Möglichkeiten, wie man mit der Anomalie umgehen könnte. Erstens könnte man eine positive Korrelation zwischen Einkommen und Verhütungswissen annehmen. Zweitens könnte man annehmen, Kinder seien nicht „normale“, sondern inferiore Güter. Und drittens könnte man die Annahme stabiler Präferenzen aufgeben und statt dessen unterstellen, dass die Präferenzen für Kinder systematisch mit dem Einkommen variieren. Eine andere, vierte, Möglichkeit, auf die Anomalie zu reagieren, beruht auf der Idee, zwischen Qualität und Quantität von Kindern zu unterscheiden. Dabei wird die Qualität eines Kindes durch die Kosten gemessen, die seine Eltern für Ernährung, Kleidung, Erziehung und Ausbildung in Kauf nehmen. In diesem speziellen Sinne werden teurere Kinder als Kinder höherer Qualität aufgefasst. Becker hält es für möglich, dass ein säkularer Anstieg dieser Kosten den in Wahrheit positiven Einkommenseffekt überdeckt haben könnte, und er weist darauf hin, dass als relevante Kosten nicht nur Geldausgaben, sondern auch „die für Kinder aufgewendete Zeit und Anstrengung zu veranschlagen sind“[100].
Sämtliche Vorschläge sind zum Zeitpunkt der Publikation ad hoc. Trotzdem differenziert Becker: An einem arbeitet er weiter, an den anderen nicht. In den folgenden Jahren bemüht er sich, sowohl die Unterscheidung zwischen der Qualität und Quantität von Kindern als auch das zunächst nur intuitive Kostenargument von ihrem Ad-hoc-Charakter zu befreien.
Es ist diese Anomalie eines scheinbar negativen Einkommenseffekts, d.h. gerade die Erfolglosigkeit einer bloßen Anwendung des vorfindlichen analytischen Instrumentariums, die Becker dazu führt, die Kategorien der Preistheorie noch radikaler umzustellen. Die Verarbeitung der Anomalie erfolgt schrittweise, in einem mehr als 10jährigen Prozess, so dass die einzelnen Verarbeitungsschritte die weiteren Entwicklungsstufen des Forschungsprogramms markieren, in dessen Verlauf der ökonomische Ansatz Gary Beckers allererst konstituiert wird. Anders gesagt: Erst durch die mit der Anomalie des negativen Einkommenseffekts auftretende Problemstellung wird aus den Forschungsarbeiten Gary Beckers ein Forschungsprogramm.
(4) Der erste Schritt zur Verarbeitung der Anomalie besteht in einer Selbstvergewisserung. Becker versucht, sich Klarheit darüber zu verschaffen, inwiefern es überhaupt statthaft sein kann, die Familiengröße als Ergebnis einer rationalen Entscheidung aufzufassen. Zu diesem Zweck geht er der sehr viel allgemeiner gestellten Frage nach, welcher methodische Stellenwert der Rationalitätsannahme im Rahmen der Preistheorie zukommt: Inwiefern ist die Rationalitätsannahme |77|konstitutiv zur Herleitung der Einkommens- und Preiseffekte, mit denen die Ökonomik menschliches Verhalten zu erklären versucht?
Zur Beantwortung dieser Frage entwirft Becker ein Modell irrationalen Verhaltens[101], das zu den gleichen Verhaltensmustern führt, die im allgemeinen aus Modellen rationalen Verhaltens abgeleitet werden – sofern nur der irrationale Akteur in seinen Handlungsmöglichkeiten durch Restriktionen beschränkt wird: Unterstellt man, dass ein Akteur die für ein rationales Verhalten typischen Tradeoff-Überlegungen nicht anstellt und sich statt dessen zwischen den relevanten Verhaltensalternativen völlig zufällig entscheidet, so lässt sich der Erwartungswert für ein solches Verhaltensmuster durch den Mittelpunkt der jeweiligen Budgetgerade repräsentieren (Abbildung 3a). Dass eine Verschiebung der Budgetgerade nach außen zu positiven Einkommenseffekten führt (Abbildung 3b), ist trivial. Nicht trivial hingegen ist, dass sich auch die negativen Substitutionseffekte einer einkommenskompensierten Preisänderung einstellen, die üblicherweise nur bei rationalem Verhalten erwartet werden (Abbildung 3c): Erhöht man, ausgehend vom ursprünglichen Gleichgewicht G0, den Preis des Gutes x2 und hält das Realeinkommen des irrationalen Akteurs konstant, so verläuft seine neue Budgetgerade durch G0. Als neuer Erwartungswert ergibt sich jedoch G1. Mit Bezug auf das Gesetz der großen Zahl ist somit bereits für den einzelnen Akteur, erst recht aber für das Aggregat einzelner Akteure zu erwarten, dass das verteuerte Gut x2 zugunsten des relativ verbilligten Gutes x1 substitutiert wird. Die individuelle und erst recht die marktlich aggregierte Nachfragekurve sind somit negativ geneigt.
