Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


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die Verbindung zu den beiden Ereignissen des Jahres 1919 anbelangt, so ist augenfällig, dass das erste, politische Ereignis der Formulierung des Abgrenzungsproblems und das zweite, wissenschaftliche Ereignis der Formulierung des Induktionsproblems den Weg weist. Poppers Reaktion auf den tragischen Tod politisierter Jugendlicher im Wien des Jahres 1919 bestand in einer jähen Wende vom Marxismus zum Anti-Marxismus, denn er machte den Marxismus politischer Führer dafür verantwortlich, dass hier Menschenleben einer Ideologie geopfert worden waren, die den historischen Sieg sicher auf ihrer Seite wusste. Fortan wollte Popper – aus Gewissensgründen – dem marxistischen Anspruch entgegentreten können, eine marxistische Sozialwissenschaft könne in ähnlicher Weise ein Geschichtsgesetz aufstellen wie die Naturwissenschaft ein Naturgesetz. Wie lässt sich der ‚wissenschaftliche Sozialismus‘ als Pseudo-Wissenschaft überführen? Es ist exakt diese Frage, durch die Popper zur Formulierung des Abgrenzungsproblems geführt wurde.[152]

      Die Formulierung des Induktionsproblems hingegen erfolgte erst einige Jahre später, aber sie erfolgte unter dem Eindruck der Theorie-Erfolge Albert Einsteins.[153] Zum einen hatten die in zahllosen Experimenten erfolgten Bestätigungen der Physik Newtons nicht verhindern können, dass Newton durch Einstein überholt wurde. Die induktive Basis erwies sich – völlig wider Erwarten – als schwankende Grundlage. Zum anderen hatte Einstein seine Theorie nicht durch Induktion gewonnen, sondern mit Hilfe kühner Vermutungen: kühner Annahmen und kühner (deduktiver) Folgerungen, um deren empirische Testbarkeit er dezidiert bemüht war. Einstein nahm die Möglichkeit eines empirischen Scheiterns seiner Theorie nicht nur passiv in Kauf. Vielmehr setzte er seine Theorie sogar aktiv dem Risiko des Misserfolgs aus. Hierin wurde er Popper zum Vorbild einer kritischen Einstellung gegenüber Theorien – und insbesondere zum Vorbild |107|einer selbstkritischen Einstellung gegenüber eigenen Theorien. Mehr noch: Poppers Zurückweisung der induktiven Methode und seine Propagierung der auf Falsifizierbarkeit ausgerichteten deduktiven Methode (ent-)standen direkt unter dem Einfluss von – Poppers Interpretation von – Albert Einsteins Theoriestrategie und ihren Erfolgen.[154] Sie sind somit eine intellektuelle Verarbeitung des zweiten, wissenschaftlichen Ereignisses des Jahres 1919.

      4. Das Hintergrundkonzept: kritischer Rationalismus als Theorie sozialen Lernens

      Die Problemselbigkeit der beiden Grundprobleme und die letztliche Identität ihrer Lösungen münden in einen kritischen Rationalismus, der als Hintergrundkonzept allen weiteren Schriften Poppers eine eigentümliche Prägung verleiht. Als These formuliert: Der kritische Rationalismus Karl Poppers ist im Kern eine Lerntheorie, und zwar eine Theorie sozialen Lernens. Die Einlösung dieser These erfolgt in zwei Schritten. Zunächst geht es um eine philosophische Kennzeichnung des kritischen Rationalismus. Sodann wird gezeigt, inwiefern der chronologischen Reihenfolge vier zentraler Veröffentlichungen Poppers eine systematische Reihenfolge entspricht, weil sich alle vier Veröffentlichungen als Anwendungen des kritisch-rationalen Ansatzes interpretieren lassen.

      Ausgangspunkt der philosophischen Kennzeichnung des kritischen Rationalismus ist folgendes Zitat: „Bezeichnet man (nach Kant) das Induktionsproblem als ‚Humesches Problem‘, so könnte man das Abgrenzungsproblem ‚Kantsches Problem‘ nennen.“[155] Popper selbst sieht sich als Nachfolger Immanuel Kants. Er hat sich – so seine Selbstinterpretation – die erkenntnistheoretische Frage Kants zu eigen gemacht und aufgrund einer signifikant anderen Problemsituation eine neue Antwort gefunden. Diese Antwort ist der kritische Rationalismus. Durch ihn wird, so Poppers Anspruch, Kants Kritik der reinen Vernunft überholt.

      Popper zufolge war Kants Problemsituation durch David Hume und Isaac Newton gekennzeichnet. Auf der einen Seite hatte Hume das Induktionsprinzip scharf kritisiert, und Kant sah sich genötigt, diese Kritik als berechtigt anzuerkennen. Auf der anderen Seite aber hatte Newton eine Physik vorgelegt, deren weltbewegende Theorie-Erfolge anzuerkennen Kant sich ebenfalls genötigt sah. Wie aber war beides zu vereinbaren? Kants geniale Antwort auf diese Frage bestand darin, zwischen empirischen Aussagen einerseits und den Kategorien empirischer Aussagen andererseits, etwa den ‚Anschauungsformen‘ von Zeit und Raum oder der Kausalitätskategorie, zu unterscheiden und auf Humes Induktionskritik |108|mit einer deduktiven Wendung zu reagieren, einer – für Kant: kopernikanischen – Wendung hin zu einer apriorischen Deduktion, die in dem berühmten Satz kulminiert: „Der Verstand schöpft seine Gesetze … nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“[156] Kant hielt diese Gesetze – unter dem Eindruck der Newtonschen Theorie-Erfolge – für unumstößlich wahr, für infallibel.

