in diesem Abschnitt bewusst nicht die Sprachkompetenzen, zu denen die beiden Erwerbssituationen führen. Auf der einen Seite kann früher Zweitspracherwerb selbstverständlich zu einer gelungenen Zweisprachigkeit führen. Auf der anderen Seite führt der Kontakt zu zwei Sprachen von Geburt an nicht automatisch zu Zweisprachigkeit. Abgesehen davon können sich aufgrund von veränderten Inputbedingungen die Sprachkompetenzen nicht vollständig entwickeln oder wieder abgebaut werden. Wie ich in Abschnitt 2.6 darstellen werde, kann die später erworbene Zweitsprache die Fähigkeiten in der Erstsprache gefährden (Chumak-Horbatsch 2008). Der unvollständige Erwerb der Erstsprache gepaart mit dem Sprachabbau kann so weit führen, dass die Erstsprache fast vollkommen aufgegeben wird, weshalb man von Sprachsubstitution (z. B. Francis 2011) sprechen kann. Yip (2013, 120) erwähnt als ein anderes Beispiel für Sprachsubstitution den Fall von adoptierten Kindern, die in ihrer neuen Familie mit einer neuen Sprache konfrontiert sind und ihre ursprüngliche Erstsprache aufgeben müssen (Ventureya und Pallier 2004; Footnick 2007; Pallier 2007, 161–165; Gauthier und Genesee 2011).
2.4 Bilinguale Kommunikation in der Familie und in ihrem Umfeld
Neben der Anzahl der involvierten Sprachen und dem Zeitpunkt des Einsetzens des Spracherwerbs dient als ein weiteres Kriterium zur Differenzierung und Charakterisierung frühkindlicher Bilingualität die kommunikative Praxis in der Familie und der umgebenden Gemeinschaft. In der Tat kann die zweisprachige Kommunikation in der Familie und im unmittelbaren Umfeld des Kindes höchst unterschiedlich ablaufen. In vielen Fällen treffen die Eltern bewusst oder unbewusst vorab eine Entscheidung hinsichtlich des sprachlichen Umgangs mit ihren Kindern. Wir können diesbezüglich zumindest sieben Konstellationen oder Sprachverteilungen in der bilingualen Kommunikation unterscheiden (Carpene 1999, 228; Romaine 1999, 253 f.; Barron-Hauwaert 2004, 163–178; De Houwer 2009, 87, 132–145; Müller et al. 2011, 48–52):
1. eine Person → eine Sprache (a): Die Eltern haben unterschiedliche Erstsprachen. Jeder Elternteil wendet sich nur in seiner Erstsprache an das Kind. Eine der beiden Sprachen ist auch diejenige der umgebenden Sprachgemeinschaft.
2. eine Person → eine Sprache (b): Die Eltern haben unterschiedliche Erstsprachen. Jeder Elternteil wendet sich nur in seiner Erstsprache an das Kind. Die Sprache der umgebenden Gemeinschaft ist jedoch verschieden von den Erstsprachen der Eltern. Diese Konstellation führt meist zu Trilingualität.
3. eine Person → eine Sprache (c): Die Eltern haben die gleiche Erstsprache. Diese ist auch die Sprache der umgebenden Gemeinschaft. Ein Elternteil wendet sich jedoch in einer von ihm sehr gut beherrschten Zweitsprache, d. h. in einer Fremdsprache, an das Kind. Diese Konstellation könnte man – wenngleich nicht ganz passend – artifizielle Bilingualität nennen.
4. Familiensprache ≠ Umgebungssprache (a): Die Eltern haben die gleiche Erstsprache. Die Sprache der umgebenden Gemeinschaft ist jedoch eine andere, von der die Eltern nur unzureichende Kenntnisse haben. Die Eltern sprechen mit dem Kind ihre Erstsprache. Das Kind erwirbt die Umgebungssprache durch andere Bezugspersonen.
5. Familiensprache ≠ Umgebungssprache (b): Die Eltern haben unterschiedliche Erstsprachen. Eine der beiden Sprachen ist diejenige der umgebenden Sprachgemeinschaft. Beide Elternteile sprechen mit dem Kind diejenige Sprache, die nicht Umgebungssprache ist.
6. Familiensprache ≠ Umgebungssprache (c): Die Eltern haben die gleiche Erstsprache. Diese ist auch die Sprache der umgebenden Gemeinschaft. Beide Elternteile kommunizieren mit ihrem Kind in einer von ihnen sehr gut beherrschten Zweitsprache. Diese Sprachverteilung ist ebenfalls der artifiziellen Bilingualität zuzuordnen.
7. Andere kontextuelle Verteilung der Sprachen: Die Eltern sind entweder bilingual oder haben unterschiedliche Erstsprachen mit guten Kenntnissen der Sprache des jeweiligen Partners. Die umgebende Sprachgemeinschaft kann ein- oder auch mehrsprachig sein. Die Eltern wenden sich in beiden Sprachen an das Kind, richten sich dabei jedoch weder nach dem Kriterium eine Person → eine Sprache noch nach dem Kriterium Familiensprache ≠ Umgebungssprache, sondern nach anderen kontextuellen Faktoren, wie Situation, Thema, weitere Gesprächspartner und so fort.