Mit diesem Modell gelingt es Becker, die Standardergebnisse der traditionellen Preistheorie herzuleiten, ohne auf die Standardannahmen zurückgreifen zu müssen. Positive Einkommens- und negative Preiseffekte erweisen sich somit als eine Folge von Knappheit, nicht jedoch als Folge von Rationalität, da sie auch aus irrationalem Verhalten resultieren.
Diese Überlegungen führen zu einer neuartigen Rechtfertigung der Rationalitätsannahme, deren methodischer Status dadurch radikal geändert wird. Für Gary Becker ist Rationalität nicht länger eine quasi naturalistische Annahme über die Qualität der Bewusstseinsprozesse, die sich in den Köpfen von Akteuren abspielen. Statt dessen ist für ihn die Rationalitätsannahme ein Kunstgriff zur Komplexitätsreduktion: Die Annahme, Menschen verhielten sich so, als ob sie rational seien, ist ein analytisch leistungsfähiges Instrument, um im Wege einer mikrofundierten Makroanalyse von gesamtwirtschaftlichen Daten-Änderungen via Individual-Modell auf gesamtwirtschaftliche Raten-Änderungen zu schließen. Aus dieser Perspektive ist die Rationalitätsannahme nicht länger eine Rationalitätshypothese. Sie formuliert keine empirische Aussage, sondern sie ist ein theoretisches, d.h. prä-empirisches, Konstrukt, mit dessen Hilfe sich empirische Aussagen analytisch herleiten lassen. Das Ergebnis dieser kategorialen Umstellung lässt sich in der wissenschaftstheoretischen Terminologie von Imre Lakatos wie folgt ausdrücken: Mit Gary Becker wandert die Rationalitätsannahme von |78|der falsifizierbaren Peripherie, dem „Schutzgürtel“, in den nicht-falsifizierbaren – „kritikimmunen“ – Kern des ökonomischen Forschungsprogramms.[102]
Gleichgewicht, positiver Einkommenseffekt und negativer Substitutionseffekt in Beckers Modell irrationalen Verhaltens
Beckers Konzept einer Als-Ob-Rationalität lässt etwaige Zweifel an der Zulässigkeit einer familienökonomischen Vorgehensweise obsolet werden. Ob dem generativen Verhalten bewusste, halb-bewusste oder unbewusste Entscheidungen zugrundeliegen, ob es emotional oder traditional bestimmt wird usw., kann offen bleiben. Der ökonomische Ansatz Gary Beckers unterstellt lediglich, dass der für die Analyse generativen Verhaltens repräsentative Haushalt sich so verhält, als ob er (s)eine Nutzenfunktion rational maximierte.[103] Die Annahme, dass familiale Entscheidungen rational getroffen werden, ist hier nicht mehr als ein analytisch bequemes Instrument, um Implikationen der Knappheitsannahme – genauer: um Implikationen der empirischen Knappheitshypothese – herzuleiten.
(5) Der zweite Schritt zur Verarbeitung der Anomalie besteht in einer weiteren kategorialen Umstellung. Während die traditionelle Preistheorie mit einer strikten Trennung zwischen Firma und Haushalt operiert, nimmt Becker hier eine theoretische Integration vor. Er überträgt das firmentheoretische Konzept der Produktionsfunktion auf die Haushaltstheorie. Die Einführung des Konzepts einer Haushaltsproduktionsfunktion hat sich nicht nur als äußerst fruchtbar erwiesen, mit ihr verbindet sich auch folgende Pointe:
Bis heute entzündet sich immer wieder Unmut an der Terminologie, die Becker verwendet. Dies gilt bereits für den Begriff „Humankapital“. Es gilt in noch stärkerem Maße für den – in der Tat missverständlichen – Qualitätsbegriff.[104] Den größten Unmut dürfte jedoch hervorgerufen haben, dass Beckers ursprüngliche |79|Fassung der Theorie generativen Verhaltens Kinder in Analogie zu langlebigen Konsumgütern analysiert: Sie kosten Geld und stiften Nutzen. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass Becker selbst mit dieser Konzeptualisierung nicht ganz zufrieden war. Er macht daher schon in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1960 auf wichtige Unterschiede aufmerksam: „Jede Familie muss ihre eigenen Kinder produzieren, da Kinder nicht am Markt gekauft und verkauft werden können.“[105]
Exakt dieser Gedanke markiert den Übergang zur Haushaltsproduktionsfunktion. In diesem Ansatz werden Kinder nicht länger wie Marktgüter analysiert. Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt. Die Güter, die Nutzen stiften, werden analytisch wie Kinder behandelt: Zielgüter müssen vom Haushalt selbst produziert werden, bevor sie Nutzen stiften können. Hier liegt also nicht, wie vielfach befürchtet, eine ökonomistische Enthumanisierung des Fertilitätsverhaltens vor, sondern gerade umgekehrt eine generelle Humanisierung des Ökonomischen, und zwar dadurch, dass jegliches menschliche Verhalten