Stefan Schneider

Bilingualer Erstspracherwerb


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Aufbau des Buches und Lesehinweise

      Die folgenden Seiten bieten eine erste Annäherung an das faszinierende Gebiet des bilingualen Erstspracherwerbs (engl. bilingual first language acquisition), stellen die wichtigsten Studien vor und erörtern die Hauptfragen, mit denen sich die Forschung auseinandersetzt. Im Mittelpunkt des Interesses steht der Spracherwerb im Vorschulalter, vor allem in den ersten drei Lebensjahren.

      Der Band setzt sich aus drei Teilen unterschiedlicher Länge und Gewichtung zusammen: Die Kapitel 2 und 3 erläutern grundlegende Konzepte, Definitionen, Fragestellungen und Methoden, die Kapitel 4 und 5 bieten einen Forschungsüberblick und die anschließenden Kapitel besprechen ausgewählte Aspekte. Das Buch richtet sich vor allem an Personen, die sich im Laufe ihrer universitären oder beruflichen Ausbildung mit dem bilingualen Erstspracherwerb befassen. Es ist in erster Linie als wissenschaftliche Einführung konzipiert, weshalb es einen recht detaillierten Forschungsüberblick beinhaltet. Solche Forschungsüberblicke sind in Einführungen nicht häufig anzutreffen. Da es in der Forschung zum bilingualen Erstspracherwerb eine verbreitete Praxis ist, auf beispielhafte Fallstudien zu verweisen, ist es von Vorteil, zumindest über diese Schlüsselstudien Bescheid zu wissen. Ihre chronologische Beschreibung liefert zudem einen Überblick über die Entwicklung einer noch jungen Forschungsrichtung. Doch auch Leser und Leserinnen ohne spezielle Fachkenntnisse können von der Lektüre des Buches profitieren. Diesen empfehle ich, den Forschungsüberblick in den Kapiteln 4 und 5 nur bei Bedarf punktuell zu konsultieren.

      Obwohl Sprachwissenschaftler, bin ich in diesem Buch bestrebt, den bilingualen Erstspracherwerb nicht aus einer ausschließlich linguistischen Perspektive darzustellen, sondern, wo möglich, aus einem entwicklungspsychologischen, kognitiven, allgemein kommunikativen oder sozialen Blickwinkel zu beleuchten. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten erwiesen, dass eine rein linguistische, vor allem linguistisch-strukturelle Herangehensweise in der Spracherwerbsforschung wenig erhellend ist und teilweise sogar den Blick auf das Wesentliche verstellt.

      Leser und Leserinnen mit einer Ausbildung in Sprachwissenschaft werden einige Erläuterungen linguistischer Terminologie als ungenau, zu allgemein oder als einfach unnötig empfinden. Der Zweck der verwendeten Fachtermini besteht einzig und allein darin, Begriffe der frühkindlichen Zwei- und Mehrsprachigkeit einer nicht-linguistischen Leserschaft näher zu bringen.

      Wie in Texten zur Kindersprache üblich, wird das Alter der Kinder in Jahren, Monaten (durch Strichpunkt getrennt) und bei Bedarf Tagen (durch Strichpunkt oder Punkt getrennt) angegeben. Die Angabe 2;1;22 bedeutet demnach 2 Jahre, 1 Monat und 22 Tage.

      Das Buch enthält am Ende ein Gesamtregister, in dem Namen (auch von Kindern einiger Fallstudien), Schlüsselbegriffe, deutsch- und fremdsprachliche Fachtermini, Sprachen und Abkürzungen enthalten sind.

      Obwohl die Mehrsprachigkeit keineswegs eine exotische Ausnahme darstellt, ließ die einseitige Fixierung auf die Monolingualität die Sprachwissenschaft nicht unberührt und führte dazu, dass Untersuchungen zum bi- und multilingualen Erstspracherwerb lange Zeit nicht den Stellenwert einnahmen, den das Ausmaß des Phänomens nahelegen würde. Darüber hinaus wollte man bei der Erforschung des Spracherwerbs, eine der zentralen, noch immer nicht befriedigend gelösten Fragen der Sprachwissenschaft, durch den Faktor Mehrsprachigkeit zu erwartende Komplikationen vermeiden. Fantini (1976, 17) wies darauf hin, dass von den fünfzig in Slobin (1972) erwähnten Langzeituntersuchungen über den Spracherwerb nur drei über zweisprachige Kinder berichten. Hier war in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Veränderung bemerkbar. Der Forschungsbereich ist ungeheuer gewachsen. Die Anzahl der wissenschaftlichen Beiträge ist exponentiell gestiegen. Parallel dazu erschien eine Reihe von Einführungen, Handbüchern, Enzyklopädien sowie Websites und Blogs. Zu den zwei schon seit den 1970er Jahren etablierten Fachzeitschriften Bilingual Research Journal und Journal of Multilingual and Multicultural Development kamen ab den 1990er Jahren noch die Zeitschriften Bilingualism: Language and Cognition, International Journal of Bilingual Education and Bilingualism, International Journal of Bilingualism und neuerdings Linguistic Approaches to Bilingualism dazu.

