Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


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Nobel Economists, 6. Auflage, Cambridge, Mass.

      Vanberg, Viktor und James M. Buchanan (1989): Interests and Theories in Constitutional Choice, in: Journal of Theoretical Politics 1, S. 49–62.

      Vanberg, Viktor und James M. Buchanan (1991): Constitutional Choice, Rational Ignorance and the Limits of Reason, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 10, S. 61–78.

      Wicksell, Knut (1896): Finanztheoretische Untersuchungen nebst Darstellung und Kritik des Steuerwesens Schwedens, Jena.

      Zintl, Reinhard (1989): Der Homo Oeconomicus: Ausnahmeerscheinung in jeder Situation oder Jedermann in Ausnahmesituationen?, in: Analyse & Kritik 11, S. 52–69.

       [Zum Inhalt]

      |43|Mancur Olson (1932–1998)

      „Fachleute versäumen ihre Pflicht, wenn sie einer Gesellschaft nicht helfen, sich über die Tragweite alternativer Entscheidungen Klarheit zu verschaffen.“ Mancur Olson (1968, 1991; S. 185)

      Mancur Olsons Logik kollektiven Handelns

      Mancur Olson gehört zu den prominentesten und prononciertesten Verfechtern einer theoretischen Integration der Sozialwissenschaften. Theoretische Integration zielt auf eine Analyseperspektive, die unterschiedliche soziale Phänomene nicht unverbunden nebeneinander stehen lässt, sondern systematisch miteinander in Verbindung bringt, um vergleichende Lernprozesse zu ermöglichen. Olson ist ein vehementer Befürworter theoretischer Integration sowohl innerhalb seiner eigenen Disziplin, der Ökonomik, als auch zwischen traditionell unterschiedenen Disziplinen, insbesondere zwischen Ökonomik, Soziologie und Politikwissenschaft. Zum einen bemüht er sich, die traditionelle Trennung von Mikroökonomik und Makroökonomik zu überwinden, und zum anderen ist er bestrebt, die Analyse wirtschaftlicher, sozialer und politischer Phänomene zu vereinheitlichen. In beiden Fällen ist die Argumentationsfigur, auf die sich sein Bemühen um theoretische Integration stützt, jeweils dieselbe: Im Kern geht es um die – teilweise nicht-intendierten – Wirkungen intentionaler Handlungen. So führt Olson makroökonomische Phänomene wie Stagflation und Arbeitslosigkeit im Wege einer mikroökonomischen Anreizanalyse auf die Einflussfaktoren individueller Kosten-Nutzen-Kalküle zurück, und analog sind es die Einflussfaktoren individueller Kosten-Nutzen-Kalküle, aus deren Analyse sich Olson ein systematischer Zugang für die Untersuchung von Organisationen und politischen |44|Regimes erschließt. Sowohl in intra- als auch in inter-disziplinärer Hinsicht also strebt Olson theoretische Integration an, indem er eine konsequente Anwendung mikroökonomischer Kategorien dazu benutzt, neue Fragen aufzuwerfen bzw. alte Fragen neu zu stellen, d.h. in einem anderen Licht erscheinen zu lassen.

      Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel der folgenden Ausführungen, die Spezifika des Olsonschen Ansatzes, seine Problemstellung, herauszuarbeiten. Es geht um eine konstruktive Lesart für das Gesamtwerk: Worin liegen die positiven – gesellschaftstheoretischen – und normativen – gesellschaftspolitischen – Beiträge, die sich mit diesem Werk verbinden? Zu welchen Erkenntnissen führt Olsons Bemühen um theoretische Integration, und welche forschungsstrategischen Konsequenzen lassen sich daraus ableiten? Um diese Fragen zu beantworten, erweist es sich als zweckmäßig, das Werk chronologisch in drei Teile zu untergliedern, die sich durch eine jeweils eigenständige und eigentümliche Problemstellung auszeichnen: in die „Logik des kollektiven Handelns“[60], in „Aufstieg und Niedergang von Nationen“[61] und in die neueren Schriften[62], die im Wege einer komparativen Analyse politischer Regimes Autokratie und Demokratie miteinander vergleichen. In Bezug auf diese drei Teile, die nicht nur zeitlich aufeinanderfolgen, sondern auch inhaltlich aufeinander aufbauen, lässt sich eine Entwicklungslogik nachzeichnen, die deutlich werden lässt, welchen Beitrag Mancur Olson zu den theoretischen Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik leistet. Die im folgenden zu entwickelnde These lautet, dass sich Olson sowohl theoretische Integration als auch demokratische Aufklärung von einer konsequent ökonomisch instruierten, auf Anreizwirkungen abstellenden, Kategorienbildung verspricht.

