Stefan Schneider

Bilingualer Erstspracherwerb


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Deutschen und den graduellen Übergang der Kinder zur Einsprachigkeit.

      Ungünstig ist bei dieser Verteilung der Sprachen ebenfalls, dass die Familienmitglieder in Situationen, in denen sie alle beisammen sind, etwa beim gemeinsamen Abendessen, zu einem dauernden Wechseln der Sprachen gezwungen sind. Die rigide Sprachtrennung nach der Strategie eine Person → eine Sprache kann gelegentlich zu einem künstlichen Verhalten der Eltern führen, besonders wenn diese auch in zwiespältigen Situationen auf der Trennung der Sprachen bestehen. Wenn einer der beiden Elternteile nicht beide Sprachen beherrscht, kann die unflexible Anwendung dieser Strategie außerdem dazu führen, dass dieser Elternteil in vielen Situationen von der Konversation ausgeschlossen ist (De Houwer 2009, 314).

      Es kann vorkommen, dass Kinder anfangs die Künstlichkeit der Sprachverteilung nach Person nicht durchschauen und dadurch zu falschen Rückschlüssen hinsichtlich des kommunikativen Verhaltens verleitet werden. Berühmt ist folgende Frage, die Leopolds Tochter Hildegard im Alter von vier Jahren an ihre Mutter richtete (Leopold 1949b, 59):

      (1) Mother, do all fathers speak German? ‚Mama, sprechen alle Väter deutsch?‘

      Ebenfalls bemerkenswert ist der von Tracy (2007, 7) geschilderte Fall eines Jungen namens Malte, der bilingual aufwuchs. Sein Vater sprach mit ihm Deutsch, seine Mutter vorwiegend, aber nicht ausschließlich, Englisch. Er selbst verstand beide Sprachen ausgezeichnet, wollte jedoch nie Englisch sprechen und antwortete seiner Mutter daher immer auf Deutsch. Bei Tonbandaufnahmen kam zufällig heraus, dass er bereit war, Englisch zu sprechen, wenn er bei Rollenspielen für eine weibliche Puppe sprechen sollte. Er war der Meinung, nur Frauen sprächen Englisch.

      Die konkrete Sprachverteilung stellt immer einen Mittelweg dar zwischen der vollkommenen Trennung nach Person auf der einen Seite und Fehlen einer solchen Trennung auf der anderen. Hélot (2007, 74) erwähnt, dass die Hälfte der von ihr in Irland untersuchten bilingualen Eltern, die bewusst die Sprachverteilung eine Person → eine Sprache gewählt haben, erklärt, diese Regelung nicht systematisch einzuhalten. Vielen bilingualen Personen fällt es in der Tat schwer, monolingual zu agieren. Andere Untersuchungen über bilinguale Erwachsene haben gezeigt, dass nicht Sprachtrennung, sondern Sprachmischung der Normalfall ist, obwohl viele Erwachsene sich derer nicht bewusst sind oder diese sogar zu vermeiden suchen (Goodz 1989, 1994; Lanza 1997). Hélot (2007, 64) berichtet von einer Mutter, die erklärte, nach der Strategie eine Person → eine Sprache vorzugehen und ausschließlich Französisch mit ihrem Kind zu sprechen. Im Laufe der Audioaufnahmen stellte sich allerdings heraus, dass diese regelmäßig englische Wörter in ihren Äußerungen verwendete. Die Erklärung der Mutter reflektierte mehr ihr Wunschdenken als die Realität (Chumak-Horbatsch 2008, 18 f.). In der bilingualen Kommunikation ist es nahezu unmöglich, eine der beiden Sprachen aus dem Repertoire zu verbannen (Cruz-Ferreira 2006, 237–243).

      Die Fokussierung auf die strikte Sprachtrennung nach Person übersieht außerdem die Lage in vielen nicht-westlichen Gesellschaften, in denen eine kontextuelle Sprachverteilung nach Situation, Thema, weiteren Gesprächspartnern und so fort als vollkommen natürlich angesehen wird. In Indien ist Mehrsprachigkeit nicht nur weitverbreitet, sondern wird von der Gesellschaft begrüßt und durch bildungspolitische Maßnahmen des Staates unterstützt. Nairs (1991) Studie schildert eindrucksvoll die Umgebung eines indischen Kindes. Neben den Eltern lebten in dem großen Haus die Großeltern, ein Onkel, eine Tante sowie das Hauspersonal. Der Vater sprach Bengali, die Mutter Malayalam, beide hatten in Großbritannien einen Teil ihrer Ausbildung absolviert und kommunizierten untereinander auf Hindi und Englisch. Weitere im Haus verwendete Sprachen waren Punjabi und Oriya, wobei sich die Sprecher und Sprecherinnen häufig gemischtsprachiger Äußerungen bedienten. Das hauptsächlich Hindi und Englisch sprechende Kind verbringt die meiste Zeit mit der Großmutter, in dessen Zimmer es auch schläft. Trotz dieser für westliche Begriffe bedenklichen Situation stellte sich heraus, dass die Entwicklung beider Sprachen bei dem Kind ähnlich derjenigen von monolingualen Kindern war. Yip und Matthews (2007, 11, 258) beschreiben die Rolle des Hauspersonals beim Spracherwerb und unterstreichen ebenfalls, dass in asiatischen Gesellschaften die durch Verwandte und Hauspersonal erweiterte Familie zur Tradition gehört und dadurch die Sprachverteilung ganz anders gestaltet sein kann.

