Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


Скачать книгу

markieren Appelle aber stets einen Abbruch – wenn nicht der Diskussion, so doch – der Argumentation. Metaphorisch ausgedrückt, antworten sie auf berechtigte Fragen des Diskussionspartners nicht mit einem Argument, sondern mit einem Ausrufezeichen. Sie geben nicht Auskunft, sie geben Anweisung. Appelle indizieren einen Mangel an Diskursivität und sind insofern ein Ausdruck von – je nachdem – Verweigerung oder auch nur Verlegenheit auf der einen Seite und als solcher zugleich eine Zumutung für die andere Seite. Auf diese Weise untergraben Appelle die Rationalität der Diskussion.[176]

      Im Hintergrundkonzept des kritischen Rationalismus hat Popper diesem Sachverhalt offensichtlich keinen systematischen Stellenwert eingeräumt. Will man dies ändern, so muss man die Kernbotschaft des kritischen Rationalismus reformulieren. Dass wir aus Fehlern lernen, ist zwar richtig, jedoch zu unspezifisch, |117|wenn man das Potential einer Theorie sozialen Lernens voll ausschöpfen will. Das gleiche gilt auch noch für die Aussage, dass wir aus Kritik lernen. Die sozialen Voraussetzungen argumentationsgestützter Lernprozesse werden hier nicht stark genug betont. Als These zugespitzt: Für einen reformulierten kritischen Rationalismus entfaltet sich Rationalität durch Diskursivität, durch einen Diskussionsprozess, der als Wettbewerb um das bessere Argument organisiert ist und gerade dadurch eine diskursive Überbietungsrationalität freisetzt. Argumentationsgestützte Lernprozesse beruhen auf ‚konstruktiver‘ Kritik. Dies setzt eine gemeinsame Basis voraus, die u.U. allererst geschaffen werden muss und die schaffen zu helfen eine wichtige Aufgabe theoretischer Orientierungsleistungen darstellt.

      Vor diesem Hintergrund stellen sich nun zwei Fragen, auf die im Folgenden eine Antwort zu geben versucht wird: Inwiefern handelt es sich bei dieser Reformulierung um eine konstruktive Kritik Poppers; inwiefern ist sie mit seinem Werk zu vereinbaren? Und inwiefern handelt es sich um eine konstruktive Kritik Poppers; welche Veränderungen zieht die Revision des Hintergrundkonzepts nach sich?

      (3) In bezug auf die erste Frage ist auf zwei Sachverhalte aufmerksam zu machen. Erstens hat Popper zwischen 1934 und 1944 sein Abgrenzungskriterium weiterentwickelt. Das ursprüngliche Kriterium, die Falsifizierbarkeit, erscheint ihm seitdem als ein Spezialfall des allgemeineren Abgrenzungskriteriums der Kritisierbarkeit.[177] Demzufolge unterscheidet sich echte Wissenschaft von bloßer Pseudo-Wissenschaft nicht unbedingt dadurch, dass ihre Aussagen empirisch getestet werden können. Vielmehr reicht es bereits aus, dass ihre Aussagen systematisch verbessert werden können. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass Lernfortschritte nicht unbedingt durch eine Konfrontation von Theorie und Realität zustande kommen müssen, sondern auch durch eine Konfrontation alternativer Theorien erzielt werden können. Faktisch kommt dies einer diskursiven Wende des kritischen Rationalismus gleich.[178] Diese Wende wird lediglich konsequent zu Ende gedacht, wenn man sich den von Popper selbst initiierten Kriterienwechsel von der Falsifizierbarkeit zur Kritisierbarkeit zu eigen macht und dann darauf aufbauend das diskursive Prinzip konstruktiver Kritik als Leitidee einer reformulierten Theorie sozialen Lernens ausweist. In dieser Hinsicht kann also recht weitgehend Kontinuität zu Popper reklamiert werden.[179]

      |118|Zweitens geht es Popper in seinen Anwendungen des kritischen Rationalismus nicht nur um Kritik, sondern dezidiert um konstruktive Kritik. In seinen Arbeiten zur Wissenschaft und zur Politik bemüht er sich – zwar nicht in allen Details, wohl aber vom Grundsatz her – um die Generierung von Zweckmäßigkeitsargumenten.[180] Insbesondere seine Versuche, die jeweilige Fragestellung zu ändern, können als ein sicheres Indiz für diskursives Problembewusstsein gewertet werden: Popper versucht, Denkblockaden aufzubrechen, indem er die zugrunde liegenden Denkkategorien als verfehlt kritisiert. Popper setzt hier deutlich auf konstruktive Kritik. Er versucht, seine Gegner mit besseren Argumenten diskursiv zu überbieten. Diese diskursive Ausrichtung seiner Wissenschaftstheorie wird in folgendem Zitat besonders deutlich:

      „Nach der hier vertretenen Auffassung können also die ‚erkenntnistheoretischen Probleme‘ in zwei Gruppen eingeteilt werden: Die erste Gruppe enthält die methodologischen Fragen; die zweite Gruppe die spekulativ-philosophischen, die in den meisten Fällen als Missdeutungen der methodologischen Fragen dargestellt werden können. … Wenn diese Auffassung berechtigt ist, so erweist sich die Fruchtbarkeit der erkenntnistheoretischen Methode und einer glücklichen erkenntnistheoretischen Fragestellung darin, dass es gelingt, den Fragen der zweiten Gruppe solche der ersten Gruppe zu substituieren; anders ausgedrückt: die erkenntnistheoretischen Missdeutungen nicht einfach als Scheinfragen abzutun, sondern die ihnen zugrunde liegenden echten, konkreten methodologischen Fragen aufzuzeigen und zu beantworten.“[181]

      Aber auch Poppers Plädoyer für die offene Gesellschaft folgt einer diskursiven Ausrichtung. Um dies zu erkennen, muss man sich nur die Problemsituation vergegenwärtigen, die er zu bearbeiten versucht. Darauf anspielend, dass Hitler 1933 legal an die Macht gekommen ist, heißt es bei Popper (1945, 1992a; S. 148):

      „Was tun wir, wenn es der Wille des Volkes ist, nicht selbst zu regieren, sondern statt dessen einen Tyrannen regieren zu lassen? … Diese Möglichkeit ist nicht an den Haaren herbeigezogen; Fälle dieser Art sind oft genug eingetreten. Und immer, wenn sie sich ereigneten, kamen alle jene Demokraten in eine hoffnungslose intellektuelle Situation, die das Prinzip der Herrschaft der Mehrheit oder eine ähnliche Form des Prinzips der Souveränität als die Grundlage ihres politischen Glaubensbekenntnisses akzeptieren. Einerseits verlangt das von ihnen akzeptierte Prinzip, sich jeder Herrschaft zu widersetzen außer der Herrschaft der Majorität, also auch der Herrschaft des neuen Tyrannen; andererseits fordert dasselbe Prinzip von ihnen die Anerkennung jeder Entscheidung der Majorität und damit auch die Anerkennung der Herrschaft des neuen Tyrannen. Es ist natürlich, dass der Widerspruch in ihrer Theorie ihre Handlungen lähmen muss. Diejenigen unter uns Demokraten, die die institutionelle |119|Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten fordern und die insbesondere auf dem Recht bestehen, die Regierung aufgrund eines Majoritätsvotums zum Rücktritt zu veranlassen, müssen daher für diese ihre Forderungen eine bessere Begründung suchen als eine widerspruchsvolle Theorie der Souveränität.“

      Poppers Problemsituation ist die auf eine Denkblockade zurückgeführte Handlungsblockade zahlreicher Demokraten angesichts der Machtergreifung durch Hitler. Zur Auflösung dieser Blockaden unternimmt er nichts Geringeres, als das übliche Verständnis von Demokratie grundlegend zu verändern. Er orientiert sich an der Asymmetrie zwischen Freude und Leid und legt sein alternatives Verständnis von Demokratie darauf fest, das mit einer Tyrannei verbundene Leid zu vermeiden. Aus dieser Perspektive sind demokratische Wahlen für ihn dann ein Mittel zum Zweck. Mit dieser kategorialen Umstellung weist er einen Ausweg aus der ansonsten seines Erachtens hoffnungslosen intellektuellen Situation der Jahre 1933ff.:

      „Wer das Prinzip der Demokratie in diesem Sinne annimmt, ist also nicht gezwungen, das Resultat einer demokratischen Abstimmung als einen autoritativen Ausdruck dessen anzusehen, was Recht ist. Er wird die Entscheidung der Majorität annehmen, um den demokratischen Institutionen die Arbeit zu ermöglichen. Es steht ihm aber frei, diese Entscheidung mit demokratischen Mitteln zu bekämpfen und auf ihre Revision hinzuarbeiten.“ [182]

      (4) In bezug auf die zweite Frage können hier zunächst einige Hinweise gegeben werden, bevor die nächsten Abschnitte ausführlicher zur Diskussion stellen, dass sich die Anwendungen eines reformulierten kritischen Rationalismus recht deutlich von Poppers eigenen Anwendungen unterscheiden.

      Erstens hat Popper den von ihm selbst initiierten Kriterienwechsel von der Falsifizierbarkeit zur Kritisierbarkeit nicht konsequent vollzogen, mit der durchaus bemerkenswerten Folge, dass er praktisch sein gesamtes Werk – angefangen von der Wissenschaftstheorie über die Methodologie der Sozialwissenschaften bis hin zu seinem Plädoyer für die offene Gesellschaft – als nicht-wissenschaftlich einstuft, weil es nicht in empirischen Tests nachprüfbar ist.[183] Allenfalls der späte Popper scheint zu der Auffassung gelangt zu sein, dass sogar Interpretationen in den Bereich der Wissenschaft fallen, sofern sie kritisierbar, insbesondere konstruktiv kritisierbar, sind.[184]

      |120|Zweitens, und dies hat nicht einmal der späte Popper erkannt, hat die Reformulierung des kritischen Rationalismus gravierende Konsequenzen für mindestens eins der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie: Sobald man das Prinzip der (konstruktiven) Kritik zur Leitidee einer Theorie sozialen Lernens macht, erübrigt sich die Frage nach dem Abgrenzungskriterium.