      1. Gruppentheorie: Das Problem der Instabilität kollektiven Handelns

      (1) Die ökonomischen Klassiker, allen voran Adam Smith, beschäftigten sich mit der Funktionsweise von Märkten. Ihnen ging es um die Frage, wie wirtschaftliche Akteure durch Wettbewerb dazu veranlasst werden können, ihre individuellen Handlungen via Tausch in den Dienst anderer Akteure zu stellen. Ihr Thema war, wie eine dezentrale Fremdversorgung mit privaten Gütern zustandekommen kann. Dass dies überhaupt möglich sein könnte, war eine gesellschaftstheoretische Entdeckung ersten Ranges. Sie dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Ökonomik sich zu einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin hat entwickeln können, zu einer Disziplin, die ihre Eigenständigkeit nicht vordergründig von einem bestimmten Gegenstandsbereich her bezieht, sondern letztlich methodisch: als Anreizanalyse, indem sie vor allem die nicht-intendierten Wirkungen intentionalen Handelns ins Zentrum der Betrachtung rückt. Diese Anreizanalyse setzt ein mit einer Irritation des Alltagsverstandes: Das Theorem der Unsichtbaren Hand ist, bis heute, kontra-intuitiv. Dass die wettbewerbliche Koordination individueller Handlungen am Markt zu sozial erwünschten Ergebnissen |45|führen kann, ist eine Einsicht, die sich dem Beobachter nicht von selbst aufdrängt und daher wohl auch weiterhin einer theoretischen Vermittlung bedarf, die den Blick hierfür schult.

      (2) Mancur Olson wählt sich als Ausgangspunkt ein anderes Problem. Im Vordergrund seines Interesses steht zunächst nicht der Markt, sondern die Organisation. Ihn beschäftigt nicht so sehr die individuelle Fremdversorgung mit privaten Gütern als vielmehr die kollektive Selbstversorgung mit öffentlichen Gütern. Im Wege einer – rudimentären, aber wegweisenden – ökonomischen Anreizanalyse bestimmt Olson kollektives Handeln als individuelles Handeln in einer Gruppe. Er fragt nach den Bedingungen, unter denen rationale Akteure bereit sein werden, Gruppenbeiträge zu leisten. Da in einer Gruppe das Verhalten des einen Mitglieds vom Verhalten der anderen i.d.R. nicht unabhängig sein dürfte, verlangt die Behandlung dieses Problems einen Ansatz, der die Interdependenzen zwischen Gruppenmitgliedern explizit berücksichtigt. Olson verfügt jedoch nicht über das hierfür erforderliche spieltheoretische Instrumentarium. Seine Analyse erfolgt reaktionstheoretisch, nicht interaktionstheoretisch.[63] Sie bildet nur besondere Spezialfälle ab, und überdies arbeitet sie mit extrem vereinfachenden – und zudem oft nur impliziten – Annahmen.[64] Deshalb handelt es sich bei Olsons „Logik des kollektiven Handelns“ allenfalls im metaphorischen Sinn um eine wirkliche Logik. Am besten liest man seine ‚Logik‘ daher als eine Sammlung von Tendenzaussagen, deren Gültigkeit strikt situationsabhängig ist und somit im jeweiligen Problemkontext allererst überprüft werden muss. Nicht als Logik also, wohl aber als Sammlung von Tendenzaussagen ist Olsons ‚Logik‘ kollektiven Handelns von hohem heuristischem Wert

      Die wichtigsten dieser Tendenzaussagen beziehen sich auf die Größe und Zusammensetzung von Gruppen. Generell macht Olson in seiner ‚Logik‘ geltend, dass kollektives Handeln keineswegs automatisch zu einer optimalen Bereitstellung öffentlicher Güter führt. Hinsichtlich der Gruppengröße führt er aus, dass solche Ineffizienzen kollektiver Selbstversorgung um so größer sind, je mehr Mitglieder zur Gruppe gehören. Hinsichtlich der Gruppenzusammensetzung führt er aus, dass es in Gruppen mit heterogenen Mitgliedern zu einer vergleichsweise sehr ungleichen Verteilung der Beitragslasten kommen kann, und zwar insbesondere dann, wenn es sich nicht für jedes Mitglied, mindestens aber für ein Mitglied der Gruppe lohnt, allein zur Bereitstellung des öffentlichen Gutes beizutragen. Die Abbildungen 1 und 2 enthalten jeweils eine extrem vereinfachte Illustration dieser Tendenzaussagen.

      In Abbildung 1 ist eine additive Produktionsfunktion für das öffentliche Gut Y unterstellt, d.h. das Bereitstellungsniveau für die Gruppe wird durch die Summe der individuellen Beiträge yi zum öffentlichen Gut bestimmt.[65]

      |46|Abbildung 1:

      Suboptimale Gruppenversorgung

      Die