Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


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weil es (noch) keine europäische Öffentlichkeit gibt, die die seit langem erfolgreich tradierte Kontrollfunktion nationaler Öffentlichkeiten übernehmen könnte. Eingeschränkte Kompetenzkataloge europäischer Politik und qualifizierte Mehrheitserfordernisse bis hin zur Einstimmigkeit gehören zu den flankierenden Maßnahmen, durch die die beiden Verfassungsvarianten zu funktionalen Äquivalenten werden, zwischen denen folglich rein unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten entschieden werden kann. Jedenfalls verfügt keine dieser beiden Varianten – abgesehen von ihrer überlegenen Zweckmäßigkeit – über eine von vornherein höhere demokratische, d.h. legitimatorische, Dignität.

      Abbildung 6:

      Orthogonale Positionierung als Veränderung der Denkrichtung um 90°

      Dies leitet über zum dritten Aspekt. Die Konsenstheorie der Demokratie löst den Widerspruch zwischen Europäisierung und Demokratisierung als vermeintlichen Widerspruch auf: Systematisch betrachtet, sind die Vor- und Nachteile von Delegation interdependent. Die institutionelle Kontrolle der Fehlanreize für Agenten ist sogar eine Voraussetzung dafür, dass sich die Bürger als Prinzipale auf die Delegation gesellschaftlicher Entscheidungsbefugnisse einlassen. Demokratische Vorkehrungen stehen, sofern sie zweckmäßig sind, im Dienst der Aneignung europäischer Kooperationserträge. Damit gelingt eine ‚orthogonale Positionierung‘ zur üblichen Frontstellung der öffentlichen Debatte, in der entweder (vermeintliche) Demokratiedefizite um realer Vorteile willen hingenommen werden oder aber die Aneignung europäischer Kooperationserträge mit normativen Vorbehalten belastet wird (Abb. 6). Erst diese orthogonale Positionierung: eine Veränderung der Denkrichtung um 90° bzw. 270°, löst den Anspruch konstruktiver Kritik ein, indem sie die beiden einander (vermeintlich) widersprechenden Positionen diskursiv überbietet und damit aufhebt.[187]

      |124|7. Das Rationalitätsprinzip in den Sozialwissenschaften

      Zum zweiten Anwendungsbeispiel: Karl Popper gehört zu den vehementesten Verfechtern des Rationalitätsprinzips in den Sozialwissenschaften. Die Annahme, dass Menschen auf situative Anreize optimal zu reagieren versuchen, ist bis heute umstritten, auch innerhalb der Wirtschaftswissenschaften. Damit stellen sich drei Fragen: Wie ist die heutige Problemsituation beschaffen? Was kann man heute noch von Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften lernen? Und wie lässt sich Poppers Verteidigung des Rationalitätsprinzips verbessern?

      (1) Zur Kennzeichnung der Problemsituation ist es zweckmäßig, zwei Begriffe von Rationalität zu unterscheiden und zueinander ins Verhältnis zu setzen, den Begriff einer Verfahrensrationalität und den einer Ergebnisrationalität. Für beide Begriffe ist die Vorstellung eines Lernprozesses konstitutiv. Der Begriff einer Verfahrensrationalität, z.B. eines Lernens aus Fehlern, stellt auf den Prozesscharakter des Lernens ab. Der Begriff einer Ergebnisrationalität, z.B. die Annahme optimalen Verhaltens, bezieht sich hingegen auf einen Zustand, in dem der Lernprozess sein Ende bereits erreicht hat. Der methodologische Streit um das Rationalitätsprinzip dreht sich darum, inwiefern die Sozialwissenschaften, insbesondere die Wirtschaftswissenschaften, von der Kategorie einer Ergebnisrationalität Gebrauch machen dürfen oder sogar müssen.

      Zusätzlich zu diesen beiden Rationalitätskategorien lassen sich zwei Rationalitätsebenen unterscheiden. Individuellen Lernprozessen korrespondiert die Ebene individueller Rationalität, und gesellschaftlichen Lernprozessen korrespondiert die Ebene gesellschaftlicher Rationalität. Mit Hilfe dieser Unterscheidungen lassen sich drei Theorievarianten innerhalb der Wirtschaftswissenschaften identifizieren (Abb. 7).

