Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


Скачать книгу

zu befreien, von der Wiener Polizei erschossen. Sie waren unbewaffnet – und auch ansonsten weitgehend unvorbereitet – in einen Kampf geschickt worden, von dem ihre Parteiführer annahmen, dass er mit historischer Notwendigkeit gewonnen werde. Hieraus zog Popper diverse intellektuelle Konsequenzen. So machte er es sich zur Auffassung, dass man für die eigenen Ideen allenfalls sich selbst, nicht jedoch andere opfern dürfe und dass jene Gesellschaftsordnungen |103|besonders vorzugswürdig seien, in denen es möglich ist, politische Auseinandersetzungen friedlich auszutragen.[143]

      Das zweite Ereignis ist wissenschaftlicher Natur.[144] Anlässlich der Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 konnten bestimmte Aussagen der Relativitätstheorie Albert Einsteins erstmals experimentell überprüft werden und wurden in der Tat bestätigt. Die bis dahin erfolgreichste Theorie aller Zeiten, die schlechterdings für wahr gehaltene Physik Isaac Newtons, wurde nachdrücklich in Frage gestellt und erschien nunmehr als bloßer Spezialfall der allgemeineren Theorie Einsteins, die Bedingungen angeben konnte, wann mit einem Scheitern der Newtonschen Physik zu rechnen sei und wann nicht. Popper war nicht nur vom Erfolg dieser Prognose nachhaltig beeindruckt, sondern auch und vor allem davon, dass Einstein das Risiko eines Misserfolgs überhaupt eingegangen – und sogar gezielt eingegangen – war: Zunächst maßgeblich beeinflusst durch die Lektüre von Karl Marx, Sigmund Freud und Alfred Adler, dessen zeitweiliger Mitarbeiter er später war, hatte Popper ein latentes Unbehagen gegenüber allen drei Ansätzen entwickelt. Auf die Marxisten, Freudianer und Adlerianer in seinem Bekanntenkreis wirkte es faszinierend, in jedem tatsächlichen oder auch nur denkbaren Sachverhalt eine Bestätigung der jeweiligen Theorie sehen zu können, während – so Poppers Interpretation – Einstein seiner eigenen Theorie gegenüber eine völlig andere Einstellung zeigte. Einstein gab Bedingungen an, unter denen er sich genötigt sähe, seine Theorie verwerfen oder doch nachbessern zu müssen. Hieraus zog Popper die Konsequenz, sich eine solchermaßen (selbst-)kritische Einstellung zu eigen machen zu wollen.

      Diese beiden Ereignisse bilden eine nützliche Hintergrundfolie für das Verständnis der wissenschaftstheoretischen Schriften Poppers auf der einen Seite, seiner politischen Schriften auf der anderen Seite, aber auch für das Verständnis ihres systematischen Zusammenhangs, der durch Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften vermittelt ist. Als These formuliert: Poppers politische Stellungnahmen beruhen auf einer Anwendung seiner sozialwissenschaftlichen Methodologie; diese ist ihrerseits eine Anwendung seiner Wissenschaftstheorie; Poppers Wissenschaftstheorie wiederum ist eine Anwendung seines konzeptionellen Denkansatzes, des kritischen Rationalismus; diese Hintergrundkonzeption ist ihrerseits das Produkt einer systematisch integrierten Lösung der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie; und jedes dieser beiden Grundprobleme steht in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den beiden prägenden Ereignissen des Jahres 1919. Der Erläuterung und Einlösung dieser These sind die beiden nächsten Abschnitte gewidmet.

      |104|3. Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie

      (1) In seinem wissenschaftstheoretischen Frühwerk[145] setzt sich Popper mit zwei Problemen auseinander, die von grundlegender Bedeutung für die Erkenntnistheorie sind. Das erste Problem nennt er das Abgrenzungsproblem. Es geht Popper um die Frage, wie man Wissenschaft von Pseudo-Wissenschaft unterscheiden könne.[146] Als Abgrenzungskriterium schlägt er „Falsifizierbarkeit“ vor: Kennzeichen der Wissenschaft sei es, sich um prüfbare, d.h. prinzipiell widerlegbare, Aussagen zu bemühen. Kennzeichen von Pseudo-Wissenschaft sei es hingegen, genau dies nicht zu tun, sondern statt dessen mit Immunisierungen und tautologischen Aussagen zu arbeiten. Popper zufolge bleibt Pseudo-Wissenschaft dem Stadium der Metaphysik durchgängig verhaftet (Abb. 2). Anfang und Ende liegen hier im Bereich metaphysischer, d.h. nicht-prüfbarer, Aussagen. Demgegenüber beginne wahre Wissenschaft zwar oft mit metaphysischen Ideen (als Heuristik). Sie bleibe hierbei jedoch nicht stehen, sondern bemühe sich, ihre metaphysischen Anfangsgründe in empirisch testbare Theorie-Ergebnisse zu transformieren. Für Popper setzt sich wahre Wissenschaft dem Risiko des Scheiterns aus. Genau das meint Falsifizierbarkeit.

