Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


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Es entstehen alternative Lösungsvorschläge (VL1, …, n). Die Verbesserung dieser Lösungsvorschläge erfolgt durch Fehlerelimination (FE) und mündet in neue Problemstellungen auf höherem Niveau (P2).

      Abbildung 3:

      Poppers Lernschema

      Zweitens interpretiert Popper dieses Lernschema als Evolutionsschema, d.h. er verlängert seine Lerntheorie, den kritischen Rationalismus, bis in die Biologie hinein. Die beiden mittleren Elemente des Schemas repräsentieren Mutation und Selektion. Popper betont, dass auch die biologische Evolution als aktiver Lernprozess aufgefasst werden kann: „Alles Leben ist Problemlösen“[167]. Diese Auffassung kulminiert in der Aussage, dass die Amöbe und Einstein letztlich die gleiche Lernmethode verwenden, nämlich die kritisch-rationale Methode von Versuch und Irrtum, des Lernens aus Fehlern.[168]

      Drittens kann vor diesem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit die Frage neu gestellt werden, wodurch sich biologische und kulturelle Evolution unterscheiden. Poppers Antwort sieht den Unterschied im jeweiligen Selektionsobjekt: |113|Bei der Fehlerelimination im Rahmen kultureller Evolution sterben Ideen, nicht Menschen. Diese Antwort mündet unmittelbar in die begriffliche Trennung dreier unterschiedlicher Welten – Welt 1: Gegenstände und Organismen; Welt 2: subjektive Bewusstseinszustände; Welt 3: objektive Gedankeninhalte – und in zahlreiche theoretische Folgerungen dieser kategorialen Unterscheidung.[169]

      Auf zwei dieser Folgerungen sei hier hingewiesen. Erstens kann Popper mit Hilfe der Drei-Welten-Unterscheidung seine erkenntnistheoretische Fragestellung präzisieren. Die vorpopperianische Erkenntnistheorie – so seine Selbsteinschätzung – war mit der Frage beschäftigt, wie sicheres Wissen möglich sei, und suchte demzufolge nach Objektivierungsmöglichkeiten subjektiven Wissens, z.B. mit Hilfe von Induktion. Auf diese Weise wurde der gesamte Komplex der Wissenschaft (fälschlicherweise) der Welt 2 zugeordnet, als Bereich gesicherten subjektiven Wissens. In dieser jahrhunderte-alten Tradition stehend, war die zeitgenössische Wissenschaftstheorie auf Welt 2 fokussiert, sie folgte einer primär erkenntnispsychologischen Orientierung. Für Popper liegt hier ein Kategorienfehler zugrunde, denn aus seiner Sicht ist die Wissenschaft nicht der Welt 2, sondern der Welt 3 zuzuordnen. ‚Biologisch‘ betrachtet, sind Theorien, Probleme, gelungene und gescheiterte Lösungsversuche, aber auch Heuristiken als exosomatische Produkte des Lebewesen ‚Mensch‘ ebenso real und ebenso autonom wie die exosomatischen Produkte anderer Lebewesen, z.B. „Spinnweben oder Wespennester, Ameisennester, Dachsbaue, Biberdämme oder Wildwechsel im Wald“[170]. Die Erforschung der objektiven Eigenschaften dieser – mit sprachlichen Mitteln – künstlich geschaffenen Welt 3 erklärt Popper zur Aufgabe seiner Erkenntnistheorie. Es geht ihm um die Produkte, nicht um die Produzenten, und in diesem Sinne gibt er als Motto aus: „Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt“[171]. Zweitens bleibt Popper nicht bei einer bloßen Unterscheidung der drei Welten stehen, sondern untersucht ihr Zusammenspiel im Evolutionsprozess. Dies führt ihn zu weiteren anti-psychologischen Folgerungen. So vertritt er etwa die These, dass das allgemeine Problem des Verstehens – angefangen von der Wissenschaftsgeschichte über die Sozialwissenschaften bis hin zur geisteswissenschaftlichen |114|Hermeneutik – als Problem falsch gestellt wird, wenn man es in Welt 2 und nicht in Welt 3 ansiedelt, wohingegen das Verstehen gefördert werde, indem man psycho-logisches Nachempfinden durch situations-logische Analysen ersetzt, die nicht den subjektiven Bewusstseinsprozessen der zu verstehenden Handlungen nachgehen, sondern ihre objektive Problemsituation zu rekonstruieren versuchen.[172]

      Abbildung 4:

      Poppers Werk im Überblick

      (5) Abb. 4 vermittelt einen Überblick über die bisher entwickelte Lesart. Poppers Werk ist inspiriert von zwei Ereignissen, die in die Formulierung der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie münden. Für diese Grundprobleme präsentiert Popper eine einheitliche Lösung: den kritischen Rationalismus als eine Theorie sozialen Lernens. Poppers Wissenschaftstheorie ist eine Anwendung des kritisch-rationalen Ansatzes, ebenso wie seine Methodologie der Sozialwissenschaften und sein Plädoyer für die demokratische Verfassung einer offenen Gesellschaft. Selbst seine Evolutionstheorie erweist sich im Kern als eine bis in die Biologie hinein verlängerte Lerntheorie.[173]

      |115|5. Eine konstruktive Kritik des kritischen Rationalismus

      (1) Bevor auf die Schwächen in Poppers Werk eingegangen wird, sei zunächst noch einmal eine besondere Stärke betont: die Systematizität, mit der Popper sein thematisches Spektrum erschließt, indem er den kritischen Rationalismus, (s)eine Theorie sozialen Lernens, auf scheinbar disparate Bereiche anwendet.