Es kann durchaus passieren, dass die implizit oder explizit anfangs festgelegte kommunikative Sprachverteilung modifiziert wird, beispielsweise weil sich im Lauf der Jahre die äußeren Umstände der Familie verändert haben oder weil sich die Verteilung als schwer durchführbar herausgestellt hat. Anzumerken ist außerdem, dass hier ausschließlich von bilingualen Familien die Rede ist. Im Falle der Trilingualität ist die Sprachverteilung selbstverständlich komplexer.
Eltern mögen vielleicht eine bewusste Entscheidung über die Verteilung der Sprachen im Umgang mit ihren Kindern treffen, hinsichtlich der Zweisprachigkeit an sich haben sie jedoch in den wenigsten Fällen eine Wahl. Wenn man von der artifiziellen Bilingualität absieht, ist in den anderen Konstellationen die Zweisprachigkeit im Grunde vorgegeben. Nur spezielle individuelle und gesellschaftliche Umstände, wie beispielsweise starker sozialer Druck seitens eines Elternteils, der Verwandtschaft und der umgebenden Sprachgemeinschaft, können dazu führen, dass in der Konstellation eine Person → eine Sprache (a) der andere Elternteil auf seine Sprache verzichtet. Das kann ein großes Opfer darstellen und unter Umständen bedeuten, dass ein Kind mit der Verwandtschaft dieses Elternteils gar nicht kommunizieren kann.
Alle oben beschriebenen Konstellationen haben gemeinsam, dass jeder Sprache ein bestimmtes Anwendungsgebiet zugeordnet wird. Es handelt sich daher um eine Trennung des Inputs nach Personen oder sprachlichen Bereichen. Die Trennung nach Person oder nach Familien- und Umgebungssprache erscheint auf den ersten Blick eindeutiger. In der alltäglichen Kommunikation kommt es jedoch häufig zu einer anderen kontextuellen Verteilung der Sprachen, da eine vollkommene Inputtrennung nach Person oder nach Familien- und Umgebungssprache im Grunde unmöglich ist. Die letzte der oben beschriebenen Sprachverteilungen ist daher in der Praxis sehr verbreitet. Fest steht, dass beide Konstellationen, eine Person → eine Sprache und Familiensprache ≠ Umgebungssprache, Vor- und Nachteile besitzen. Wenn zu rigide angewandt, haben beide den Nachteil, dass sie eine gewisse Künstlichkeit in der Kommunikation erzeugen. In größeren Familien, die neben Eltern und Kindern noch nahe Verwandte umfassen, kommt es vor, dass sich nicht alle Mitglieder an solche kommunikative Regeln halten können oder wollen.
Zur Beschreibung des Sprachverhaltens von bilingualen Erwachsenen verwendet Grosjean (2008) den Begriff des language mode (Grosjean 2013, 14–17). Er ist zum Teil für die alltägliche Kommunikation von bilingualen Kindern ebenfalls passend (Yip 2013, 125 f.). Das sprachliche Verhalten bewegt sich zwischen zwei Extremen, dem monolingualen Modus und dem bilingualen Modus. In jeder Situation gibt es eine durch kontextuelle Faktoren bestimmte Basissprache. Wenn das Kind mit Sprechern und Sprecherinnen nur einer Sprache interagiert, befindet es sich im monolingualen Modus. Eine Sprache ist voll aktiviert, die andere hingegen nur minimal. In Präsenz von Sprechern und Sprecherinnen beider Sprachen werden beide Sprachen aktiviert, das Kind befindet sich im bilingualen Modus. Zwischen diesen beiden Modi gibt es je nach Situation verschiedene Abstufungen. Wichtig ist, dass im monolingualen Modus eine der beiden Sprachen kognitiv unterdrückt wird. Das könnte ein Grund sein, warum bei Experimenten, in denen die kognitive Inhibition von Interferenzen getestet wird, bilinguale Kinder und Jugendliche bessere Ergebnisse erzielen als monolinguale Vergleichspersonen (Abschnitt 9.3).
Die auf den französischen Sprachwissenschaftler Maurice Grammont (1866–1946) zurückgehende Sprachverteilung eine Person → eine Sprache hat eine lange Tradition, wird jedoch in den letzten Jahren immer wieder in Frage gestellt (Lippert 2010, 65–82). Ein gewichtiger Nachteil der Konstellation ist, dass diejenige Sprache, die nicht Umgebungssprache ist, im Hinblick auf die Häufigkeit und Intensität des sprachlichen Inputs zu kurz kommen kann, besonders wenn sie von einem Elternteil gesprochen wird, der in der Familie weniger präsent ist. Yamamoto (2001) untersucht die Kommunikation in englisch-japanischsprachigen Familien, die in Japan leben. In den Familien von 46 Kindern sprachen die Eltern gemäß der Strategie eine Person → eine Sprache; acht dieser Kinder erwarben kein Englisch. In den Familien von 54 Kindern wurden die Sprachen nicht streng nach Elternteil getrennt. Jeder Elternteil sprach in beiden Sprachen zu seinem Kind und wechselte die Sprache je nach Situation und Kontext. Nur vier dieser Kinder erwarben kein Englisch. Lipperts (2010) Untersuchung der Strategie eine Person