Stefan Schneider

Bilingualer Erstspracherwerb


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Songs kann man darüber hinaus sein reges Interesse für die sprachliche Vielfalt erkennen.

      Zwei der im vorhergehenden Abschnitt besprochenen Konstellationen möchte ich getrennt behandeln, da sie heutzutage eine nicht zu unterschätzende Verbreitung haben, jedoch in der Forschung bislang wenig berücksichtigt wurden. Es handelt sich um die artifizielle Bilingualität, also um eine kommunikative Konstellation, in der sich die Eltern – beide oder nur ein Elternteil – konsequent in einer von ihnen sehr gut beherrschten Zweitsprache an das Kind richten. In der Regel ist das eine prestigeträchtige und international einsetzbare Sprache. In dem gerade beschriebenen Szenario sind die Erstsprache der Eltern und die Umgebungssprache identisch, und die Eltern verwenden eine damit nicht in Zusammenhang stehende Zweitsprache. Man sollte jedoch daneben Fälle berücksichtigen, in denen die Umgebungssprache für die Eltern eine Zweitsprache darstellt, die sie sehr gut beherrschen. Wir finden solche Fälle beispielsweise in Südtirol, wo gelegentlich italienischsprachige Eltern die Entscheidung treffen, mit ihren Kindern Deutsch zu sprechen.

      Es handelt sich um eine Konstellation, die bei Eltern, Linguisten und Linguistinnen oft Skepsis weckt und zweifelsohne die Gefahr der Unnatürlichkeit in sich birgt. Sie findet allerdings in der heutigen Zeit immer mehr Verbreitung. Genaue Angaben darüber gibt es nur wenige: 435 der insgesamt 6236 von Akinci, De Ruiter und Sanagustin (2004) erfassten französischen Schüler und Schülerinnen erklärten, zu Hause Englisch zu sprechen, obwohl sie und ihre Eltern in den meisten Fällen in Frankreich geboren waren. Wahrscheinlich ist die Situation in anderen europäischen und außereuropäischen Staaten vergleichbar. Die Konstellation darf daher nicht unterschätzt werden. Sie wirft zweifelsohne eine Reihe von Fragen auf, nicht zuletzt diejenige, ob nicht-erstsprachlicher Input ebenfalls zu einer gelungenen Bilingualität führen kann.

      Saunders (1982, 1988) beschreibt detailliert die ersten dreizehn Jahre seines eigenen Experiments mit der artifiziellen Bilingualität. Die Familie lebt zuerst in Hobart, der Hauptstadt der zu Australien gehörenden Insel Tasmanien, und später in Melbourne und Sydney. Beide Elternteile sind englischer Muttersprache, der Vater, George Saunders, hat Germanistik studiert und spricht fließend Deutsch, die Mutter hat nur mäßige Deutschkenntnisse. Sie haben zwei Söhne, Thomas und Frank, und eine Tochter namens Katrina. George Saunders sieht einen Vorteil in der Tatsache, dass Deutsch nicht seine Erstsprache ist: Er ist mit dem Deutschen emotionell nicht so verbunden und toleriert daher leichter Fehler und Unregelmäßigkeiten seiner Kinder. Die Frage nach der Erstsprache des Vaters hat die Kinder übrigens nie besonders interessiert. Für sie ist es einfach eine Tatsache, dass der Vater Deutsch spricht.

      In der Familie herrscht die kommunikative Konstellation eine Person → eine Sprache; der Vater spricht Deutsch, die Mutter Englisch, die Eltern sprechen miteinander Englisch und die Kinder untereinander auch Englisch. Für die Kinder bleibt der Vater jahrelang der einzige deutschsprachige Gesprächspartner. Ganz selten haben sie Kontakt mit anderen deutsch-englischsprachigen Personen und nie mit monolingualen Sprechern und Sprecherinnen des Deutschen. 1984, im elften Jahr des Experiments, verbringt die Familie sechs Monate in Deutschland. Erst da haben die Kinder zum ersten Mal Kontakt mit monolingualen Sprechern und Sprecherinnen des Deutschen.

      Wie bei anderen bilingualen Kindern kommt es aufgrund der Konstellation eine Person → eine Sprache zu bemerkenswerten Rückschlüssen der Kinder: Frank äußert beispielsweise im Alter von 4;5 folgende Meinung (Saunders 1988, 82):

      (2) Mummies don’t speak deutsch. ‚Mamas sprechen nicht deutsch.‘

      Da das Deutsche des Vaters für die Kinder den Standard darstellt, sind sie anfangs über andere Varietäten des Deutschen erstaunt, die sie beispielsweise bei Filmen oder im Fernsehen hören (Saunders 1988, 137).