      Die erste Variante, der i.e.S. ‚ökonomische Ansatz‘, verwendet auf den beiden Analyse-Ebenen jeweils unterschiedliche Rationalitätskategorien. Auf der individuellen Ebene arbeitet er mit dem Konzept einer Ergebnisrationalität. Auf der gesellschaftlichen Ebene hingegen arbeitet er mit dem Konzept einer Verfahrensrationalität. Einerseits wird angenommen, dass sich Individuen optimal |125|verhalten und dass dieses Verhalten als Nutzenmaximierung modelliert werden kann. Andererseits wird angenommen, dass das soziale Zusammenspiel optimierender Akteure nicht ebenfalls als Maximierung, sondern vielmehr als institutionelle Koordinierung modelliert werden muss und dass sich gesellschaftliches Lernen vornehmlich im Modus institutioneller Reformen vollzieht. Der zweiten Variante entspricht die Wohlfahrtstheorie. Sie verwendet auf beiden Analyse-Ebenen die Kategorie der Ergebnisrationalität und arbeitet folglich mit Modellen individueller Nutzenmaximierung und – nomen est omen – gesellschaftlicher Wohlfahrtsmaximierung. Die dritte Variante schließlich bemüht sich um eine sog. verhaltenswissenschaftliche Fundierung der Wirtschaftswissenschaften. Die Verhaltenstheorie verwendet auf beiden Analyse-Ebenen die Kategorie einer Verfahrensrationalität. Die heutige Problemsituation ist dadurch gekennzeichnet, dass diese drei Varianten in Konkurrenz zueinander stehen.

      Abbildung 7:

      Die heutige Problemsituation in den Wirtschaftswissenschaften

      (2) Zieht man vor dem Hintergrund dieser Konkurrenz Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften zu Rate, so folgt eine eindeutige Stellungnahme zugunsten der ersten Variante, die der von Popper befürworteten Methode einer Situationslogik entspricht, während gegenüber der zweiten und dritten Variante gravierende Vorbehalte geltend gemacht werden können. Gegen die zweite Variante spricht Poppers Utopie-Kritik, gegen die dritte sein methodologischer Anti-Psychologismus.

      Die Wohlfahrtstheorie arbeitet mit dem Idealbild eines gesellschaftlichen Pareto-Optimums, eines Zustandes, in dem nicht weiter gelernt werden kann, weil bereits alle Optionen bestmöglich ausgeschöpft sind. Politische Maßnahmen werden dann von diesem Referenzmodell her entworfen. Das Denken nimmt seinen Ausgangspunkt in einer Utopie, nicht jedoch im Status quo. Es entsteht eine utopische Lücke, die nur schwer zu überbrücken ist, was sich in entsprechenden Implementationsschwierigkeiten niederschlägt. Insofern ist es kein Zufall, dass sich, wie allgemein bekannt, wohlfahrtstheoretische Vorschläge in der politischen Praxis nur äußerst schwer umsetzen lassen. – Popper würde hier mit der |126|Asymmetrie zwischen Freude und Leid argumentieren. Er würde folgern, dass es generell zweckmäßiger sei, sich an konkreten Missständen anstatt an einer abstrakten Utopie zu orientieren. Dies würde bedeuten, schrittweise Verbesserungen anzustreben. Wollte man Poppers Utopie-Kritik Rechnung tragen, so müsste man – in der Sprache der Wohlfahrtstheorie ausgedrückt – das Ergebniskriterium gesellschaftlicher Pareto-Optimalität ersetzen durch das Verfahrenskriterium gesellschaftlicher Pareto-Superiorität. Dies aber käme einem Wechsel von Variante 2 zu Variante 1 gleich, wie insbesondere die Arbeiten James Buchanans zeigen, dessen Forschungsprogramm einer ‚konstitutionellen Ökonomik‘ genau diesen Wechsel propagiert.[188]

      Die Verhaltenstheorie versucht, die Sozialwissenschaften und insbesondere die Wirtschaftswissenschaften von der Psychologie her zu entwickeln. Die Erforschung individueller Lernprozesse soll die Grundlage für die Erforschung gesellschaftlicher Lernprozesse bilden. Das Forschungsprogramm wird im Schema ‚Teil-Ganzes‘ gedacht: Die Gesellschaft ist das Ganze, die Individuen sind die Teile, die sozialen Elemente. Das Ganze gilt hier als die Summe seiner Teile. Folglich, so das Argument, muss man zunächst einmal über die Individuen (möglichst genau) Bescheid wissen, bevor man die Gesellschaft verstehen kann, also z.B. in Laborexperimenten erforschen, wie Menschen wirklich denken und welche Fehler sie hierbei machen. – Popper würde hierauf antworten, dass sich das plausibel anhört, dass aber die Plausibilität ein schlechter Ratgeber in solchen Fragen ist. Um für gedankliche Klarheit zu sorgen, würde Popper auf die Metapher des Scheinwerfers zurückgreifen: Theorien sind Scheinwerfer. Sie bringen Licht ins Dunkel, erhellen Sachverhalte. Das, was uns interessiert, können wir mit Theorien beleuchten. Wenn wir etwas über die Gesellschaft erfahren wollen, dann müssen wir den Scheinwerfer auf die Gesellschaft richten. Wenn wir ihn hingegen auf uns selbst richten, d.h. auf die Individuen, dann werden wir geblendet und können gar nicht erkennen, was uns eigentlich interessiert.

      Popper würde versuchen, mit Hilfe dieser Metapher folgendes Zurechnungsproblem zu erläutern: Wenn wir etwas über die Anreizwirkung gesellschaftlicher Institutionen in Erfahrung bringen wollen, dann müssen wir mit einer Theorie arbeiten. Eine solche Theorie hat mindestens zwei Bestandteile. Erstens arbeitet