Kategorien löst die Anomalie auf. Das Zurechnungsproblem wird durch Umrechnung gelöst.
(7) Die vollständige Verarbeitung der Anomalie erfolgt jedoch erst durch einen vierten und letzten Schritt, der auf die bereits entwickelte Humankapitaltheorie zurückgreift.[109] Wiederum wird der Nutzen, den Kinder stiften, als Zielgut aufgefasst. Zusätzlich wird nun jedoch berücksichtigt, dass dieser Kindernutzen (Z1) nicht nur von der Zahl der Kinder (N) abhängt, sondern auch von dem Humankapital (H), mit dem Kinder ausgestattet werden. Unter vereinfachenden Annahmen lässt sich entsprechende Produktionsfunktion schreiben als
Im Modell sind nun drei Schattenpreise zu unterscheiden: zum einen der Schattenpreis des Zielgutes, zum anderen die Schattenpreise für die beiden Bestandteile |83|des Zielgutes. Der Schattenpreis für das Zielgut „Kindernutzen“ betrage S1. Hieraus errechnet sich der Schattenpreis SN für die Quantität von Kindern als
Die Kosten eines zusätzlichen Kindes, gemessen durch SN, sind proportional zur Humankapitalausstattung pro Kind. Analog errechnet sich der Schattenpreis SH für die Qualität von Kindern als
SH misst die Kosten, die entstehen, wenn die durchschnittliche Humankapitalausstattung pro Kind erhöht wird. Diese Kosten sind proportional zur Anzahl der Kinder.
In diesem Modell kommt es zu einer interessanten Wechselwirkung zwischen den beiden Bestandteilen des Zielgutes „Kindernutzen“, denn der Schattenpreis für Quantität hängt ab von der Qualität, und umgekehrt hängt der Schattenpreis für Qualität von der Quantität ab. Hinter dieser multiplikativen Verknüpfung steckt folgender Sachverhalt: Die Kosten, die durch ein zusätzliches Kind entstehen, werden davon beeinflusst, wie hoch der durchschnittliche Ressourceneinsatz pro Kind ist. Wer viel in seine Kinder investiert, hat teurere Kinder als jemand, der wenig investiert. Umgekehrt werden die Kosten, die mit einer höheren Humankapitalauststattung pro Kind verbunden sind, davon beeinflusst, wie groß die Anzahl der Kinder ist. Wer viele Kinder hat, muss für einen gegebenen Qualitätsstandard vergleichsweise mehr Ressourcen einsetzen als jemand, der wenig Kinder hat. Dies betrifft übrigens materielle und immaterielle Ressourcen gleichermaßen. Wer jedem seiner Kinder eine bessere Erziehung oder – via (Aus-)Bildung – ein höheres Einkommenspotential zukommen lassen möchte oder wer jedes Kind mit einem eigenen Zimmer (einem eigenen Fahrrad, Fernseher, Computer usw.) ausstatten möchte, hat bei drei Kindern höhere Kosten auf sich zu nehmen als bei zwei Kindern.
Betrachtet man das Verhältnis der Schattenpreise für Quantität und Qualität
so zeigt sich eine zweite Variante zur Verarbeitung der Anomalie des negativen Einkommenseffekts. Während die erste Variante, im Rahmen der Zeitallokationstheorie, darauf abstellt, dass sich mit steigendem Einkommen auch die Schattenpreise der Zielgüter verändert haben, kann die zweite Variante die Anomalie sogar unter der Annahme auflösen, dass die Schattenpreise der Zielgüter konstant bleiben. Selbst wenn der Kindernutzen Z1 an sich nicht teurer wird, kann ein positiver Einkommenseffekt eine rationale Anpassung zu Lasten der Familiengröße auslösen, wenn die Einkommenselastizität der Qualität größer ist als die Einkommenselastizität der Quantität. Steigt H mit steigendem Einkommen stärker an als N, so nimmt nach Gleichung (14) auch das Verhältnis der Schattenpreise einen höheren Wert an. Quantität wird relativ teurer, so dass eine Substitution von Quantität durch Qualität ausgelöst wird. Rationalverhalten unterstellt, passt |84|sich der repräsentative Haushalt – und folglich das Aggregat aller Haushalte – dahingehend an, dass die Anzahl der Kinder reduziert und zugleich die Investition pro Kind erhöht wird.
