sehr unvollständigen Liste einen prominenten Platz einnimmt, denn sein Werk ist wie kaum ein zweites geeignet, das Forschungsprogramm einer allgemeinen, Wissenschaft und Politik umfassenden, Methodologie zu inspirieren.[207]
|134|9. Zusammenfassung
In diesem Aufsatz wurde versucht, Karl Popper als einen modernen Klassiker der Gesellschaftstheorie zu interpretieren. Einen Klassiker lesen – genauer: einen Autor als Klassiker lesen – heißt, eine Konzeption zu rekonstruieren, deren weitgehende Konsistenz durch die Person des Autors verbürgt wird, und darauf aufbauend eine Lesart zu entwickeln, die auf die Frage antwortet: Welche Problemstellung liegt seinem Werk zugrunde; wie hat er das Problem zu lösen versucht; wie hängen Problemstellung und Problembearbeitung zusammen; und wo liegt möglicherweise ein Problem dieses Zusammenhangs?
Poppers Konzeption wurde als kritischer Rationalismus rekonstruiert, als eine Theorie sozialen Lernens, eines Lernens, dessen Rationalität sich durch Kritik entfaltet. Das Problem dieser Konzeption liegt darin, dass Popper dem Aspekt konstruktiver Kritik zwar oft pragmatisch Rechnung trägt, ihm aber keinen systematischen Stellenwert einräumt. In genau diesem Punkt ist Poppers Werk aktualisierungswürdig und – das macht seine Größe aus – aktualisierungsfähig. Das Konzept des kritischen Rationalismus lässt sich reformulieren zu einer Theorie argumentationsgestützten sozialen Lernens. Dies hat weitreichende Konsequenzen im gesamten Anwendungsspektrum der Konzeption, das von der Wissenschaftstheorie über die Methodologie der Sozialwissenschaften bis hin zu politischen Stellungnahmen reicht. Für jede dieser drei Ebenen wurde ein Anwendungsbeispiel diskutiert. Um zu illustrieren, inwiefern ein reformulierter kritischer Rationalismus in der Lage ist, kategoriale Aufklärungsleistungen für die politischen Diskurse der demokratischen Öffentlichkeit zu erbringen, wurde an die Stelle von Poppers Begriff einer Abwahldemokratie der Begriff einer Konsensdemokratie gesetzt, mit dem sich eine verquere Frontstellung der Debatten über eine europäische Verfassung überwinden lässt. Poppers methodologische Rechtfertigung für die Verwendung des Rationalitätsprinzips in den Sozialwissenschaften wurde neu gefasst, und es wurde zumindest angedeutet, dass Methodologie nicht unbedingt in eine wissenschaftstheoretische Erkenntnisphilosophie münden muss, sondern dass man statt dessen auch über die einzelwissenschaftliche Institutionalisierung einer ‚constitutional science‘ nachdenken kann. Bei Popper selbst finden sich hierfür zahlreiche Ansatzpunkte. Diese machen sein Werk zu einem Vorbild für eine allgemeine Methodologie: für eine diskursive Argumentationsgrammatik, mit der sich ein breites Spektrum scheinbar disparater Themen aus einer einheitlichen Theorieperspektive systematisch bearbeiten lässt.
So gesehen, ist ein re-aktualisierter Popper noch lange nicht passé. Man kann auch heute noch viel von ihm lernen. Deshalb – und nur deshalb – sollte man die |135|Rezeption seines Werkes nicht unbedingt (allein) den ‚Fachphilosophen‘ überlassen. Was zu beweisen war.
10. Nachtrag 2016
Für die hier vertretene Lesart, dass – und wie – für Karl Popper Erkenntnistheorie und politische Philosophie eng zusammengehören, gibt es mittlerweile zusätzliches Belegmaterial.
Hinzuweisen ist insbesondere auf den von Jeremy Shearmur and Piers Norris Turner herausgegebenen Band mit zuvor unveröffentlichten Briefen, Reden und Aufsätzen von Karl Popper.[208] Abgedeckt wird der Zeitraum von 1940 bis 1994. Anhand des Materials lässt sich nicht nur nachvollziehen, wie Popper sich schon früh von einem Sozialisten zu einem Liberalen entwickelt hat, sondern auch, welche sozialtheoretischen, gesellschaftspolitischen und sogar moralphilosophischen Anschauungen sich mit diesem Perspektivwechsel verbinden.
Ebenfalls hinzuweisen ist auf die Herausgabe seiner gesammelten Schriften in deutscher Sprache[209] sowie auf einen 2016 erscheinenden Kommentarband[210], der der internationalen Popper-Forschung sicherlich neue Impulse geben wird.
Literatur
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|136|Pies, Ingo (1996): Vertrag oder Verfassung? – Institutionenökonomische Perspektiven für die Europäische Union, in: Manfred E. Streit und Stefan Voigt (Hrsg.), Europa reformieren – Ökonomen und Juristen zur zukünftigen Verfasstheit Europas, Baden-Baden 1996, S. 32–47.
Pies, Ingo (1998): Liberalismus und Normativität. Zur Konzeptualisierung ökonomischer Orientierungsleistungen für demokratische Politikdiskurse, in: Paul Klemmer, Dorothee Becker-Soest und Rüdiger Wink (Hrsg.), Liberale Grundrisse einer zukunftsfähigen Gesellschaft, Baden-Baden, S. 45–78.
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