Markus Öhler

Geschichte des frühen Christentums


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und das judäische Volk / Fiscus Iudaicus)

      In der Stadt Jerusalem wurde währenddessen die Legio X Fretensis stationiert und Judäa zu einer eigenständigen Provinz unter der Leitung des Legionskommandanten gemacht. Der römische Kaiser Vespasian sowie sein Sohn und Nachfolger Titus propagierten den Sieg über die Judäer durch eigene Münzprägungen, die u. a. dazu dienen sollten, andere Völker von Aufständen abzuschrecken. Auch der Triumphzug des Titus, der auf dem Titusbogen in Rom dargestellt ist, rückte die Unterwerfung der Judäer in die Mitte des öffentlichen Bewusstseins. Die Judäer wurden vonseiten des römischen Staates nun als Gesamtheit für den Aufstand verantwortlich gemacht, obwohl sich die Diaspora nicht daran beteiligt hatte. Es wurde eine Sonderabgabe, die ausschließlich Angehörige des judäischen Volkes zu zahlen hatten, der fiscus Iudaicus eingeführt (s. u. 3.7.2). Auch der JHWH-Tempel im ägyptischen Leontopolis wurde 71 n. Chr. geschlossen (Josephus, bell. 7,433–436).

      3.5.3 Der zweite Aufstand (132–135 n. Chr.)

      (Simon bar Kochba / Aelia Capitolina)

      Der nach dem Anführer der Judäer benannte Bar-Kochba-Aufstand setzte im Jahr 132 n. Chr. ein. Als Anlass ist die Neugründung Jerusalems durch Kaiser Hadrian als Aelia Capitolina anzusehen. Diese war außerdem mit dem Bau eines Jupitertempels verbunden (Cassius Dio, hist. 69,12). Simon bar Kochba wurde zum Anführer des Aufstandes. Er wurde als Messias angesehen (yTaan 4,8 fol. 68d) und bezeichnete sich selbst als Fürst Israels (nasi). Über den Verlauf des Aufstands ist nicht viel bekannt. So ist unklar, ob die Aufständischen Jerusalem eroberten, den Tempelkult wieder begannen oder auch in Galiläa kämpften. Nach knapp vier Jahren wurde die Rebellion aber blutig niedergeschlagen. Die Bevölkerung wurde versklavt, die Städte der Region zerstört. Jerusalem wurde zur römischen Colonia Aelia Capitolina, Judäern das Betreten der Stadt verboten.

      (Rabbi)

      Nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 n. Chr. sowie der Tötung bzw. Versklavung großer Teile der Bevölkerung musste sich das Judentum neu konstituieren. Nicht nur die letzten Reste politischer Selbstständigkeit, die bis zum ersten Aufstand durch das Synhedrion verwaltet worden waren, sondern vor allem die Orientierung am Jerusalemer Heiligtum mit seinem Kult war verloren gegangen. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich daher u. a. aus der pharisäischen Gruppierung und den Schriftgelehrten eine neue Richtung innerhalb des Judentums, die nach den Titeln ihrer Lehrer („Rabbi“) als rabbinische Bewegung bezeichnet wird. Sie rückte statt des verlorenen Tempelkults die Tora in das Zentrum der jüdischen religiösen Identität. Deren Auslegung und Anwendung, vor allem hinsichtlich der Reinheits- und Speisevorschriften, sollte Israel zum heiligen Volk werden lassen.

      (Die Rabbinerbewegung)

      Obwohl die Überlieferungen in den rabbinischen Schriften (Mischna, Talmud, Tosefta, Midraschim) einen anderen Eindruck erwecken, war die rabbinische Bewegung nicht von Beginn an dominierend. Allerdings waren die Rabbinen dort, wo Fragen um judäische Identität und Grenzziehung zu anderen Formen des Judentums diskutiert wurden, offenbar von großem Einfluss. Hinter der polemischen Darstellung der Pharisäer und Schriftgelehrten in den Evangelien (v. a. Mt 23) lässt sich diese Konfrontation noch erahnen. Prägende Gestalten der frühen „formativen“ Phase der rabbinischen Bewegung waren Jochanan ben Zakkai, Gamaliel II., Aqiva und Jischmael. Das erste Zentrum war in Javne/Iamnia an der Mittelmeerküste, nach 135 n. Chr. im galiläischen Usha.

