ist hier nicht abschließend zu beantworten. Sie wurde auch nur aufgeworfen, um einen Bereich derzeit offener Forschungsprobleme zu markieren, die weiterer Überlegungen wert wären. Es ging lediglich darum, etwaige Anknüpfungspunkte für theoretisch weiterführende Arbeiten aufzuzeigen. Insofern verstehen sich die Ausführungen zu diesem Gliederungspunkt weniger als Kritik denn in der Tat als Anfrage zum Entwicklungspotential einer umfassenden ökonomischen Gesellschaftstheorie, durch dessen Erschließung sich Olsons Intentionen möglicherweise noch wirksamer zur Geltung bringen ließen. Diese Intentionen sind Gegenstand des abschließenden Fazits.
5. Fazit: Interdisziplinarität und demokratische Aufklärung durch theoretische Integration
Bei Olsons Gesamtwerk, der gruppentheoretischen, gesellschaftstheoretischen und staatstheoretischen ‚Logik‘ kollektiven Handelns, handelt es sich um ein beeindruckendes Theorieprogramm, dessen Entfaltung in beharrlicher Arbeit über mehr als dreißig Jahre hinweg erfolgt. Welchen Motiven folgt die Kontinuität der theoretischen Entwicklung? Lassen sich möglicherweise grundlegende Ideen ausmachen, die diese Entwicklung heuristisch angeleitet haben?
|64|Die hier vorgeschlagene Lesart kommt zu dem Ergebnis, dass es – neben Olsons Verständnis von Ökonomik[85] – zwei solcher Ideen gibt. Es handelt sich zum einen um die Idee, dass die Arbeit an konkreten sozialwissenschaftlichen Problemen stets Interdisziplinarität erfordert. Zum anderen handelt es sich um die Idee, dass die Ideologien, die politisches Handeln leiten, den tatsächlichen Problemen der Gesellschaft nicht immer angemessen – und gelegentlich sogar höchst irreführend – sind. Interessanterweise legen beide Ideen ein bestimmtes Instrument nahe: Es handelt sich um das Mittel theoretischer Integration.
Zum Beleg dieser These seien zwei Aufsätze Olsons herangezogen. Der erste wurde erstmals 1968 veröffentlicht, der zweite 1991. Der erste beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Ökonomik und Soziologie, der zweite mit den Möglichkeiten ökonomischer Aufklärung über irreführende Ideologien.[86]
(1) Im ersten Aufsatz geht Olson der Frage nach, was eine Gesellschaft zusammenhält. Er stellt fest, dass unterschiedliche sozialwissenschaftliche Disziplinen hier typischerweise zu unterschiedlichen Antworten gelangen. Sein Befund lautet: Während viele Soziologen betonen, dass es auf Homogenität: auf gemeinsame Werthaltungen und allseits geteilte Normvorstellungen und Rollenerwartungen ankommt, stellen viele Ökonomen zumeist auf das genaue Gegenteil ab. Aus ökonomischer Sicht steigen die gesellschaftlichen Tauschvorteile, – nicht: je homogener, sondern – je heterogener die Bevölkerung ist.
Ausgehend von diesem Befund schlägt Olson vor, den offensichtlichen Widerspruch auf eine Weise aufzulösen, die beide Disziplinen bereichert. Zu diesem Zweck rekurriert er auf die kategoriale Unterscheidung zwischen privaten und kollektiven Gütern. Damit – so Olson (1968, 1991; S. 174) – „lässt sich der Gegensatz zwischen ökonomischer und soziologischer Perspektive aufheben und eine Argumentation skizzieren, die besser als alle beide ist. Diese Argumentation kommt zu dem Schluss, dass eine Gesellschaft – unter sonst gleichen Umständen – mit größerer Wahrscheinlichkeit zusammenhält, wenn ihre Mitglieder so sozialisiert sind, dass sie hinsichtlich privater Güter verschiedenartige Bedürfnisse und hinsichtlich kollektiver Güter ähnliche Bedürfnisse haben.“[87]
Olson geht es hier um theoretische Lernprozesse für beide Disziplinen. Die gemeinsame Arbeit am gleichen Problem, der Gedankenaustausch über die jeweils eigentümlichen Blickwinkel – kurz: interdisziplinäre Polyperspektivität – ist für ihn dann produktiv, wenn sie zum Anlass genommen wird, sich der theoretischen Kategorien jeweils neu zu vergewissern. Theoretischer Fortschritt ist für ihn Fortschritt hinsichtlich der Kategorienbildung, Fortschritt hinsichtlich einer systematisierenden und damit vereinheitlichenden Konzeptualisierung problemadäquater Perspektiven und gerade dadurch zugleich Fortschritt auf |65|dem Weg theoretischer Integration.[88] Für Olsons Gesamtwerk gilt im Umkehrschluss: Das Bemühen um theoretische Integration in der problemorientierten Auseinandersetzung mit ‚benachbarten‘ Disziplinen der Sozialwissenschaften ist für Olson eine – vielleicht sogar die – heuristische, forschungsleitende Idee bei der Weiterentwicklung ökonomischer Kategorien, mit denen er die eigene Disziplin bei der Bearbeitung allgemein gesellschaftlicher Probleme voranbringen will.