Auch hier erfolgt die Auflösung der Anomalie durch eine kategoriale Umstellung. Während bei der ersten Variante die Zeit als eine zusätzliche Restriktion berücksichtigt wird, erhöht die zweite Variante das ökonomische Erklärungspotential dadurch, dass in einer differenzierteren Weise berücksichtigt wird, dass Kinder nicht nur durch ihre bloße Existenz, sondern auch durch ihre (erwarteten) Eigenschaften Nutzen stiften. Für beide Varianten ist daher das Konzept der Haushaltsproduktionsfunktion gleichermaßen konstitutiv. Zusammen mit dem Konzept der Als-Ob-Rationalität bildet es den analytischen Rahmen, in dem Beckers ursprüngliche Intuitionen zur Absorption der Anomalie des negativen Einkommenseffekts systematisch ausgearbeitet worden sind.
2. Ökonomischer Ansatz und ökonomischer Imperialismus
Die bisherige Rekonstruktion hat zu zeigen versucht, wie sich Gary Beckers Forschungsarbeiten von 1960 bis 1973 entwickelt haben: wie sie von einem familienökonomischen Erklärungsnotstand ausgehen und dann schrittweise im Kategoriensystem der traditionellen Preistheorie Umstellungen vornehmen. Der Gedanke, dass es sich bei der solchermaßen modifizierten Preistheorie um einen allgemeinen Ansatz zur ökonomischen Analyse menschlichen Verhaltens handeln könnte, hat sich bei Gary Becker – eigenem Bekunden zufolge[110] – erst Mitte der 1970er Jahre eingestellt.[111] Nur in bezug auf dieses Forschungsprogramm wird verständlich, dass Gary Beckers ökonomischer Ansatz nicht einfach den Anwendungs-„Bereich“ einer traditionell verstandenen „Wirtschafts“-Wissenschaft ausdehnt, sondern eine Radikalisierung der Preistheorie vornimmt, die das traditionelle Verständnis von Wirtschaftswissenschaft geradezu revolutioniert. Innerhalb dieses Forschungsprogramms spielt der ökonomische Imperialismus eine wichtige Rolle. Als These formuliert: Der ökonomische Imperialismus ist kein Akzidens des ökonomischen Ansatzes, sondern ein Ingrediens; er ist keine inhaltliche Zugabe, sondern ein substantieller Bestandteil der Forschungsmethode. Nicht seine Außenwirkung, sondern seine Binnenwirkung ist von primärer Wichtigkeit.
(1) Das Forschungsprogramm Gary Beckers kann man zu dem Satz verdichten, dass sich menschliches Verhalten an Kosten orientiert. Diese Kosten werden in den Kategorien von Preis- und Einkommenseffekten ausgelegt, die sowohl monetären als auch nicht-monetären Restriktionen Rechnung tragen. Die positive Heuristik des ökonomischen Ansatzes schreibt vor, individuelle Verhaltensänderungen auf Restriktionenänderungen – und nur auf solche Restriktionenänderungen – zuzurechnen. Dieser Programmatik entspricht eine negative Heuristik, die angibt, worauf nicht zugerechnet werden soll, wenn sich der ökonomische Ansatz mit hartnäckigen Erklärungsproblemen konfrontiert sieht.
|85|Das theoriestrategische Problem, das durch diese Methodologie gelöst werden soll, lässt sich mit Hilfe von Abbildung 5 veranschaulichen. Eingerahmt ist das ökonomische Verhaltensmodell. In ihm werden individuelle Verhaltensänderungen ∆V rekonstruiert als eine rationale Anpassung an Restriktionenänderungen ∆R bei konstanten Präferenzen (Pconst.). Eingezeichnet sind vier theoriestrategische Optionen, wie mit diesem Modell im Fall eines Erklärungsnotstands umgegangen werden kann.
Die erste mögliche Reaktion besteht darin, die ökonomische Modell-Logik zu durchbrechen, indem die Annahme rationalen Verhaltens in Frage gestellt wird. Die zweite mögliche Reaktion besteht darin, die ökonomische Modell-Logik aufzuweichen, indem die Annahme konstanter Präferenzen in Frage gestellt wird. Die dritte mögliche Reaktion besteht darin, die ökonomische Modell-Logik zu immunisieren, indem die Annahme, das ökonomische Modell sei zur Erklärung menschlichen Verhaltens universell anwendbar, in Frage gestellt wird. Die vierte mögliche Reaktion schließlich besteht darin, die ökonomische Modell-Logik intakt zu lassen und – der positiven Heuristik folgend – solche Restriktionenänderungen ausfindig zu machen, die es erlauben, die (scheinbare) Verhaltensanomalie als rationale Anpassungsreaktion an einen veränderten Möglichkeitenraum zu rekonstruieren.[112]
Beckers Theoriestrategie
Der ökonomische Ansatz Gary Beckers beruht nicht auf