Ingo Pies

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie


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gemeinsamen Interessen zu suchen, fokussiert das Konsensprinzip die positive Forschungsperspektive auf eine Untersuchung der gesellschaftlichen Funktionalität institutioneller Arrangements. Damit wird es zur Aufgabe der Ökonomik, mit ihren Erklärungsleistungen den sozialen Sinn der diversen Kooperations- und Konkurrenzspiele zu dechiffrieren und insbesondere das Verständnis der institutionellen Voraussetzungen zu fördern, von denen die Spielergebnisse abhängen.

      Zweitens: Das Aufzeigen gemeinsamer Interessen im politischen Prozess ermöglicht es, in die politische Diskussion Zweckmäßigkeitsargumente einzuführen, d.h. Erklärung in Aufklärung umzusetzen. Mithin versorgt das Konsensprinzip die normative Analyse mit diskursiver Kompetenz: Konsens fungiert als konzeptioneller Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion politischer Konfliktlagen, und (erst) von diesem Punkt aus lassen sich Zieldiskussionen auf Mitteldiskussionen umstellen. Damit wird die politische Ökonomik zur Argumentationsgrammatik politischer Diskurse, und hierin liegt der eigentliche Beitrag ökonomischer Politikberatung in der Demokratie: Es geht darum, die i.d.R. mit Bekenntnissen zu umstrittenen Werturteilen belasteten und daher gelegentlich hoch emotionalisierten politischen Diskussionsprozesse in der demokratischen Öffentlichkeit auf die relevanten Alternativen zu fokussieren und gerade dadurch zu versachlichen.[49] Indem sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf |37|die Zweckmäßigkeit institutioneller Arrangements lenkt, kann – und ‚soll‘ – die Ökonomik als Wissenschaft die Bürger darin unterstützen, ihre eigenen Interessen zu verwirklichen, d.h. als Gesellschaft nicht unter ihren Möglichkeiten zu bleiben.[50]

      Die heuristische Funktion des Konsenskriteriums besteht also darin, die positive Forschung so auszurichten, dass jene intellektuellen Orientierungsleistungen möglich werden, mit denen die normative Analyse dazu beiträgt, demokratische Politikprozesse – verstanden nicht als Suche nach Wahrheit, sondern als Suche nach rationalen Kompromissen – konstruktiv voranzubringen. Hierzu ist es erforderlich, status-quo-orientiert an den vorfindlichen Interessen der Bürger anzusetzen: Ausgehend vom Status quo, an dem sich politische Interessenkonflikte entzünden, fungiert der – (gesellschafts-)vertragstheoretisch gedachte – Konsens als Referenzkonzept zur Strukturierung der Situation und dient damit der Identifizierung der politisch relevanten Alternativen. Ziel und methodisches Vorgehen konstitutioneller Ökonomik lassen sich mit Buchanan (1987a; S. 249) wie folgt angeben:

      „The purpose of the contractarian exercise is … justificatory in that it offers a basis for normative evaluation. Could the observed rules that constrain the activities of ordinary politics have emerged from agreement in constitutional contract? To the extent that this question can be affirmatively answered, we have established a legitimating linkage between the individual and the state. To the extent that the question prompts a negative response, we have a basis for normative criticism of the existing order, and a criterion for advancing proposals for constitutional reform.“

      Der Beitrag konstitutioneller Ökonomik zur wissenschaftlichen Politikberatung in der Demokratie besteht nicht darin, dass sie mit ihrem Konsenskriterium den Begriff der Demokratie quasi permanent im Munde führt, sondern darin, dass sie mit Hilfe der Konsensorientierung die positive Analyse heuristisch so ausrichtet, dass sie in normativer Hinsicht von deren umfänglichen Erklärungsleistungen Gebrauch machen kann. Es ist diese Leistungsfähigkeit, die – so Buchanan – gesteigert werden kann, wenn man den Einstieg in eine wissenschaftlich seriöse Normativität nicht über ein externes Ergebniskriterium idealer Effizienz, sondern über ein internes Prozesskriterium nicht-idealer Zustimmung wählt. Der Vollsinn des Konsenskriteriums erschließt sich erst dann, wenn man es als ein theoretisches Instrument interpretiert, dessen methodisch kontrollierter Einsatz darauf abzielt, die Realisationschancen ökonomischer Politikvorschläge forschungsimmanent zu erhöhen.