(2) Im zweiten Aufsatz setzt sich Olson mit dem Befund auseinander, dass ‚linke‘ und ‚rechte‘ Ideologien die Rolle des Staates, und zwar insbesondere seine sozialpolitische Rolle, im wirtschaftlichen Wachstumsprozess unterschiedlich einschätzen. Er geht der Frage nach, warum sich dieser ideologische Streit nur schwer mit Hilfe empirischen Tatsachenmaterials entscheiden lässt. Hierfür identifiziert er mehrere Gründe. Zu diesen Gründen gehört, dass die verfügbaren Statistiken über Ländervergleiche ‚mixed evidence‘ enthalten, so dass man sich mit einiger Beliebigkeit jeweils Beispiele herausgreifen kann, die die eigene Position stützen. Ein weiterer Grund besteht darin, dass sich der Umfang sozialpolitischer Maßnahmen nicht unbedingt im staatlichen Sozialbudget niederschlagen muss, weil vielfach auch von Regulierungen Gebrauch gemacht wird, deren Wirkungen sich statistisch nicht ohne weiteres identifizieren lassen. Ferner gibt es Diskrepanzen zwischen dem, was ‚linke‘ oder ‚rechte‘ Regierungen ankündigen, und dem, was sie an Politik tatsächlich praktizieren. Insbesondere können zwischen der normativen Diskussion über Pro und Contra von Sozialpolitik einerseits und der tatsächlich praktizierten Sozialpolitik andererseits Welten liegen, weil es in vielen Wohlfahrtsstaaten zu perversen Umverteilungen kommt. So schreibt Olson (1991b; S. 82) über die USA:
„Die Mittel, die unsere Gesellschaft umverteilt, gehen hauptsächlich an Leute, die sie nicht brauchen, und die Verluste an Effizienz und Dynamik, die von solcher Umverteilung bewirkt werden, haben wenig oder nichts mit der ideologischen Auseinandersetzung über Gleichheit und Gerechtigkeit zu tun.“
Insgesamt läuft Olsons Argumentation auf die These hinaus, dass die Fronten im ideologischen Grabenkrieg quer zu den tatsächlichen Problemen verlaufen, d.h. dass Ideologien die relevanten Politikalternativen verfehlen, weil sie die wirklich wichtigen Fragen systematisch falsch stellen. Aus Olsons Sicht geht es nicht um mehr oder weniger Sozialstaat. Eine solche Frage verfehlt das eigentliche Problem. Vielmehr geht es um die Frage – und diese Frage richtig zu stellen ist eine hochtheoretische Leistung –, wie das Politiksystem effizienter gemacht werden kann, damit es – durch geeignete sozialpolitische Maßnahmen – die Lage der Armen sowie – durch geeignete Maßnahmen, die das Wirtschaftswachstum fördern – die Lage der Bevölkerung insgesamt verbessert. Angesichts der gewaltigen Ineffizienzen, deren Abbau allseitig vorteilhaft wäre, ist für Olson (1991b; S. 82) der vielstrapazierte Tradeoff zwischen Gleichheit und Leistung beinahe geradezu |66|nicht-existent, ein „irriger Eindruck“, das Resultat intellektueller Fehlorientierung. Zur Korrektur solcher Fehlorientierungen kann die Wissenschaft – ganz im Sinne des Einleitungsmottos – beitragen, nicht indem sie fertige Antworten vorgibt, sondern indem sie hilft, allererst die richtigen Fragen zu stellen. So schreibt Olson (1991b; S. 81, H.i.O.):
„Das Problem ist, dass die meisten rechten Parteien und Politiker nicht den Großteil ihrer Zeit damit verbringen, freie Märkte herzustellen, und dass die meisten linken Parteien und Politiker nicht den Großteil ihrer Zeit damit verbringen, den Bedürftigen zu helfen. In hochorganisierten Gesellschaften ist der größte Teil der politischen Tätigkeit auf der Rechten wie auf der Linken der Verfolgung der organisierten Interessen gewidmet und weder den freien Märkten noch den Bedürfnissen der Armen.“
Gesellschaftliche Lernprozesse können also durch theoretische Lernprozesse angeleitet werden. Aber damit die Sozialwissenschaften und insbesondere die Ökonomik diese öffentliche Aufgabe in der Demokratie (besser) wahrnehmen können, bedarf es theoretischer Integration. So hält es Olson beispielsweise für besonders wichtig, dass sich die Ökonomik um Konzeptualisierungen bemüht, die es ihr erlauben, die Argumente pro und contra Sozialpolitik innerökonomisch zu diskutieren, z.B. als Vor- und Nachteile von Versicherungen. Staatliche Sozialpolitik lässt sich dann differenziert(er) beurteilen: ihre Einführung als Reaktion auf Probleme privater Versicherungsmärkte mit adverser Selektion, ihre Begrenzung als Reaktion auf Probleme moralischer Versuchung. Eine solche Differenzierung ist für Olson (1991a; S. 47, H.i.O.) Ausdruck theoretischer Integration: „Dieselbe Argumentation lässt sich – somit