Stefan Schneider

Bilingualer Erstspracherwerb


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sein Sohn Louis im Alter von 2;2 französischsprachige Anweisungen der Verwandten an die deutschsprachige Köchin weitergibt. Louis scheint sogar Gefallen daran zu finden, dem Vater auf Französisch die deutschsprachigen Äußerungen der Mutter zu verdeutlichen. Im Alter von 11;6, während eines Urlaubs in Sardinien, verfasste meine Tochter Emma ein mit Zeichnungen und Texten ausgestattetes Tagebuch und entschied ganz von selbst, dieses durchgehend zweisprachig zu gestalten. Bilinguale Kinder mögen es allerdings gar nicht, wenn ihre beiden Sprachen von Erwachsenen auf die Probe oder zur Schau gestellt werden. Bei solchen Gelegenheiten übersetzen sie nur ungern.

      3 Fragestellungen, Hypothesen und Methoden

      3.1 Fragestellungen

      Sprache kann aus vielen Blickwinkeln betrachtet werden. Ein Blickwinkel, der in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewann, ist die Betrachtung der Sprache als Abbild oder Spiegelbild der psychischen und mentalen Zustände eines Individuums. Diese Sichtweise bewog viele Linguisten und Linguistinnen dazu, von der Sprachstruktur Rückschlüsse auf die kognitiven Strukturen der Sprecher und Sprecherinnen anzustellen und dadurch in die Psychologie und später auch in die Neurologie vorzudringen. Noam Chomsky, der einflussreichste Linguist des zwanzigsten Jahrhunderts, unterstrich in seinen Arbeiten wiederholt, dass die Sprachwissenschaft ein Teilgebiet der Psychologie bzw. der Kognitionsforschung sei (Chomsky 1972, 1; Siebert-Ott 2001, 27). Spätestens ab diesem Zeitpunkt konnte man von den Brückendisziplinen Psycholinguistik und Neurolinguistik sprechen. Das Hauptinteresse der Psycholinguistik galt lange Zeit dem Spracherwerb und der Kindersprache schlechthin. Eine wiederholt aufgeworfene Frage war diejenige nach den universellen Charakteristiken und Eigenschaften der Kindersprache, die auf allen Kindern gemeinsame mentale Strukturen und Entwicklungsprozesse hinweisen könnten. Diese Charakteristiken stehen im Gegensatz zu partikulären Erscheinungen, die auf strukturelle Gegebenheiten der jeweiligen Einzelsprache zurückzuführen sind und keine allgemeine mentale Basis haben. Noam Chomsky ging sogar soweit, von einer Universalgrammatik zu sprechen. Nach dieser Annahme hätten alle Sprachen eine Reihe von gemeinsamen grundlegenden Eigenschaften. Diese wären der direkte Ausdruck eines angeborenen Sprachinstinkts. Das war der Punkt, an dem man sich der wenigen existierenden Studien über bilinguale Kinder entsann und darin Anhaltspunkte für universelle Prozesse und Mechanismen des Spracherwerbs suchte. Die daraufhin einsetzende Welle von Forschungsarbeiten über den bi- und multilingualen Spracherwerb bezweckte, diese Prozesse und Mechanismen zu erschließen, entwickelte jedoch bald eine Eigendynamik, durch die sich ein viel weiteres Feld an Fragestellungen eröffnete. In den folgenden Seiten werde ich diese Fragestellungen kurz vorstellen.

      Eine von Eltern wie von Wissenschaftlern oft gestellte Frage ist natürlich, ob es Unterschiede zwischen dem monolingualen und dem bilingualen Spracherwerb gibt. Der Vergleich mit den Sprachkompetenzen einsprachiger Kinder bewegt Eltern, Lehrpersonen und andere Beteiligte in besonderem Maße. Aber auch in der Forschung ist er gegenwärtig. Schon Ronjat (1913) und Leopold (1939–1949) gehen zum Beispiel wiederholt auf die Frage ein, wie ihre Kinder gegenüber gleichaltrigen einsprachigen Kindern im Hinblick auf das Sprachvermögen einzustufen sind. Das hat damit zu tun, dass man damals von der impliziten Annahme ausging, die Bilingualität sei ein gegenüber der monolingualen Norm abweichendes Phänomen, das einer speziellen Rechtfertigung bedürfe. Heutzutage ist der Aspekt des Vergleichs natürlich noch immer präsent, er dient jedoch nicht zur generellen Beurteilung von Bilingualität, sondern als empirische Methode, um im Spracherwerbsprozess die spezifisch bilingualen Phänomene aus den allgemeinen Erscheinungen herausfiltern zu können. Nur wenn man den monolingualen Spracherwerb mit betrachtet, kann man zum Beispiel erkennen, ob bestimmte Äußerungen eines bilingualen Kindes durch Einfluss der anderen Erstsprache entstanden sind oder eine im monolingualen Spracherwerb ganz normale Erscheinung darstellen. Ähnliches gilt für die Frage nach dem Ablauf und den Entwicklungsphasen frühkindlicher Zweisprachigkeit. Diese ist auch in der Forschung zum Erstspracherwerb ein wichtiges Thema.

