brachten „De gustibus non est disputandum“[126], gilt nunmehr im ökonomischen Ansatz: De gustibus est disputandum.
(3) Die bisherigen Überlegungen haben zu zeigen versucht, dass gerade die imperialistisch ausgerichtete Ökonomik ein Interesse an Interdisziplinarität hat, ein Interesse daran, die für ökonomische Problemstellungen relevanten Erkenntnisse anderer Wissenschaften in ihre eigene Problembearbeitung aufzunehmen, wobei das Verfahren dieser Problembearbeitung ein genuin ökonomisches Verfahren bleibt. Interdisziplinarität kann sinnvollerweise nicht heißen, dass die Ökonomik (oder eine andere Wissenschaft) ihren Charakter als Disziplin aufgibt. |93|Der methodische Ansatz, durch den sich die Ökonomik als wissenschaftliche Disziplin konstituiert, steht nicht zur Disposition. Ganz im Gegenteil: Wenn die Aufnahme „weicher“ Faktoren theoretisch fruchtbar sein soll, bedarf es einer „harten“ Methodologie und eines „harten“ Festhaltens an dieser Methodologie.
Wie könnte man sich nun eine Interdisziplinarität vorstellen, bei der die Ökonomik nicht (nur) die Nehmende, sondern (auch) die Gebende ist? Was hat der ökonomische Imperialismus anderen Wissenschaftsdisziplinen zu bieten? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob die Disziplinen, deren Beziehung als Inter-Disziplinarität thematisiert wird, im Verhältnis einer Theorienkonkurrenz oder einer Theorienkooperation zueinander stehen.
Der erste Fall ist vergleichsweise trivial. Dort, wo verschiedene Wissenschaften, insbesondere Sozialwissenschaften, sich den gleichen Problemen stellen, aber unterschiedliche Verfahren der Problembearbeitung verwenden, wird sich im Wissenschaftsbetrieb à la longue das leistungsfähigere Verfahren durchsetzen. Insofern spricht einiges dafür, dass der Rational-Choice-Ansatz in den Sozialwissenschaften seine eigentliche Karriere noch vor sich hat.[127] Dies bedeutet freilich nicht, dass nun alle Vertreter sozialwissenschaftlicher Disziplinen zu Ökonomen mutieren, sondern es bedeutet, dass zumindest einige von ihnen ein ursprünglich in der Ökonomik entwickeltes Zurechnungsschema verwenden und bei dieser Verwendung – d.h. bei der Übersetzung sozialer Sachverhalte in Situationsdeutungen und bei der empirischen Überprüfung der Implikationen solcher Situationsdeutungen – ihre komparativen Vorteile ausspielen. Ein so verstandener ökonomischer Imperialismus führt nicht zur Gleichschaltung der Disziplinen, sondern zu einer neuen Art von Arbeitsteilung mit Spezialisierung und Gedankenaustausch.[128]
Der interessantere Fall ist daher der einer Theorienkooperation. Einerseits ist es sicherlich richtig, dass das Potential der Fragestellungen, die sich mit einer mikrofundierten Makroanalyse erfolgreich, d.h. erkenntnisfördernd, angehen |94|lassen, derzeit noch keineswegs auch nur annähernd ausgeschöpft wäre. Andererseits jedoch wird niemand ernsthaft bestreiten können – und wird kein ökonomischer Imperialist bestreiten wollen –, dass es auch noch andere interessante und wichtige Fragen gibt, die außerhalb des Blickfelds einer ökonomischen Perspektive liegen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Die ethische Frage danach, was ein gutes Leben auszeichnet, lässt sich nicht ökonomisch beantworten. Nicht ökonomisch beantworten lässt sich auch die systemtheoretische Frage, welche Strukturmerkmale die moderne von der traditionalen Gesellschaftsformation unterscheiden. Dessen unbeschadet, können die Antworten auf beide Fragen für die Ökonomik wichtig werden: als Hintergrundtheorien für Restriktionen, die in der Ökonomik in Ansatz gebracht werden. Inwiefern umgekehrt relevante ökonomische Erkenntnisse in der Moraltheorie oder in der Systemtheorie – nicht eklektizistisch, sondern disziplinimmanent, d.h. im Rahmen einer konsistenten Methode – verarbeitet werden können, kann hier nicht mehr abschließend diskutiert, sondern nur als derzeit weitgehend offenes Forschungsproblem ausgewiesen werden.[129]
4. Der normative Beitrag: Theoretische Integration positiver Forschung
