Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


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ist der entscheidende Unterschied zwischen den drei Regimes institutioneller Natur. Er besteht in der Qualität politischer Eigentumsrechte. (a) In der Anarchie haben Herrscher ungesicherte Eigentumsrechte. Von einer solchen Konstellation gehen starke Konsum-, nicht jedoch Investitionsanreize aus. Solche Herrscher haben kein umfassendes Interesse an dem Wohlergehen der Gesellschaft, weil sie sich die Erträge von Investitionen in dieses Wohlergehen |57|nur unzulänglich aneignen können. Würde sich einer bei der Ausbeutung der Bevölkerung zurückhalten, so käme dies einem positiven externen Effekt gleich, von dem vor allem seine Konkurrenten profitierten, die um so größere Beute machen könnten. Die Folge ist politisches Trittbrettfahren. (b) In dem Maße, wie es einem Autokraten gelingt, politische Konkurrenz auszuschalten, herrschen sichere Eigentumsrechte. Im Vergleich zur Anarchie sind also in der Autokratie positive externe Effekte internalisiert. Der Autokrat kann sich die Erträge aus Investitionen in die Produktivität der Gesellschaft aneignen, weil diese Gesellschaft ihm quasi gehört. Als Monopolist hat er ein wesentlich umfassenderes Interesse an dem Wohlergehen der Gesellschaft. Er nimmt nicht nur, er gibt auch; allerdings gibt er nur, um letztlich mehr nehmen zu können. Aber immerhin: Ein Autokrat sorgt mit seinem Gewaltmonopol für öffentliche Ordnung, und darüber hinaus stellt er weitere öffentliche Güter bereit, und zwar so lange, bis aus seiner individuellen Sicht Grenznutzen und Grenzkosten zum Ausgleich gebracht sind. (c) Im Gegensatz zur Autokratie ist die Erwerbung und Ausübung politischer Herrschaft in der Demokratie Regeln unterworfen. Hier sind die Eigentumsrechte der Regierung durch verfassungsmäßige Schranken begrenzt. Zudem ist die Regierung stark an den Willen des Volkes gebunden. Da allerdings i.d.R. die Mehrheit ausreicht, um Regierungsgewalt zu erlangen, fällt das Interesse einer demokratischen Regierung zwar nicht mit dem umfassenden Interesse aller Bürger zusammen, aber es ist doch signifikant umfassender als das Interesse des Autokraten am Wohlergehen der Gesellschaft.

      Für Olson wird damit der – ursprünglich gesellschaftstheoretische – Begriff des mehr oder weniger „umfassenden Interesses“ zum terminus technicus, der den staatstheoretisch entscheidenden Parameter bezeichnet, von dem die Leistung politischer Regimes abhängt. Interpretiert man Anarchie als das Resultat einer Gruppe konkurrierender Herrschaftsanwärter, die sich nicht zu kollektivem Handeln organisieren können (Quadrant II), Autokratie als eine Herrschaftselite, die sich als kleine Gruppe – metaphorisch: als Autokrat – organisiert (Quadrant III), und Demokratie als das Resultat einer Mehrheitskoalition (Quadrant IV), so lässt sich die grundlegende Fragestellung der Olsonschen Staatstheorie mit Hilfe von Abbildung 6 illustrieren. Sie fragt nach dem umfassenden Interesse unterschiedlicher Herrschaftskoalitionen.

      Abbildung 6:

      Die staatstheoretische Fragestellung

      |58|Aus dieser staatstheoretisch gewendeten ‚Logik‘ folgen zwei grundlegende Tendenzaussagen: Die erste besagt, dass es der Bevölkerung um so besser geht, je umfassender das Interesse der Regierung ist. Die zweite besagt, dass dieses Interesse in der Autokratie umfassender ausfällt als in der Anarchie und dass es in der Demokratie noch umfassender ausfällt als in der Autokratie.

      Diese Tendenzaussagen stützen sich im Kern auf folgende Überlegungen – vgl. Abbildung 7 in Anlehnung an Olson (1991c): Ein rationaler, eigeninteressierter Autokrat betreibt Steuermaximierung. Er wählt den Maximalpunkt B der Laffer-Kurve LA. Die Lage dieser Kurve hängt teilweise von der Verwendung des Steueraufkommens ab, also davon, wieviel Geld der Autokrat für die Aufrechterhaltung seines Regimes oder für öffentliche Güter oder für eigene Konsumzwecke ausgibt. Da öffentliche Güter die Produktivität des Marktsektors – und mithin die Bemessungsgrundlage der Besteuerung – erhöhen, wird ein Autokrat diese Güter so weit bereitstellen, wie dies in seinem eigenen Interesse liegt. Er wird also jenes Bereitstellungsniveau wählen, bei dem die Grenzausgaben seinen steuerlichen Grenzeinnahmen gerade entsprechen.

