Metalinguistisches Bewusstsein
9.6 Der Erwerb weiterer Sprachen
10.2 Kulturelle Zugehörigkeit
Vorwort
Dieses Buch ist aus meinen Skripten für Vorlesungen und Seminare an den Universitäten Klagenfurt, Graz und Frankfurt hervorgegangen. Den Studierenden dieser Universitäten danke ich für die Fragen, Anregungen und Diskussionen, durch die dieser Text an Klarheit und Schärfe gewonnen hat. Die geringe Anzahl einführender deutschsprachiger Werke zu dem Thema und die Unzufriedenheit mit der Ausrichtung und dem Ansatz derselben hatten mich dazu bewogen, die Skripten zu verfassen und allmählich zu einem Buch zu vervollständigen. Die ursprüngliche Inspiration ist jedoch auf meine deutsch-italienischsprachigen Töchter Emma und Alda zurückzuführen, deren sprachliche Entwicklung in mir das Interesse für die Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit geweckt hatte. Ich danke ihnen für die Daten und Erkenntnisse, die mir durch ihre kindlichen Äußerungen zuteil wurden. Von den zahlreichen Personen, die erste Fassungen des Textes gelesen haben, möchte ich Ulrich Wandruszka und vor allem meinen Bruder Ivo nennen. Ihnen verdanke ich wertvolle inhaltliche sowie textliche und stilistische Anregungen. Ferner danke ich Verena Lang für die Erstellung der Grafiken und dem Ernst Reinhardt Verlag für die umsichtige Betreuung während aller Phasen der Publikation.
1 Einleitung
1.1 Mehrsprachigkeit: ein alltägliches Phänomen
Die Anzahl der von der Weltbevölkerung gesprochenen Sprachen (ca. 7000) übersteigt diejenige der 193 Staaten der Welt um ein Vielfaches. Es ist daher nicht überraschend, wenn in vielen Ländern de facto oder de iure im gesamten Staatsgebiet oder Teilen davon Zwei- oder Mehrsprachigkeit herrscht. In der Republik Südafrika (Afrikaans, Englisch sowie neun offizielle afrikanische Sprachen), im amerikanischen Bundesstaat New Mexico (Englisch, Spanisch), in Singapur (Englisch, Malaysisch, Mandarin, Tamil), in Hongkong (Englisch, Kantonesisch, Mandarin), in der Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch), in Südtirol (Deutsch, Italienisch, Ladinisch), um nur einige wenige Beispiele zu nennen, ist es für die Bewohner und Bewohnerinnen eine Selbstverständlichkeit, im alltäglichen Leben mit einer zweiten oder sogar mehreren Sprachen konfrontiert zu sein und diese zum Teil auch zu beherrschen. Als Anekdote kann ich dem hinzufügen, dass ich nach einem Unfall ein paar Tage im Krankenhaus von Görz (Gorizia) in Norditalien verbrachte. Der Patient neben mir, ein sympathischer junger Bauarbeiter aus der Umgebung, bekam oft Besuch von Verwandten und Bekannten. Jedes Mal, wenn neue Besucher kamen, wurde eine andere Sprache gesprochen. Mit der größten Selbstverständlichkeit wechselte der einfache Arbeiter vom Italienischen zum Friaulischen und zum Slowenischen.
Indien ist ein Beispiel für ein Land, in dem Mehrsprachigkeit sowohl auf institutioneller als auch auf individueller Ebene herrscht (Håkansson und Westander 2013, 50 f.). Hindi und Englisch sind die offiziellen Sprachen. Dazu gibt es noch 1600 regionale und lokale Sprachen. Die Zehn-Rupien-Banknote trägt auf der Vorderseite eine Aufschrift auf Hindi und Englisch. Auf der Rückseite werden weitere fünfzehn Sprachen in zehn unterschiedlichen Schriften erwähnt. Die Verfassung aus dem Jahr 1961 schlägt vor, dass jeder Bürger und jede Bürgerin zumindest drei Sprachen beherrschen sollte: eine lokale, eine für ganz Indien und eine für die internationale Kommunikation.