Folgt man der hier vorgestellten Lesart für das Werk Gary Beckers: dem Versuch, dieses Werk systematisch zu rekonstruieren, so wird ein ganz bestimmter thematischer Grundzug in den Forschungsarbeiten Gary Beckers sichtbar. Angefangen von seiner Dissertation bis hin zu den neuesten Veröffentlichungen ist das über mehr als 40 Jahre hinweg kontinuierlich beherrschende Thema, wie politisch wichtige Verhaltensphänomene besser erklärt und prognostiziert werden können, wenn man sie nicht auf Präferenzen, sondern – methodisch kontrolliert – auf Restriktionen zurechnet: „Diskussionen darüber, ob Strafe von Verbrechen abschreckt, ob die niedrigen Einkommen von Frauen im Vergleich zu denen der Männer hauptsächlich auf Diskriminierung oder auf geringeres Humankapital zurückgehen, ob das Abgehen vom Schuldprinzip im Scheidungsrecht die Scheidungsraten hochtreibt – alle diese Diskussionen werfen Fragen auf über die empirische Relevanz von Prognosen, die auf einer Theorie individueller Rationalität basieren.“[130]
Gary Beckers ökonomischer Ansatz nimmt kategoriale Umstellungen vor, damit eine solche Zurechnung besser möglich wird, nämlich als Zurechnung im ökonomischen Schema von Preis- und Einkommenseffekten. In gewisser Weise zielt er so auf eine ökonomische (sic) „Theorie der Präferenzen“. Dieser thematischen Ausrichtung entspricht die systematische Ausrichtung auf theoretische Integration: angefangen von der theoretischen Integration der traditionellen Preistheorie, die zum ökonomischen Ansatz radikalisiert wird, bis hin zur kühnen |95|Vision einer theoretisch integrierten Sozialwissenschaft, der Becker durch seine Pionierarbeiten einen – programmatisch: den – Weg weist. Becker entwickelt den ökonomischen Ansatz als universale Erklärungsgrammatik sozialer Phänomene. Vielleicht mag es auf den ersten Blick überraschen, aber genau in dieser theoretischen Integration positiver Forschung besteht Gary Beckers letztlich normativer Beitrag zu einer Theorie demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, denn diese ist auf Erkenntnisse angewiesen, zu deren Generierung möglichst leistungsfähige Theorien dringend benötigt werden.[131]
5. Nachtrag 2016
Gary Becker hat auch in seinen späteren wissenschaftlichen Schriften kontinuierlich weiter daran gearbeitet, den ökonomischen Analyseapparat konzeptionell weiterzuentwickeln, um die sozialen Einflüsse auf individuelles Handeln explizit modellieren zu können.[132]
Zusätzlich hat er sich aber auch verstärkt darum bemüht, seine An- und Einsichten in populärwissenschaftlichen Publikationen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.[133] Hier ist vor allem auf zwei Bücher hinzuweisen.
(1) Das erste Buch enthält Kolumnen, die seit 1985 für Business Week geschrieben wurden. Hier werden zahlreiche Themen aus Wirtschaft und Gesellschaft behandelt, aber immer aus der Perspektive einer Rational-Choice-Theorie, die komparativ-statisch untersucht, wie sich gesellschaftliche Gleichgewichtszustände verändern (lassen) und welche gesellschaftspolitischen Implikationen daraus abgeleitet werden können.[134] Das Buch kommt ganz ohne Formeln aus und ermöglicht so gesehen einen im Vergleich zu den technisch anspruchsvollen Arbeiten Gary Beckers ausgesprochen niedrigschwelligen Einstieg in seine Gedankenwelt.
(2) Das zweite Buch hat Becker zusammen mit Richard A. Posner verfasst, seinem berühmten Kollegen von der Juristischen Fakultät in Chicago.[135] Abgedruckt sind Beiträge, die ursprünglich für einen gemeinsamen Internet-Blog geschrieben wurden, und zwar jeweils im Wechsel nach folgendem Muster: Zunächst entwickelt der eine seine Thesen zu einem bestimmten Thema, und dann kommentiert der andere, immer mit einem Blick darauf, wo er nicht zustimmt. |96|So entsteht ein sehr lebhafter Austausch von pro und contra. Auch hier wird ein extrem breites Themenspektrum behandelt.
Ebenfalls sehr zur Lektüre zu empfehlen ist die Neuauflage seines Lehrbuchs, mit dem Generationen von Studierenden die Chicago-Variante der ökonomischen Preistheorie erlernt haben.[136]
Abschließende Hinweise gelten den autobiographischen Angaben[137], die Gary Becker als Nobelpreisträger gemacht hat, dem von Karen Horn geführten Interview[138] sowie der Würdigung, die Gary Becker sowohl als Forscher als auch als Lehrender kürzlich durch führende Ökonomen erfahren hat.[139]
Literatur
Aufderheide, Detlef und Martin Dabrowski (1997) (Hrsg.): Wirtschaftsethik und Moralökonomik, Berlin.
Barro, Robert J. (1974): Are Government Bonds Net Wealth?, in: Journal of Political Economy 82, S. 1095–1117.
Becker, Gary S. (1957, 1971): The Economics of Discrimination, 2. Aufl., Chicago.