      Popper arbeitet mit einer lerntheoretischen Analogisierung von Wissenschaft und Politik. In beiden Bereichen findet soziales Lernen statt. Beide Bereiche jedoch bleiben unter ihren Möglichkeiten, weil soziale Lernprozesse blockiert sind. Popper führt dies auf eine in beiden Bereichen verfehlte Fragestellung zurück, und er macht es sich zur Aufgabe, durch eine kategorial veränderte Fragestellung beiden Bereichen eine den sozialen Lernprozessen förderliche(re) Orientierung vorzugeben.

      Für den Bereich Wissenschaft argumentiert Popper mit einer Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation. Gestützt auf diese Asymmetrie, propagiert er einen Perspektivwechsel weg vom Fundament vermeintlich sicheren Wissens hin zum dynamischen Prozess hypothetischer, fallibler Wissensfortschritte. Metaphorisch ausgedrückt, können beim Baum der Erkenntnis die Wurzeln ruhig im Dunkeln bleiben; von entscheidender Bedeutung sind die Früchte und von daher das Wachstum des Baumes.

      Für den Bereich der Politik argumentiert Popper mit einer Asymmetrie zwischen Freude und Leid, zwischen der Verwirklichung von Glück und der Vermeidung von Unglück. Gestützt auf diese Asymmetrie, propagiert er einen Perspektivwechsel weg von abstrakter, utopischer Politik hin zu einer Bekämpfung konkreter Missstände. Ihm kommt es darauf an, dass Politik als ein Prozess aufgefasst wird, in dem kontinuierlich versucht wird, Irrtümer schrittweise zu revidieren. Hierfür ist eine Rückkopplung politischer Maßnahmen an die Bedürfnisse der Bürger erforderlich, wie sie in der von Popper befürworteten friedlichen Abwahlmöglichkeit der Regierung beschlossen liegt.

      Poppers Auffassung zufolge lautet die dem Bereich der Wissenschaft angemessene Frage nicht: ‚Wer hat sicheres Wissen?‘, sondern: ‚Wie kann unser (stets unsicheres) Wissen vermehrt werden?‘. Analog lautet, Poppers Auffassung zufolge, die dem Bereich der Politik angemessene Frage nicht: ‚Wer soll herrschen?‘, sondern: ‚Wie können wir mit den (unvermeidlichen) Fehlern politischer Herrschaft möglichst vernünftig umgehen?‘. Das Gemeinsame dieser beiden Perspektivwechsel besteht in einer anti-autoritär gewendeten Lerntheorie, in einem kritischen Rationalismus, demzufolge weder nach autoritativen Quellen wissenschaftlicher Erkenntnis noch nach autoritativen Quellen politischer Herrschaft zu fragen ist.[174] An die Stelle dieser Fragen, die für Fehlorientierungen verantwortlich gemacht werden, wird die Maxime gesetzt, aus Fehlern zu lernen. |116|Für die Wissenschaft bedeutet dies, hypothetische Deduktionen so vorzunehmen, dass die Logik als Organon der Kritik eingesetzt werden kann. Für die Politik bedeutet es, soziale Reformen als kontrollierte Experimente schrittweise vorzunehmen und ihre Erfolgskontrolle durch eine Rückkopplung per Wahlabstimmung sicherzustellen.

      (2) Poppers Arbeiten zu Wissenschaft und Politik sind Anwendungen des kritischen Rationalismus. Sofern der kritische Rationalismus als eine Theorie sozialen Lernens ein Defizit aufweist, muss sich dieses Defizit – bei systematischer Anwendung des kritisch-rationalen Ansatzes – in beiden Bereichen niederschlagen. Weisen die Arbeiten zu Wissenschaft und Politik strukturanaloge Schwächen auf, so kann man von diesen Schwächen folglich auf ein Defizit der kritisch-rationalen Hintergrundkonzeption zurückschließen. Es ist also gerade Poppers Stärke, seine Systematizität, von der eine kritische Rezeption seines Werkes Gebrauch machen kann.

      Bei der Suche nach strukturanalogen Schwächen in Poppers Werk fällt auf, dass weder seine Arbeiten zur Wissenschaft noch seine Arbeiten zur Politik ohne Appelle auskommen. Popper arbeitet mit Appellen zur Wahrheit und mit Appellen zur Freiheit. Seiner Auffassung zufolge soll sich die Wissenschaft auf die Suche nach Wahrheit begeben, und die politische Suche nach einer