Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


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Umstellung darin zum Ausdruck, dass die Nutzenfunktion (U) nicht mehr über Marktgüter (xi), sondern über Zielgüter (Zj) – die sog. ‚basic commodities‘ – definiert wird:

      für j = 1, …, m.

      Für jedes Zielgut wird eine Haushaltsproduktionsfunktion definiert. Sie gibt an, mit Hilfe welchen Ressourceneinsatzes die Zielgüter produziert werden.

      für j = 1, …, m und i = 1, …, n.

      Typischerweise gehen in die Haushaltsproduktion verschiedene Marktgüter (xi) ein. Im Unterschied zur traditionellen Preistheorie stiften sie also nicht direkt Nutzen, sondern müssen zum Zweck der Nutzenproduktion allererst kombiniert werden. Diese Kombination hängt vom Stand des Wissens (W) ab, d.h. von der Konsumtechnologie, über die ein Haushalt verfügt. – Im Becker-Ansatz unterliegt der Haushalt daher mindestens zwei Restriktionen: einer monetären Budgetrestriktion, die bestimmt, wieviel Marktgüter maximal eingekauft werden können, und einer technologischen Restriktion, die bestimmt, wie Marktgüter in Zielgüter transformiert werden können. Unter vereinfachenden Annahmen lassen sich diese beiden Restriktionen zu einer einzigen Restriktion zusammenfassen, indem die Technologiebedingung in die Budgetrestriktion eingesetzt wird.[106] Man erhält:

      Hierbei geben die Inputkoeffizienten bij an, wieviel Einheiten des Marktgutes i eingesetzt werden müssen, um eine Mengeneinheit des Zielgutes j zu produzieren. Der in Klammern gesetzte Ausdruck gibt die Faktorkosten einer Zielguteinheit |80|an. Diese Faktorkosten ergeben sich aus der Summe der mit Marktgüterpreisen bewerteten Inputkoeffizienten. Im Becker-Ansatz werden diese Faktorkosten als Schattenpreis (Sj) des Zielgutes j interpretiert:

      Mit Hilfe dieses Schattenpreises lässt sich die neue Restriktion umschreiben. Statt Gleichung (6) erhält man:

      Diese Budgetrestriktion sagt aus, dass die Ausgabensumme für Basisgüter das verfügbare Einkommen nicht überschreiten darf. Wird die über Zielgüter definierte Nutzenfunktion unter Beachtung dieser Nebenbedingung maximiert, so lässt sich das Verhaltensgleichgewicht des Haushalts durch folgende Optimalitätsbedingung erster Ordnung kennzeichnen:

      Vergleicht man die Gleichungen (1), (2) und (3) mit den Gleichungen (4), (8) und (9), so wird sofort deutlich, dass der Becker-Ansatz die formale Struktur des mathematischen Kalküls der traditionellen Preistheorie beibehält. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der Becker-Ansatz aufgrund kategorialer Umstellungen eine reichhaltigere Klasse von Restriktionen berücksichtigen kann, mit der Folge, dass nun nicht mehr lediglich die monetären Preise der Marktgüter, sondern statt dessen die allgemeiner definierten Schattenpreise der Zielgüter herangezogen werden können, um die jeweils verhaltensrelevanten Opportunitätskosten situationsadäquat – d.h. in einer dem jeweiligen Erklärungsproblem angemessenen Weise – zu bestimmen.

      (6) Die Möglichkeit, durch die Haushaltsproduktionsfunktion mehr Restriktionen – und das heißt vor allem: andere als die rein monetären Restriktionen der traditionellen Preistheorie – in Rechnung zu stellen, kommt freilich erst mit dem dritten Schritt voll zum Tragen: der Entwicklung der Zeitallokationstheorie, die neben Geld und Wissen die – zunehmend knappe – Ressource Zeit als Einsatzfaktor der Haushaltsproduktion in Ansatz bringt.[107]

      Berücksichtigt man, dass die Haushaltsproduktion Zeit erfordert, so bestimmt die Konsumtechnologie nicht nur, wie sich Marktgüter in Zielgüter transformieren lassen, sondern sie bestimmt auch, wieviel Zeit für die einzelnen Produktionsvorgänge jeweils aufgewendet werden muss. Dies schlägt sich in der Definition des Schattenpreises nieder:

      |81|Der Schattenpreis Sj gibt die Faktorkosten an, die bei der Produktion einer Einheit des Zielgutes j anfallen. Diese Faktorkosten setzen sich aus zwei Komponenten zusammen, die symmetrisch aufgebaut sind. Sie enthalten jeweils einen Mengen- und einen Preisbestandteil. Die erste Komponente enthält – wie bisher – die mit den jeweiligen Marktpreisen (pi) gewichteten Inputkoeffizienten der Marktgüter (bij). Die zweite – zusätzliche – Komponente enthält den mit dem Zeitpreis gewichteten Zeitinputkoeffizienten (tj), wobei als Zeitpreis der Opportunitätskostensatz der Konsumzeit, d.h. der Lohnsatz (w), angesetzt wird.