      Abbildung 2:

      Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium

      (2) Das zweite Problem nennt Popper das Induktionsproblem. Hier geht es ihm um die Frage, ob und wann induktive Schlüsse gültig sind.[147] Letztlich zielt diese Frage auf die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion: Verfügt die Wissenschaft über eine Methode, aus einzelnen Beobachtungen allgemeingültige Aussagen generieren zu können? Seine Antwort auf diese Frage ist ein klares nein: Popper ist Fallibilist. Für ihn gibt es keine sichere Erkenntnis, keine letzten Gewissheiten, kein unfehlbares Wissen. Aus seiner Sicht ist jedes Wissen Vermutungswissen; es ist konjektural, hypothetisch, fallibel. Dies gilt auch und erst recht für wissenschaftliches Wissen. Niemand, auch |105|die Wissenschaft nicht, verfügt über einen Königsweg zur sicheren Erkenntnis. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse sind stets vorläufiger Natur und können sich jederzeit als falsch erweisen. Dennoch kann die Wissenschaft Fortschritte machen. Freilich hängt ihre Fortschrittsfähigkeit von der Methode ab. Worin aber besteht nun die Methode einer fortschrittsfähigen Wissenschaft, wenn nicht in der Induktion? Poppers Antwort auf diese Frage ist ein radikaler Deduktivismus. Er vertritt die Auffassung, dass alle denkbaren Methoden, sich der (prinzipiell vorläufigen) Gültigkeit einer Aussage wissenschaftlich zu versichern, „ausnahmslos auf streng logischer Deduktion beruhen und dass es keine wie immer geartete Induktion als wissenschaftliche Methode gibt“[148]. Dieser Auffassung liegen zwei Argumente zugrunde.

      Erstens hält Popper die induktive Methode für eine Fiktion, für eine auf erkenntnistheoretischen Missverständnissen und empiristischen Selbstmissverständnissen beruhende Einbildung, und zwar einfach deshalb, weil es aus seiner Sicht reine Beobachtungstatsachen nicht geben kann. Vielmehr gehen jeder Beobachtung bereits bestimmte Erwartungen voraus. Erwartungen – gerade auch enttäuschte Erwartungen, d.h. Probleme – sind stets vorgängig; sie sind das systematisch Primäre jeder Erkenntnis. Popper weist die Vorstellung einer induktiven Erfahrungsgrundlage für Theorien zurück und vertritt die diametral entgegengesetzte Auffassung, dass Erfahrungen ihrerseits auf einer theoretischen Grundlage beruhen. Für ihn steht fest, „dass Beobachtungen … immer Interpretationen der beobachteten Tatsachen sind und dass sie Interpretationen im Lichte von Theorien sind“[149]. Deshalb sind Beobachtungstatsachen nicht jene theorie-unabhängige Basis, deren ein induktives Verfahren notwendig bedarf. Dies verurteilt die Induktion zur weitgehenden Bedeutungslosigkeit. Als wissenschaftliche Methode spielt sie keine Rolle.

      Zweitens hält Popper eine theoretische Aussage dann für vorläufig gültig, wenn sie ernste Widerlegungsversuche (bis auf weiteres) erfolgreich überstanden hat. Aus seiner Sicht können theoretische Aussagen über die Wirklichkeit niemals verifiziert, wohl aber (wiederum vorläufig) falsifiziert werden. Logisch betrachtet, beruht ein solcher Falsifikationsschluss auf dem ‚modus tollens‘, also darauf, die Falschheit theoretischer Implikationen auf die Falschheit der diesen Implikationen vorausgehenden Annahmen zu übertragen. Dieser Übertragungsschluss jedoch ist deduktiver Natur. Folglich kann über die vorläufige Gültigkeit theoretischer Aussagen nur mittels deduktiver Methoden entschieden werden.[150] Poppers Lösung des Induktionsproblems besteht also in einer konsequent fallibilistischen Deduktion. Wie hängen nun die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie zusammen? Und in welcher Verbindung stehen sie mit den Ereignissen des Jahres 1919?

      (3) Der Zusammenhang der beiden Probleme ergibt sich daraus, dass die induktive Methode von zahlreichen Wissenschaftlern – implizit oder explizit – als |106|Abgrenzungskriterium aufgefasst worden ist. Nach dem Motto „it needs a theory to beat a theory“ musste also erst ein anderes Abgrenzungskriterium als überlegene Alternative formuliert werden, um Poppers Lösung des Induktionsproblems akzeptabel zu machen. Aus diesem Grund hat Popper von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass das Abgrenzungsproblem das grundlegendere Problem darstellt und dass das Induktionsproblem sogar auf das Abgrenzungsproblem zurückgeführt werden kann.[151] Dies hat zur Folge, dass auf beide erkenntnistheoretischen Grundlagenfragen letztlich die gleiche Antwort gegeben werden kann. Der Problemselbigkeit korrespondiert eine Identität der Lösungen: Die Lösung des Abgrenzungsproblems besteht im Kriterium der Falsifizierbarkeit, und die Lösung des Induktionsproblems