Группа авторов

Einführung in die Publizistikwissenschaft


Скачать книгу

stärker auf den verstehend-qualitativen Ansatz. Erklärung im Rahmen des verstehend-qualitativen Ansatzes wird u. a. durch Methoden wie „pattern matching“ oder „process tracing“ erreicht. Mit process tracing ist beispielsweise eine systematische „Kausalitätsrekonstruktion“ auf der Basis von sorgfältiger Kontextbeschreibung, dem Nachzeichnen von Entwicklungspfaden, der Identifizierung von chronologischen Etappenschritten und Kausalketten sowie dem theoriegeleiteten Aufzeigen von Verursachungsmechanismen und Auswirkungen gemeint (vgl. George/Bennett 2005; Jahn 2006; Muno 2009; Rohlfing 2009).

      Der vergleichenden Forschung geht es also um Erklärung. Das bezieht sich einerseits auf den Nachweis von Kausalbeziehungen zwischen Variablen zur Überprüfung von Theorien bzw. Hypothesen (variablenorientierter Ansatz), andererseits auf das verstehende Rekonstruieren ganzheitlicher Bedeutungsprozesse (fallorientierter Ansatz). Zusätzlich geht es natürlich auch um den Erwerb spezifischer Kenntnisse über die jeweiligen Mediensysteme und Medienkulturen. Gurevitch/Blumler (2003) betonen daher zu Recht, dass vergleichende Forschung immer einen „doppelten Nutzen“ erbringen sollte. Sie soll

      Doppelter Nutzen der Komparatistik: Kontextbedingte Unterschiede in den Untersuchungsgegenständen erklären und Mediensysteme verstehen

      nicht nur darauf abzielen, einen bestimmten Untersuchungsgegenstand zu erklären, sondern auch die unterschiedlichen Systeme, in denen er untersucht wird.

      |25◄ ►26|

      4 Fachinteresse am Vergleich

      Für das gewachsene Interesse lassen sich drei Gründe benennen, die

      1. Triebfeder: Wissenschaftssysteme und Mediensysteme sind global vernetzter geworden

      eng zusammenwirken. Erstens hat das Ende des Kalten Krieges die Ost-West-Spaltung beendet, Reisemöglichkeiten der Forscher erleichtert und das Interesse an internationalen Zusammenhängen neu stimuliert. Wissenschaftskongresse sind pluralistischer und Forschungsfördermöglichkeiten grenzüberschreitender geworden; neue Kommunikationstechnologien haben den weltweiten Austausch erleichtert; das World Wide Web hat den Zugang zu Daten und Wissensbeständen anderer Länder begünstigt. Nicht nur das Wissenschaftssystem, auch das Mediensystem ist globaler geworden. Dies hat das Bewusstsein für die Relevanz kultureller Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten erhöht. Die ökonomische und technologische Seite der Massenkommunikation ist weltweit vernetzt, wie die Transnationalisierung von Medienkonzernen

      2. Triebfeder: Führen transnationale Diffusionsprozesse zur Angleichung der Systeme?

      und Medienregulierungsfragen zeigt. Zweitens hat die Dynamisierung der internationalen Entwicklungen und die damit verbundenen Entgrenzungs- und Transformationserfahrungen den Operationsmodus des Vergleichens zu einer Dauernotwendigkeit gemacht. Gerade Prozesse gesellschaftlichen Wandels haben das Interesse am Vergleich befördert. Der Besorgnis über die Möglichkeit der Untergrabung nationaler Medienkulturen durch US-Einflüsse („Amerikanisierung“), Furcht vor der Aufweichung nationaler Kommunikationstraditionen durch den Einfluss der Europäischen Union („Europäisierung“) oder dem vermeintlichen Zwang zur Anpassung an die Erfordernisse der weltweiten Medienökonomie und Kommunikationstechnologie („Globalisierung“) begegnet die Publizistikwissenschaft mit international vergleichenden Studien. Die entscheidende Frage lautet hier, ob es im Zuge dieser Strömungen zu einer internationalen Konvergenz der Kommunikationsarrangements kommt oder ob nationale Distinktionen und ursprüngliche Identitäten aufgrund von Filter- und Resistenzreflexen erhalten bleiben. Neben Globalisierung und Transformation

      3. Triebfeder: Wie fördern oder hemmen Medien die demokratische Entwicklung in den Gesellschaften?

      spielt drittens die Demokratie eine Rolle. Die positive Rolle der Medien in Demokratisierungsprozessen osteuropäischer und ostasiatischer Transformationsgesellschaften hat die Komparatistik ebenso beflügelt wie die negative Rolle der Medien in etablierten Demokratien, wo ihnen bisweilen eine unzuträgliche Intervention in den politischen Prozess vorgeworfen wird. Unter welchen Bedingungen die Medien |26◄ ►27| eine förderliche oder hinderliche Rolle für die gesellschaftliche Entwicklung spielen ist eine Kernfrage der komparativen Kommunikationsforschung.