      Abbildung 7:

      Autokratie versus Demokratie

      Im Unterschied zur Autokratie erfolgt in einer Demokratie die staatliche Umverteilung nicht zugunsten einer kleinen Gruppe – im metaphorischen Extremfall: zugunsten eines einzelnen –, sondern zugunsten einer großen Gruppe, der Mehrheitskoalition. Dieser für Olsons staatstheoretische ‚Logik‘ zentrale Unterschied macht sich in zweierlei Weise bemerkbar: zum einen in einer Verlagerung der Lafferkurve nach links oben (LD), zum anderen in der Wahl eines Optimalpunkts links vom Maximum in Punkt C. Der zwingende Grund hierfür liegt darin, dass die Mehrheit der Bürger – im Gegensatz zu einem Autokraten – ihr Einkommen nicht nur aus Steuereinnahmen bezieht, d.h. nicht nur als Umverteilungseinkommen, sondern zum Teil auch als Markteinkommen. Deshalb fallen die Wahlentscheidungen der Mehrheit systematisch anders aus als die des Autokraten, der schlicht seine Steuereinnahmen maximiert.

      |59|Dies betrifft zum einen die Verwendung der Steuern: Anders als ein Autokrat, profitiert die Mehrheit von der Bereitstellung öffentlicher Güter nicht nur indirekt, in Form höherer Steuereinnahmen, die das Umverteilungseinkommen steigen lassen, sondern auch direkt, in Form einer höheren Produktivität ihrer Marktaktivitäten. Dieser Effekt ist für die Verlagerung der Laffer-Kurve auf LD verantwortlich.[80] Zum anderen betrifft der Unterschied die Wahl des Steuersatzes. Gerade weil die Mehrheit nicht nur Umverteilungseinkommen erzielt, sondern auch Markteinkommen, liegt es in ihrem Interesse, das Gesamteinkommen zu maximieren. Ausgehend von Punkt C auf der Laffer-Kurve LD profitiert die Mehrheit, wenn niedrigere Steuersätze gewählt werden, weil den sinkenden Steuereinnahmen zunächst größere Markteinkommen aufgrund geringerer Fehlanreize gegenüberstehen. Die zentrale Tendenzaussage, die aus diesen Überlegungen resultiert, lautet in Olsons (1993a; S. 570) eigenen Worten:

      „Though both the majority and the autocrat have an encompassing interest in the society because they control tax collections, the majority in addition earns a significant share of the market income of the society, and this gives it a more encompassing interest in the productivity of the society. The majority’s interest in its market earnings induces it to redistribute less to itself than an autocrat redistributes to himself.“[81]

      (2) Aus diesen staatstheoretischen Überlegungen lassen sich nicht nur komparative Erkenntnisse, sondern auch verfassungspolitische Schlussfolgerungen ableiten. Zu den komparativen Erkenntnissen gehört, dass der Zeithorizont einer Regierung für ihr tatsächliches Verhalten von entscheidender Bedeutung ist. So besteht eine zentrale Schwäche autokratischer Regimes in dem notorisch ungelösten Problem der Nachfolgeregelung, dessen Lösung hingegen erforderlich ist, um den Zeithorizont eines Autokraten über seine eigene Lebenserwartung hinaus zu verlängern. In Demokratien ist dieses Problem sogar noch akuter, weil hier die Regierungszeit auf Legislaturperioden künstlich begrenzt wird. Demokratien verfügen jedoch über einen institutionellen Problemlösungsmodus, der diesen vermeintlichen Nachteil überkompensieren kann. Hier übernehmen politische Parteien nicht nur die Auswahl der Politiker, sondern auch die Kontrollfunktion innerhalb der Wahlperiode. Als Organisationen orientieren sie sich dabei an ihrem eigenen langfristigen Interesse. Die Analogien zum Unterschied |60|zwischen einer Personalunternehmung (Autokratie) und einem Gesellschaftsunternehmen (Parteiendemokratie) sind augenfällig und erklären die überlegene Funktionsweise demokratischer Regimes.

      Eine verfassungspolitische Schlussfolgerung der staatstheoretischen ‚Logik‘ wird von Olson selbst explizit gezogen – vgl. etwa Olson (1995; S. 25): Wenn die Bürger um so besser gestellt sind, je umfassender das Interesse ihrer Regierung am Wohlergehen der gesamten Gesellschaft ist, dann lässt sich ein Vorteil des Mehrheitswahlrechts gegenüber dem Verhältniswahlrecht ableiten. Das Mehrheitswahlrecht begünstigt die Herausbildung zweier großer Parteien und ermöglicht damit eine Regierungsbildung ohne Koalitionen, d.h. ohne die Beteiligung kleinerer Parteien, die unter Umständen nur der Organisation sehr kleiner Verteilungskoalitionen dienen und folglich auf Kosten der Allgemeinheit höchst partikuläre Sonderinteressen vertreten.

      4. Kritische Anfrage: Hat die ‚Logik‘ einen blinden Fleck?

      Olsons Gesamtwerk ist außergewöhnlich ideenreich, und doch sind es relativ wenige – und zudem erstaunlich einfache –