      Als weiterführende Literatur empfehle ich einige in neueren englischsprachigen Handbüchern enthaltene Zusammenfassungen (De Houwer 1995, 2005; Romaine 1996, 1999; Bhatia und Ritchie 1999; Meisel 2004; Paradis 2007; Serratrice 2013; Yip 2013), die Bände von Hamers und Blanc (2000 [1983]), Romaine (1995), Myers-Scotton (2006) und De Houwer (2009), die deutschsprachigen Beiträge von Tracy und Gawlitzek-Maiwald (2000) und Schneider (2003a), sowie die Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung von Müller et al. (2011). Nicht uninteressant ist außerdem die französischsprachige Einführung von Hagège (1996). Sie alle bieten einen Überblick über die Forschung der letzten Jahre. Für Zusammenfassungen und Besprechungen von früheren Arbeiten verweise ich auf Rūķe-Draviņa (1967), Hatch (1978), McLaughlin (1978, 72–98), Grosjean (1982), Taeschner (1983, 7–16) und Hakuta (1986, 45–72). Der von Li Wei herausgegebene Bilingualism Reader (2007) enthält eine Sammlung zentraler Aufsätze.

      In mehrsprachigen Familien stellen sich die Eltern berechtigterweise oft die Frage nach der gelungenen sprachlichen Entwicklung ihrer Kinder. In den letzten Jahren ist zu diesem Thema eine Anzahl von Einführungen und Ratgebern erschienen. Einige davon möchte ich hier erwähnen, und zwar die englischsprachigen Bücher von Harding und Riley (1986), Arnberg (1987), Cunningham-Andersson und Andersson (1999), Tukuhama-Espinosa (2001), Barron-Hauwaert (2004) und Pearson (2008), sowie die deutschsprachigen Einführungen von Kielhöfer und Jonekeit (1995), Burkhardt Montanari (2002, 2003), Nodari und De Rosa (2003), Leist-Villis (2009) und Triarchi-Herrmann (2012).

      2 Grundlegende Konzepte

      2.1 Bilingualität, Bilingualismus und Diglossie

      Bevor wir uns genauer mit dem Phänomen des bilingualen Erstspracherwerbs auseinandersetzen, ist es hilfreich, drei Termini oder Begriffe zu klären. Die Termini Bilingualität und Bilingualismus (gelegentlich auch Bilinguismus, Müller et al. 2011, 15; Rizzi 2013, 9) bezeichnen im Deutschen sowohl das individuelle Beherrschen zweier Sprachen seit der Kindheit als auch das kollektive Phänomen einer Gesellschaft, die in allen wichtigen kommunikativen Interaktionen zwei Sprachen verwendet. Die Wörter Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit sind ähnlich mehrdeutig. Hamers und Blanc (2000 [1983], 6) unterscheiden jedoch terminologisch das individuelle Phänomen der bilingualité oder bilinguality vom gesellschaftlichen Phänomen des bilingualisme oder bilingualism. Ebenso finden wir in Hélot (2007, 27) die Unterscheidung zwischen dem individuellen Phänomen des Multilingualismus und dem kollektiven Plurilingualismus. Ich greife diesen Vorschlag auf und verwende im vorliegenden Buch Bilingualität für das individuelle und Bilingualismus für das gesellschaftliche Phänomen. Gleichermaßen bezeichne ich daher das individuelle Phänomen der Mehrsprachigkeit mit Multilingualität (oder auch Plurilingualität) und die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit mit Multilingualismus (oder auch Plurilingualismus). Die Bilingualität kann, muss aber keine Voraussetzung für den Bilingualismus sein; ein zweisprachiges Individuum kann genauso gut in einer einsprachigen Gesellschaft leben, so wie umgekehrt in einer bilingualen Gesellschaft in der Regel nicht jedes Mitglied beide Sprachen beherrscht. Im diesem Buch beschäftige ich mich in erster Linie mit der individuellen Bilingualität und weise nur wo nötig auf die gesellschaftliche Erscheinung und die eventuellen Einflüsse eines bilingualen Umfeldes hin.

      Ebenfalls eine gesellschaftliche und soziolinguistische Bedeutung besitzt der vom Bilingualismus zu unterscheidende Begriff der Diglossie. Mit diesem auf Ferguson (1959) zurückgehenden Terminus wird eine zweisprachige Situation in einer Gesellschaft bezeichnet, in der eine funktionale Differenzierung zwischen zwei Sprachen oder Varietäten besteht, so dass jeder der beiden ein sozial, thematisch und situationell definierter Anwendungsbereich vorbehalten ist. Häufig steht eine der Sprachen oder Varietäten sozial höher als die andere, es besteht eine Asymmetrie (Bolonyai 2009, 257). Die höher stehende Sprache oder Varietät zeichnet