      Das Thema des sprachlichen Inputs und seines Einflusses ist in vielen Studien gegenwärtig. Es geht nicht nur um die Validität der durch Ronjat (1913) bekannt gewordenen Konstellation eine Person → eine Sprache, also des Prinzips der strikten Inputtrennung, sondern beispielsweise auch darum, wie viel Input nötig ist, um eine gelungene Zweisprachigkeit sicher zu stellen. Mit der Quantität und Qualität des Inputs ist die Frage nach der Ausgewogenheit der Kompetenzen in den beiden Sprachen und nach der eventuellen Dominanz einer der beiden Sprachen verbunden. Des Weiteren tritt hier die Problematik zu Tage, wie sich ein plötzlicher Abbruch oder Wechsel des Inputs auf die bilinguale Kompetenz auswirkt.

      Trennung oder Nichttrennung des sprachlichen Inputs werden häufig mit der Frage in Beziehung gesetzt, wann, warum und in welcher Form Sprachmischung stattfindet. Die Sprachmischung gehört zur Natur der Bilingualität (Bolonyai 2009, 259). Sie zeichnet erwachsene fließende Sprecher und Sprecherinnen von zwei Sprachen genauso aus wie Kinder, die gerade im Begriff sind, zwei Sprachen zu erwerben. Die Sprachmischung bei bilingualen Erwachsenen wird im Allgemeinen wohlwollend und als Ausdruck ihrer ausgezeichneten Kompetenzen in beiden Sprachen gewertet. Ganz anders sehen Lehrpersonen, besorgte Eltern und Laien die Sprachmischung in der frühkindlichen Zweisprachigkeit. Das vermeintlich unsystematische und gegen alle Regeln verstoßende Mischen der Kinder wird als nachteilige Auswirkung des bilingualen Erstspracherwerbs interpretiert. In der neueren linguistischen Forschung wird Sprachmischung hingegen als nützliche Strategie gesehen, mit deren Hilfe sich bilinguale Kinder und Erwachsene effektiver ausdrücken können (Bolonyai 2009, 253 f.). Die Sprachmischung wird durch die Interaktion mehrerer Faktoren verursacht. Einer davon ist sicherlich die Sprachmischung in der Sprache der Personen, mit welchen die bilingualen Kinder Kontakt haben. Die Frage, ob Sprachmischung im Input die Ursache für Sprachmischung bei bilingualen Kindern sein kann, ist allerdings empirisch kaum zu beantworten, da es keine empirische Studie gibt und auch nie geben wird, in der die sprachliche Umgebung von bilingualen Kindern vollkommen frei von Sprachmischung ist. Wie wir in Abschnitt 2.4 gesehen haben, ist Mischung im elternsprachlichen Input die Regel und unvermeidlich. In vielen Fällen findet sie zudem unbewusst statt. Man kann sich höchstens fragen, ob die Intensität der Sprachmischung im Input mit derjenigen der bilingualen Kinder korreliert.

      Die Sprachmischung hängt zudem mit der Frage nach der Beziehung zwischen den beiden sich im Kind entwickelnden Sprachen zusammen. Diese Frage monopolisierte die Forschung ab den 1970er Jahren. Drei Optionen (Müller et al. 2011, 97–119; Patuto 2012, 57; Yip 2013, 123) wurden im Laufe der Jahrzehnte diskutiert: ein einziges, hybrides Sprachsystem in der Anfangsphase des Spracherwerbs; antithetisch dazu zwei vollkommen getrennte Sprachsysteme von Anfang an; sozusagen als Synthese getrennte Sprachsysteme mit beschränkter Interaktion. Während in den 1970er Jahren und Anfang der 1980er Jahre vor allem die erste Option ins Auge gefasst wurde, fand ab Mitte der 1980er Jahre die zweite Option die meisten Befürworter. Man diskutierte über den Zeitpunkt, ab dem bilinguale Kinder zwei getrennte und autonome Sprachsysteme aufbauen. Heute steht in erster Linie die dritte Möglichkeit zur Debatte (Serratrice 2013, 87). Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass gebrauchsbasierte und konstruktivistische Spracherwerbstheorien den Begriff des Systems als geeignete Kategorie zur Beschreibung der frühkindlichen Sprache prinzipiell in Frage stellen.

      Wenn man vom Input spricht, sollte man die in Abschnitt 2.5 angesprochene artifizielle Bilingualität nicht vergessen, also eine kommunikative Konstellation, in der sich die Eltern – beide oder nur ein Elternteil – konsequent in einer von ihnen sehr gut beherrschten Zweitsprache, also in einer Fremdsprache, an das Kind richten. Sie ist, wie wir gesehen haben, in der heutigen Zeit gar nicht so selten anzutreffen, wie Akinci, De Ruiter und Sanagustin (2004) zeigen. Die Entwicklung des Wortschatzes stellt im monolingualen wie auch im bilingualen Erstspracherwerb ein zentrales Forschungsthema dar. Im bilingualen Erwerb stellt sich zusätzlich die Frage nach den interlingualen Synonymen oder Äquivalenten. Verfügen bilinguale Kinder über Wörter in beiden Sprachen, die jeweils die gleiche Bedeutung haben? Wie und ab wann werden diese erworben? Werden diese Bedeutungen von den Kindern als gleich empfunden oder besteht die Übereinstimmung nur in der Erwachsenensprache? Die Beantwortung dieser Fragen hat Auswirkungen auf die eben angesprochene Diskussion über ein hybrides Sprachsystem, denn die Existenz von Äquivalenten ist