      Als unmittelbare Implikation dieser Konzeptualisierung folgt, dass ein gestiegener Lohnsatz den Schattenpreis jener Zielgüter überproportional ansteigen lässt, die relativ zeitintensiv produziert werden: Aus Gleichung (9) lässt sich ersehen, dass ein Anstieg von S1 relativ zu S2 einen rationalen Nutzenmaximierer veranlasst, sein Verhalten marginal dahingehend anzupassen, dass er weniger von Z1 und dafür mehr von Z2 produziert.[108]

      Aus diesen Überlegungen folgt ein signifikanter Erklärungsbeitrag für das empirisch beobachtbare Fertilitätsverhalten. Interpretiert man Kinder als Zielgut Z1 und setzt Z2 für das Bündel aller übrigen Zielgüter, so kann unter der empirischen Annahme, dass das Aufziehen von Kindern: ihre Betreuung, Erziehung, Pflege usw., relativ zeitintensiver ist als der Durchschnitt der anderen Konsumaktivitäten, der empirische Befund eines negativen Einkommenseffekts in ökonomischen Kategorien erklärt werden. Er verliert damit seinen Status als Anomalie.

      Die Kernidee dieser Erklärung stellt darauf ab, dass in praktisch allen entwickelten Gesellschaften der Lohnsatz für weibliche Erwerbsarbeit im Verlauf der letzten Jahrzehnte stark angestiegen ist. Hiervon gehen Einkommens- und Preiseffekte aus. Einerseits verschiebt der gestiegene Lohn die Budgetgerade parallel nach außen von B0 auf B1. Der Haushalt hat mehr Ressourcen zur Verfügung. Sein Möglichkeitenraum ist erweitert. Andererseits aber wird die Budgetgerade zusätzlich noch gedreht, und zwar von B1 nach B2 (Abbildung 4a). Ihre Steigung verläuft flacher. Da diese Steigung durch das Verhältnis der Schattenpreise bestimmt wird, repräsentiert der flachere Verlauf der Budgetgerade B2 einen Preiseffekt. Er spiegelt wider, dass mit einem steigenden Lohnsatz die Opportunitätskosten der zur Haushaltsproduktion verwendeten Zeit steigen. Die steigenden Zeitkosten verteuern jene Zielgüter (Z1), die vergleichsweise zeitintensiv produziert werden, während sie jene Zielgüter (Z2) relativ verbilligen, deren Herstellung vergleichsweise wenig Zeiteinsatz erfordert.

      |82|Abbildung 4:

      Beckers Auflösung der Anomalie eines negativen Einkommenseffekts

      Rationalverhalten unterstellt, geht von dieser Veränderung der relativen Schattenpreise ein Substitutionseffekt zugunsten zeitsparender Aktivitäten aus. In Bezug auf das relativ teurer werdende Zielgut Z1 ist daher ein negativer Preiseffekt zu konstatieren, der den positiven (sic) Einkommenseffekt teilweise kompensiert (Abbildung 4b) oder sogar überkompensiert (Abbildung 4c).

      Die sinkende Geburten-Rate lässt sich also als eine rationale Reaktion auf gesellschaftliche Daten-Änderungen rekonstruieren. Ausgelegt in den Kategorien des Becker-Ansatzes, verliert der empirische Befund einer negativen Korrelation von Familiengröße und Familieneinkommen seinen anomalen Charakter. Die Berücksichtigung nicht nur monetärer, sondern auch nicht-monetärer Restriktionen verändert nämlich die theoretischen Zurechnungsmodalitäten: Sie entbindet davon, den empirischen Befund ausschließlich, d.h. undifferenziert, auf das monetäre Einkommen zurechnen zu müssen. Statt dessen erlaubt sie eine differenziertere Zurechnung auf das monetäre (volle) Einkommen und auf die – auch nicht-monetäre Bestimmungsfaktoren umfassenden – Schattenpreise: Die Anomalie des negativen