      Vor diesem Hintergrund ist Poppers eigene Problemsituation durch Immanuel Kant und Albert Einstein gekennzeichnet. Auf der einen Seite hatte Kant – unter dem Einfluss Newtons – die unbezweifelbare Gültigkeit kategorialer Gesetzesaussagen behauptet. Auf der anderen Seite hatte Einstein die Physik Newtons überholt und gerade dadurch jeglichem Vertrauen in die Möglichkeit letztgültiger Erkenntnis die Basis entzogen. Poppers Reaktion auf diese radikal veränderte Problemsituation besteht darin, Kants Hypothetizismus in bezug auf empirische Aussagen – seine transzendentale Kritik synthetischer Urteile a priori – zu radikalisieren und nun auch jene Kategorien als prinzipiell fallibel aufzufassen, die der Generierung empirischer Aussagen vorangehen. Für Popper haben durchgängig alle theoretischen Aussagen einen hypothetischen Status. Damit vollzieht er eine fallibilistische Wendung, eine – für Popper: sokratische – Wendung, die die Vorstellung sicheren Wissens durch die Vorstellung eines stets unsicheren Vemutungswissens ersetzt.

      Im Bereich des Vermutungswissens – und für Popper ist alles Wissen Vermutungswissen – gibt es keine sichere Basis, keine verlässliche Grundlage; wohl aber gibt es Erkenntnisfortschritt. Lernprozesse sind möglich. Enttäuschte Erwartungen können korrigiert werden. Eine erste Kernbotschaft des kritischen Rationalismus lautet: Wir lernen aus Fehlern. Versuch und Irrtum sind die zentralen Bestandteile methodischen Erkenntnisfortschritts. Eine zweite Kernbotschaft des kritischen Rationalismus lautet: Wir lernen im Modus der Kritik. Es ist dem Erkenntnisfortschritt förderlich, von anderen auf Fehler hingewiesen zu werden, die man selbst nicht gesehen hat. Folglich können Lernprozesse durch kritische Diskussionen wesentlich befördert werden. Diese zweite Botschaft verwandelt die kritisch-rationale Lerntheorie in eine Theorie sozialen Lernens. Als These formuliert: Poppers kritischem Rationalismus zufolge entfaltet sich Rationalität durch Kritik, durch einen sozialen, inter-personellen Lernprozess kritischer Diskussion.

      Im Folgenden wird zu zeigen versucht, dass sich Poppers Schriften zur Wissenschaftstheorie im allgemeinen, zur Methodologie der Sozialwissenschaften im besonderen, seine politischen Stellungnahmen gegen totalitäre Gefährdungen der Demokratie und darüber hinaus auch sein Entwurf objektiver Erkenntnis als Anwendungen des kritischen Rationalismus interpretieren lassen, d.h. als Anwendungen einer Theorie sozialen Lernens.

      (1) Die Anwendung des kritischen Rationalismus auf das Problem wissenschaftlicher Erkenntnis führt zu einer radikalen Änderung der erkenntnistheoretischen Fragestellung. Es geht nicht länger um das Subjekt, sondern um das Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis, nicht um Erkenntnisfindung, sondern um Erkenntnisgeltung, d.h. um die (vorläufige) Gültigkeit wissenschaftlicher |109|Erkenntnisse, also um das Resultat wissenschaftlicher Diskussionen, in denen versucht wird, theoretische Vermutungen zu widerlegen. Poppers kritisch-rationale Wissenschaftstheorie setzt an die Stelle einer zu seiner Zeit weit verbreiteten Erkenntnispsychologie eine „Logik der Forschung“, eine „Lehre von der deduktiven Methodik der Nachprüfung“[157]. In der Tat ist Poppers Wissenschaftstheorie eine Lehre von der deduktiven, d.h. logisch gestützten, Methode inter-subjektiver Nachprüfung und gerade darin eine Anwendung der kritisch-rationalen Theorie sozialen Lernens.

      (2) Poppers ‚Logik der Forschung‘ zufolge sind wissenschaftliche Diskussionen eine extreme Spezialform kritischer Diskussionen, ein institutionen- und traditionengestützter Sonderfall, der es dem gesunden Menschenverstand ermöglicht, eine extreme Leistungsfähigkeit zu erreichen. Demnach ist Wissenschaft nicht nur durch das Genie einzelner Forscher und ihre kühnen Vermutungen, sondern auch durch die Widerlegungsversuche der Forschergemeinschaft gekennzeichnet. Eine solche Arbeitsteilung ist auf geeignete Anreize angewiesen. Folglich kann die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Fehlanreize behindert werden. Störungen dieses Produktionsprozesses treten vor allem dann ein, wenn sich die Spezialisierung und Zusammenarbeit der Wissenschaftler