      5 Etablierungsprobleme des Vergleichs

      Es gibt eine Reihe von Hemmnissen, die der Herausbildung der komparativen Kommunikationsforschung als eigenständiger wissenschaftlicher Teildisziplin der Publizistikwissenschaft bislang im Wege standen: schwacher disziplinärer Status, schwache Wissenschaftsstrukturen, schwache Datenbasis und schwach entwickeltes Theorie- und Methodeninventar.

      Komparatistik ist „nur“ eine Forschungsstrategie und ohne eindeutigen Objektbezug

      Erstens handelt es sich bei der Komparatistik „nur“ um eine spezifische Strategie zum Erkenntnisgewinn, nicht um einen inhaltlich bestimmten Bereich wie etwa die Medienökonomie, Journalismusforschung oder Politische Kommunikation. Die international vergleichende Forschungsstrategie ist vor allem durch Verfahrensfragen der Analysenlogik und Fallauswahl gekennzeichnet, nicht durch die Festlegung auf ein spezifisches Formalobjekt. Vergleichen lässt sich prinzipiell alles — egal auf welchen Gegenstand der Lasswell-Formel (Kommunikator, Aussage, Medium, Rezipient, Wirkung) oder welche Analyseebene der Mikro-Meso-Makro-Logik (Akteure, Organisationen, Systeme) es bezogen ist. Der fehlende Objektbezug erschwerte bislang die Herausbildung einer eigenen Identität.

      Kleine Fachgemeinde, labile Wissenschaftsstrukturen

      Zweitens ist der Kreis der Publizistikwissenschaftler, die sich kontinuierlich und systematisch mit dem Vergleich beschäftigen, weiterhin klein. Da es innerhalb dieser kleinen, lose verbundenen Gruppe nur wenig koordinierte Zielvorstellungen und konsentierte Qualitätskriterien für die komparative Kommunikationsforschung gibt, konnte sie sich noch nicht als vollwertige Subdisziplin institutionalisieren. Die Entwicklung einer stärkeren „Personaldecke“ sowie die Durchsetzung leistungsfähiger Strukturen, verlässlicher Gütekriterien und Methodenstandards bleiben zentrale Herausforderungen der nächsten Jahre (vgl. Saxer 2008).

      Mangel an globalen Daten

      Drittens sind die für harte Kausalnachweise notwendigen grossen Länderstichproben in der komparativen Kommunikationsforschung immer noch Zukunftsmusik. Es fehlen unserem Fach die Kapazitäten |27◄ ►28| zum Aufbau umfassender, wahrhaft globaler Datensätze. Dies ist in der Politikwissenschaft anders, weil sich dort internationale Organisationen (Freedom House, World Bank, OECD, Eurostat etc.) oder Forschergruppen (Polity IV, Polyarchy, Party Policy, World Values Survey etc.) seit Jahrzehnten am Aufbau von systematischen Datensätzen mit 170 Ländern und mehr beteiligen. Ohne eine solche unterstützende Infrastruktur stossen auf sich allein gestellte Medienforscher rasch an ihre Grenzen. Wo Grossprojekte ausnahmeweise möglich wurden, hatten sie mit gravierenden Strukturschwächen zu kämpfen — insbesondere mit Koordinations- und Integrationsproblemen sowie mit Äquivalenz-und Validitätsproblemen (vgl. dazu Stevenson 2003; Esser 2004; Wilke 2008).

      Mangel an adäquaten theoretischen Modellen und methodischen Verfahren

      Viertens sind die für harte Kausalnachweise notwendigen theoretischen Modelle und methodischen Auswertungskompetenzen noch unterentwickelt. Zur Beantwortung der Kernfrage, inwiefern verursachende Faktoren des Kommunikationskontextes einen charakteristischen Einfluss auf das Kommunikationsprodukt haben, nimmt die Komparatistik eine klare Trennung zwischen dem Untersuchungsgegenstand und seinen Rahmenbedingungen vor. Der Komparatist variiert durch den Ländervergleich die makrosozialen Rahmenbedingungen und zieht dann Schlussfolgerungen darüber, wie sich dies auf den Untersuchungsgegenstand auswirkt. Solche Schlussfolgerungen von Bedingungen der Makroebene auf die Mikroebene sind allerdings

      Mehrebenen-Problematik in der Komparatistik

      problematisch, weil sie (durch den Sprung über Analyseebenen hinweg) zu unzulässigen Kausalbehauptungen führen können. Für dieses Problem, das in der Literatur als „ökologischer Fehlschluss“ bezeichnet wird, bedarf es anspruchsvoller Lösungen: Sie betreffen Theorie und Methode. Zum einen müssen Mehrebenenheuristiken entwickelt werden, die solche schichtenübergreifenden Analysen theoretisch rechtfertigen (siehe weiter unten); zum anderen müssen Mixed Methods Designs, Triangulation