienbildung vergegenwärtigt.[45] Die Wohlfahrtsökonomik hat das auf Handlungen bezogene Prozesskriterium der Pareto-Superiorität zum Konzept des Pareto-Optimums weiterentwickelt und damit in ein Ergebniskriterium überführt. Das Prozesskriterium kann dazu verwendet werden, die Funktionsweise von Märkten zu erklären: Freiwillige Tauschakte kommen zustande, weil und solange wechselseitige Tauschgewinne angeeignet werden können. Erst wenn dieses Potential pareto-superiorer Verbesserungsmöglichkeiten ausgeschöpft ist, kommt der Tausch zum Erliegen, und ein Pareto-Optimum ist erreicht. Mit Hilfe dieses Ergebniskriteriums geht nun allerdings die Wohlfahrtsökonomik dazu über, die Funktionsweise von Märkten zu bewerten: Der im Rahmen einer allgemeinen Gleichgewichtstheorie explizierte Effizienzzustand wird zum Effizienideal erhoben. Dies führt zu einer radikalen Änderung der Sichtweise des Marktes. Der Markt erscheint nicht länger als ein Interaktionsprozess. Er wird zunehmend als Mechanismus, als „Kalkulationsmaschine“ aufgefasst, deren Leistung daran gemessen wird, inwiefern sie zu dem normativ als Effizienz vorgegebenen Ergebnis führt. Damit wird der Effizienzbegriff als ein vom Marktprozess losgelöstes Ergebnisideal interpretiert. Effizienz wird dem Marktprozess als externes Bewertungskriterium gegenübergestellt.[46]

      Im Unterschied hierzu propagiert Buchanan eine dezidiert andere Kategorienbildung. Er will zum Prozesskriterium der Pareto-Superiorität zurückkehren und |36|dieses nun allerdings nicht auf Handlungen, sondern auf Regeln bezogen wissen. Die Akteure im Prozess sollen den von der Theorie vorgeschlagenen Änderungen zustimmen können. Insofern handelt es sich beim Konsenskriterium in der Tat um ein internes Kriterium, das gezielt den Anschluss an die real vorfindlichen Interessen realer Bürger in realen Situationen sucht.[47]

      (4) Als internes Kriterium weist das Konsensprinzip mehrere Vorteile auf. Es gehört nicht zu den geringsten dieser Vorteile, dass es dem Selbstverständnis bürgerlicher Autonomie entgegenkommt, wie es sich in den pluralistischen Gesellschaften des Westens entwickelt hat.[48] Seine besondere Eignung für eine ökonomische Politikberatung in der Demokratie speist sich jedoch auch noch aus anderen Quellen, die nicht übersehen werden sollten: Das Konsensprinzip erfüllt innerhalb des Forschungsprogramms konstitutioneller Ökonomik eine wichtige heuristische