      |38|3. Resümee

      Worin liegt der Beitrag, den das Werk James Buchanans zu den theoretischen Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik leistet? Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie man das Werk liest. Die hier vorgeschlagene Lesart, die dezidiert methodische Fragen des Theoriedesigns betont und Buchanans Bemühungen um Konzeptualisierungen, um kategoriale Umstellungen, um diskursive Strukturierungen, um konstruktive Argumentationsaufrisse hervorhebt, gelangt dabei zu folgender Antwort: Die nachhaltige Bedeutung des Werks James Buchanans liegt darin begründet, dass es einen Weg theoretisch aufzeigt und praktisch beschreitet, auf dem die Ökonomik für normative Fragestellungen so geöffnet werden kann, dass sich Normativität als hypothetische Normativität im eigentlichen Sinne des Wortes ‚wertfrei‘ prozessieren lässt. Die Erklärungskraft des ökonomischen Ansatzes kann damit umgesetzt werden in intellektuelle Orientierungsleistungen, die die Wahrnehmung politischer Konfliktlagen verändern.[51]

      Beispielsweise liegt die eigentliche Pointe der Unterscheidung zwischen Rechtsschutzstaat und Leistungsstaat darin, dass diese Unterscheidung hinfällig wird, weil sich beide Arten staatlicher Tätigkeit im Kern auf dasselbe Argument stützen: In beiden Fällen handelt es sich um Einrichtungen kollektiver Tauschakte, die so ausgestaltet werden können, dass sie allen Bürgern nützlich sind. Mit dieser Idee ist libertären Minimalstaatsvorstellungen von vornherein jede konzeptionelle Grundlage entzogen. Sie hängen – bildlich gesprochen – in der Luft. Für nicht unbeträchtliche Teile einer ihrem Selbstverständnis nach liberalen Ökonomik bedeutet das, sich von der normativen Vorgabe verabschieden zu müssen, einseitig nach Wegen zur Eindämmung staatlicher Tätigkeiten zu suchen, wenn sie – um im Bilde zu bleiben – (wieder) Bodenhaftung gewinnen will. Hier steht nichts Geringeres auf dem Spiel als ihre Politikfähigkeit, d.h. ihre Fähigkeit, Reformvorschläge zu entwickeln, die den Anschluss an die realen Probleme realer Bürger und damit letztlich auch Gehör in der demokratischen Öffentlichkeit finden. Im Anschluss an Buchanan kann es nicht länger um ‚containment‘ und ‚roll-back‘ gehen, nicht darum, Dämme zu errichten. Stattdessen geht es um eine den Bürgerinteressen entsprechende institutionelle Kanalisierung eigeninteressierten Handelns in allen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere in Wirtschaft und Politik. Die Frage nach mehr oder weniger Staat ist falsch gestellt. Sie verfehlt die relevanten Alternativen. Ins Zentrum der Betrachtung gehört nicht die Quantität, sondern die Qualität kollektiven Handelns.[52]

      Mit solchen Konzeptualisierungen lässt sich die Ökonomik aus defensiven und zudem unfruchtbaren Frontstellungen befreien und schließlich in die Lage |39|versetzen, als wissenschaftliche Konzeption den Anforderungen des politischen Liberalismus zu genügen, d.h. keine eigenen ‚externen‘ Ideale zu vertreten, sondern nach Wegen zu suchen, wie die Bürger ihre eigenen ‚internen‘ Ideale besser verwirklichen können.[53] Damit definiert Ökonomik ihren Ort als Wissenschaft in der Gesellschaft und übernimmt Aufgaben demokratischer Politikberatung. Aus dem Versuch, diese Aufgaben zu erfüllen, erwachsen die Ideen konstitutioneller Ökonomik, dass ein Verfassungskonsens erforderlich ist, um mehr Pluralismus möglich werden zu lassen, und dass politisches Handeln – analog zu wirtschaftlichem Handeln – geeigneter sozialer Restriktionen bedarf, um Ergebnisse hervorzubringen, die im Interesse der Bürger liegen. Letztlich sind es in einer Demokratie (solche) Ideen, die Politik machen.

      4. Nachtrag 2016

      Man kann James Buchanan viele Verdienste zuschreiben:

       Mit seinen Schriften hat er wesentlich dazu beigetragen, das Anwendungsgebiet ökonomischer Analyse von der Wirtschaft auf die Politik auszudehnen.

       Gerade damit hat er der Finanzwissenschaft, der ökonomischen Analyse staatlicher Ein- und Ausgaben sowie staatlicher Aktivitäten, viele neue Impulse gegeben.

       Zudem hat Buchanan neue Brücken für eine interdisziplinäre Verständigung geschlagen, insbesondere zwischen Verfassungsökonomik und Verfassungsphilosophie sowie zwischen Institutionenökonomik und Institutionenethik.

       Aber auch der ökonomischen Theorie selbst hat Buchanan wertvolle Dienste geleistet. Diese betreffen sowohl die positive als auch die normative Analyse.

      Buchanan hat mit seiner Distinktion von „choices within rules“ und „choices among rules“ die alte ordnungstheoretische Erkenntnis international re-aktiviert, derzufolge zwischen einem Ordnungsrahmen (= Spielregeln) und den Handlungen innerhalb des Ordnungsrahmens (= Spielzügen) zu