      Die Konstellation Familiensprache ≠ Umgebungssprache kann ihrerseits zur Folge haben, dass das Kind mit der Umgebungssprache erst verspätet in Kontakt kommt. Zudem kann bei dieser Konstellation die Gefahr bestehen, dass die Umgebungssprache einen erheblichen Druck auf die Sprache der gesamten Familie ausübt. Auf lange Sicht erscheint es in der Tat unmöglich, in der Kommunikation innerhalb der Familie die Umgebungssprache gänzlich zu vermeiden oder ein Kind von der Umgebungssprache fernzuhalten. Der autobiografische Roman von Hugo Hamilton The speckled people (2003) beschreibt das bilinguale und dann trilinguale Heranwachsen des Autors im Dublin der 1950er Jahre. Die Mutter war Deutsche und hatte einen irischen Ingenieur geheiratet. Der Vater, ein militanter irischer Nationalist, bestand darauf, dass seine Kinder Deutsch und Gälisch sprechen sollten. Das Englische verbot er ihnen. Nur beim Spielen mit anderen Kindern außerhalb des Hauses hatten sie Gelegenheit, Englisch zu erwerben. Doch auch dieses strenge und unnachgiebige Verbot konnte nicht verhindern, dass das Englische seinen Weg in die Familie fand und Hugo Hamilton zu einem bekannten, auf Englisch schreibenden Schriftsteller wurde.

      In der alltäglichen Praxis bilingualer Familien trifft man die Konstellation Familiensprache ≠ Umgebungssprache seltener an als die Verwendung beider Sprachen innerhalb des Familienverbandes, sei sie nun gemischt oder nach Personen getrennt. Deprez (1994) untersucht die Kommunikationsbedingungen in 532 bilingualen Familien, die in Frankreich leben und neben Französisch eine zweite Sprache verwenden: In 14,33 % der Familien wird nur Französisch, in 8,33 % wird nur die zweite Sprache, in allen anderen Familien werden beide Sprachen gesprochen. Dies wird von Hélot (2007, 66 f.) bestätigt: Drei Viertel der von ihr befragten Familien wendeten die Strategie eine Person → eine Sprache an. Die Mehrzahl der 93 von Barron-Hauwaert (2004, 180) befragten Familien mehrsprachiger Kinder wendet die Strategie eine Person → eine Sprache an.

      Vor allem dann, wenn es darum geht, eine Minderheitensprache an die nächste Generation weiterzugeben, wäre allerdings die Verteilung Familiensprache – Umgebungssprache wirksamer. Dies kann man zumindest aus De Houwers (2007) Befragung von 1778 bilingualen Familien in Belgien schließen. In den Familien wurde Niederländisch und eine von 73 anderen Sprachen gesprochen (Arabisch, Englisch, Französisch, Türkisch, usw.). Das Ziel der Befragung war herauszufinden, wie erfolgreich diese 73 Sprachen (Sprache X) jeweils an die Kinder weitergegeben wurden. Dabei wurde zwischen fünf Sprachverteilungen im Input der Eltern unterschieden (2007, 419): 1. Beide Elternteile sprechen nur die Sprache X; 2. ein Elternteil spricht nur die Sprache X, der andere die Sprache X und Niederländisch; 3. beide Elternteile sprechen die Sprache X und Niederländisch; 4. ein Elternteil spricht nur die Sprache X, der andere nur Niederländisch; 5. ein Elternteil spricht die Sprache X und Niederländisch, der andere nur Niederländisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest ein Kind in der Familie die Sprache X erwirbt, nahm von der ersten zur fünften Sprachverteilung deutlich ab (2007, 419): In der ersten Sprachverteilung lag sie bei 96,92 %, in der der zweiten bei 93,42 %, in der dritten bei 79,18 %, in der vierten bei 74,24 % und in der fünften nur noch bei 35,70 %. Zumindest im Hinblick auf die Weitergabe der Sprache, die nicht Umgebungssprache ist, war demnach die Strategie eine Person → eine Sprache (Sprachverteilung 4) weniger erfolgreich als die Strategie Familiensprache – Umgebungssprache (Sprachverteilung 1).

      Die Beispiele von Studien zum bilingualen Erstspracherwerb, die ich in den Kapiteln 4 und 5 besprechen werde, betreffen zum Großteil die Konstellation eine Person → eine Sprache. Der 1961 in Paris geborene Sänger und Musiker Manu Chao ist hingegen ein beeindruckendes Beispiel für die erfolgreiche Anwendung des Prinzips Familiensprache ≠ Umgebungssprache. Seine Eltern, ein galicischer Journalist und eine baskische Künstlerin, waren wegen des Regimes von General Franco nach Frankreich emigriert. In der Familie, die ein bedeutender Treffpunkt lateinamerikanischer Intellektueller, Schriftsteller und Musiker war, wurde konsequent Spanisch gesprochen. Außerhalb der Familie, auf den Straßen der Pariser Vororte, wo Manu Chao und sein jüngerer Bruder ihre späteren Bandmitglieder kennenlernten, fand die Kommunikation natürlich auf Französisch