Exakte Zahlen zum weltweiten Ausmaß der Mehrsprachigkeit sind nicht verfügbar, aber nach einer vielfach zitierten Schätzung von Grosjean (1982) sind 50 % der Weltbevölkerung mehrsprachig oder leben zumindest in einer mehrsprachigen Umgebung. Auer und Wei (2007, 1) schätzen sogar, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung zumindest zweisprachig ist. Ein Großteil der Bevölkerung Afrikas ist in der Tat mehrsprachig, Mehrsprachigkeit ist dort die Norm (Wolff 2000, 314–332). Nicht nur in der alltäglichen Kommunikation, auch in vielen Bildungseinrichtungen dieses Kontinents werden mehrere Sprachen gleichzeitig gebraucht. Asien, vor allem das kontinentale und peninsulare Südostasien, ist zum Großteil mehrsprachig (Goddard 2005). Exogamie, also die Eheschließung außerhalb des eigenen Volkes, ist eine gängige Praxis in vielen traditionellen Gesellschaften Afrikas, Asiens und Australiens. Exogamie führt fast immer zu Mehrsprachigkeit (Håkansson und Westander 2013, 49). Auch China, oft als monolinguales mandarinsprachiges Land gesehen, ist zumindest bilingual, da die Mehrheit seiner Einwohner eine der vielen stark voneinander abweichenden Regionalsprachen (Wu, Kantonesisch, Min, usw.) benutzt und die Standardsprache Mandarin zumeist erst später im Leben erlernt (Ansaldo 2009, 88). In Südamerika, wo der Kolonialismus den Übergang zu monolingualen Systemen bewirkt hat, existieren trotzdem noch Gebiete mit mehrsprachiger Bevölkerung.
Einsprachigkeit ist ein Zustand, der im Grunde vor allem für die europäische und nordamerikanische Kultur charakteristisch ist und sogar dort nicht ausnahmslos herrscht. Nach einer Schätzung von De Houwer (2009, 10) werden in 10 % aller Familien West- und Nordeuropas zwei Sprachen gesprochen. Grosjean (2013, 6) erwähnt einen Bericht der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2006, wonach 56 % der Einwohner der 25 EU-Staaten eine zweite Sprache so gut sprechen, dass sie in dieser ein Gespräch führen können. Nordamerika ist ebenfalls nicht ausnahmslos einsprachig. Ungefähr 35 % der Bevölkerung Kanadas ist bilingual, in den USA sind es immerhin noch 18–20 %, d. h. in etwa 55 Millionen Einwohner (Grosjean 2013, 6). Die Mehrsprachigkeit ist vor allem in den urbanen Gebieten verbreitet. In der Ausgabe vom 10. September 2011 der Zeitschrift The Economist war zu lesen, dass in der Stadt New York fast so viele Sprachen (800) wie in Papua-Neuguinea gesprochen werden.
Vor diesem Hintergrund sind Auffassungen und Aussagen, die von der Einsprachigkeit eines Staates, eines Landes oder auch einer Gesellschaft ausgehen, unpassend und gelegentlich sogar grotesk. Sie sind nur durch in der Neuzeit entstandene Denkmuster über Standardsprache und Nation erklärbar. Das besonders in Europa und Nordamerika verankerte Konzept eine Nation – eine Sprache ist nicht alt. Noch im Mittelalter herrschte in Europa eine weitreichende Mehrsprachigkeit mit Latein als Hochsprache und daneben vielen Volkssprachen (Baldzuhn und Putzo 2011; Molinelli und Guerini 2013). Ursprünglich im 15. und 16. Jahrhundert aufgekommen, erlebte das Konzept eine Nation – eine Sprache einen Höhepunkt während der historischen Entwicklung der Nationalstaaten. Seine Aktualität muss jedoch hinterfragt werden, vor allem im Lichte der Erkenntnis, dass Einsprachigkeit mit großer Wahrscheinlichkeit einen Ausnahmezustand darstellt (Auer und Wei 2007, 1).
Es ist aufgrund dieser Situation nur zu verständlich, dass auch für Millionen von Kindern eine multilinguale Gesellschaft und das gleichzeitige Erwerben und Verwenden mehrerer Sprachen eine alltägliche Erfahrung darstellen (Ingram 1981, 95; De Groot 2011, 1). Crystal (2003, 69) schätzt, dass zwei Drittel aller Kinder in einer mehrsprachigen Umgebung aufwachsen. Tatsächlich entspricht die einsprachige Umgebung, von der bis vor nicht allzu langer Zeit die Spracherwerbsforschung ausging, nicht den realen Verhältnissen, mit denen Kinder in vielen Teilen der Welt konfrontiert sind. In Deutschland erreichte 2012 die Zahl der Personen mit Migrationshintergrund 16,3 Millionen, was einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 20,0 % entspricht. Bei den unter Fünfjährigen liegt der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund inzwischen bei 35,4 % der Bevölkerung (Statistisches Bundesamt 2013, 7 f.). Man kann davon ausgehen, dass die meisten davon in irgendeiner Weise zumindest zweisprachig aufgewachsen sind.
Eine zweisprachige Kindheit kann jedoch nicht nur durch Migration im klassischen Sinne bedingt sein. Die heutige Gesellschaft ist in Ausbildung, Arbeit und Freizeit höchst flexibel und mobil. Mehrsprachigen Familien, die aufgrund von Studien- oder Arbeitsaufenthalten im Ausland, ja sogar nach Urlauben entstanden sind, begegnet man auf Schritt und Tritt. Man denke nur an das bei europäischen Studierenden so populäre Erasmus-Programm, im Zuge dessen diese in einem Land ihrer Wahl ein Semester oder Studienjahr verbringen und das zu zahlreichen Partnerschaften,