      Im Unterschied zu Werner F. Leopold spricht der Vater in der Gegenwart von monolingualen englischsprachigen Kindern zuerst deutsch dann englisch mit seinen Kindern. Er ist der Meinung, dass die alleinige Verwendung des Englischen in solchen Situationen den deutschsprachigen Input zu drastisch reduzieren würde und außerdem den Kindern den falschen Eindruck vermitteln könnte, das Deutsche sollte man in der Öffentlichkeit vermeiden (Saunders 1988, 107). In der Tat haben die Kinder nie Scheu, in der Öffentlichkeit, beispielsweise im Kindergarten oder vor Schulkameraden, deutsch zu sprechen. Genauso wenig Scheu haben sie dann in Deutschland, mit ihrer Mutter öffentlich englisch zu sprechen. Interessanterweise betrachten die Kinder Deutsch zumindest eine Zeitlang als ihre eigene Sprache. Frank, der zweite Sohn, betrachtet es sogar fast als sein Eigentum (Saunders 1988, 136).

      Die monolingualen Freunde der Kinder, Verwandte, Lehrer und Lehrerinnen und die monolinguale Umgebung im Allgemeinen stehen der Bilingualität in der Familie positiv gegenüber. Sie sind neugierig und wollen manchmal sogar die deutsche Übersetzung einer Äußerung hören (Saunders 1988, 106). Gelegentlich versuchen sie sogar, selbst ein paar deutsche Wörter zu sagen (Saunders 1988, 117). Ein paar Schwierigkeiten haben die Kinder dennoch zu überwinden (Saunders 1988, 119 f.). Es gibt zudem bei den beiden Söhnen eine je fünfmonatige Phase im Alter von 3;5 bzw. im Alter von 2;7, in der sie wenig Lust zeigen, mit ihrem Vater deutsch zu sprechen.

      Wie das Experiment von Saunders (1982, 1988) zeigt, können Kinder auch in einer solchen kommunikativen Situation erfolgreich bilingual aufwachsen. Sicher ist jedoch, dass diese Art der Bilingualität von den Eltern neben exzellenten Sprachfähigkeiten ein nicht alltägliches Maß an Konstanz, Kohärenz und Einsatz erfordert. Um beispielsweise seine Kinder die deutsche Rechtschreibung zu lehren, übte der Vater mit ihnen vier- bis fünfmal pro Woche.

      Die in diesen Abschnitt zur Sprache kommenden Konzepte und Termini betreffen vor allem den Zweitspracherwerb, tauchen jedoch oft auch in Diskussionen über den bilingualen Erstspracherwerb auf.

      Der Spracherwerb ist bei Schuleintritt in seinen Kernbereichen weit fortgeschritten, aber hinsichtlich Grammatik, Wortschatz und vor allem Lesen und Schreiben noch lange nicht abgeschlossen. Die Sprachkompetenzen müssen in der Schule zumindest bis zum Alter der Pubertät weiterentwickelt werden. Lesen und Schreiben sind elementare Fähigkeiten, die zur Entwicklung allgemeiner kognitiver Fähigkeiten beitragen und erst eine sprachliche Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Beim Erwerb der Lese- und Schreibkompetenzen wird nicht nur eine bestimmte Sprache mit ihrer Schrift, sondern Sprache und Schrift als solche werden erworben.

      Bei Kindern, die sprachlichen Minderheiten angehören, passiert es jedoch häufig, dass die Weiterentwicklung der Erstsprache bei Schuleintritt abrupt unterbrochen wird und die Alphabetisierung in der gerade erst im Aufbau befindlichen Zweitsprache stattfindet. Das Ergebnis sind meistens geringere sprachliche, aber auch geringere allgemeine kognitive Fähigkeiten sowohl in der Erstsprache als auch in der Zweitsprache. Dieses zweifache sprachliche Defizit wurde in der Vergangenheit mit den in der skandinavischen Linguistik entwickelten Begriffen Semilingualismus oder doppelter Semilingualismus (Hansegård 1968; Skutnabb-Kangas und Toukomaa 1976; Toukomaa und Skutnabb-Kangas 1977) charakterisiert. In diesem Buch ziehe ich, im Sinne der gehandhabten terminologischen Praxis, die Bezeichnung Semilingualität vor. Zwei der in Abschnitt 3.2 besprochenen Hypothesen, die Schwellenhypothese und die Interdependenzhypothese (Toukomaa und Skutnabb-Kangas 1977; Cummins 1979), stehen mit diesem Begriff in Zusammenhang.

      Wie Romaine (1995, 261–265) erklärt, ist der Begriff allerdings umstritten und wird von Forschern wie Tove Skutnabb-Kangas und Jim Cummins abgelehnt, da er primär in Zusammenhang mit ethnischen Minderheiten verwendet wurde und eine politische Bedeutung mit pejorativer Konnotation annahm. Die Semilingualität ist in der Tat in erster Linie auf politische und soziale, weniger auf individuelle oder kognitive Gründe zurückzuführen. Denken wir hier zum Beispiel an die Kinder lateinamerikanischer Einwanderer in den USA. Besonders in den 1960er und 1970er Jahren waren diese Kinder von Anfang an mit einem mehrheitssprachlichen Schulunterricht konfrontiert, obwohl ihre erstsprachlichen Kompetenzen noch nicht zur Genüge entwickelt waren. Diese Art des Spracherwerbs und -unterrichts wird manchmal Submersion genannt.

      In einer Situation wie der gerade beschriebenen, in der die Erstsprache eine Minderheitensprache ist, können