      Der weitaus größere Teil des judäischen Volkes lebte nicht in Palästina, sondern in der Diaspora („Zerstreuung“). Seit dem babylonischen Exil waren Judäer und Judäerinnen im Zweistromland präsent, mit der Hellenisierung sowie nach der römischen Eroberung Judäas durch Pompeius (63 v. Chr.) verbreitete sich das judäische Volk in weiten Bereichen des Mittelmeerraums. Dies setzte sich nach den beiden Aufständen weiter fort.

      (Juden und Nicht-Juden)

      Die Verhältnisbestimmung zur nicht-jüdischen Umgebung reichte von strengster Abgrenzung (Antagonismus) über die verbindende Aufnahme hellenistisch-römischer Kultur (Akkulturation) bis zur vollständigen Aufgabe judäischer Identität (Assimilation). Die Orientierung an Identitätsmerkmalen des Judentums wurde anhand unterschiedlich gewichteter Kriterien gestaltet. Dazu gehörten die Einhaltung des Sabbats und der Speise- bzw. Reinheitsgebote, die Beschneidung, die Beschränkung von Heirat auf Judäer und Judäerinnen (Endogamie), die Mitgliedschaft in lokalen Synagogen und die bilderlose Verehrung des einen Gottes (s. o. 3.1.4).

      (Assimilation / Akkulturation / Antagonismus)

      Ein Beispiel für vollständige Assimilation ist Tiberius Julius Alexander, ein Neffe Philos von Alexandrien. Er machte innerhalb des römischen Heeres Karriere und war u. a. Prokurator von Judäa (46–48 n. Chr.), Statthalter von Ägypten (66–69 n. Chr.) und an der Belagerung Jerusalems (70 n. Chr.) beteiligt. Sein Onkel Philo hingegen repräsentiert mit seiner philosophischen Durchdringung jüdischer Kultur sowie seinem politischen Kampf um eine Integration des Judentums in das griechische Bürgertum Alexandriens den Versuch, bei entschiedener Bewahrung judäischer Identität diese mit hellenistischer Bildung und Kultur zu verbinden (vgl. auch 4Makk). Die strenge Abgrenzung zur nicht-jüdischen Umgebung schließlich zeigte sich u. a. in sozialen Bereichen, etwa durch die Trennung von Nicht-Juden bei Mählern oder durch Endogamie. In Texten aus der Diaspora wie der Weisheit Salomos (Sapientia Salomonis), dem 3. Makkabäerbuch, den jüdischen Bestandteilen der sibyllinischen Orakel oder dem Bekehrungsroman „Joseph und Aseneth“ wurde dies literarisch ausgearbeitet, teils mit schärfster Polemik gegen andere Völker.

      3.7.1 Lokale Entwicklungen in der Diaspora

      (Judentum in Ägypten)

      Geographisch lassen sich einige Regionen hervorheben, in denen judäische Minderheiten besonders stark vertreten waren: In Ägypten stellte das judäische Ethnos schon seit dem 6./5. Jh. v. Chr. eine auch zahlenmäßig bedeutende Bevölkerungsgruppe dar, die in der frühen Kaiserzeit trotz ihrer Größe – Philo spricht von einer Million Judäern in Ägypten (Flacc. 43) – eine komplizierte gesellschaftliche Stellung innehatte. Seit den Ptolemäern waren die Judäer in sog. Politeuma organisiert, also in ethnisch strukturierten Einheiten mit begrenzter Selbstverwaltung, und galten als Bürger. In römischer Zeit verschlechterte sich diese soziale Stellung, da die Judäer zwischen der autochthonen Bevölkerung, den eigentlichen Ägyptern, und den Griechen und Römern standen. Die Spannungen führten zu Pogromen (38 n. Chr.) und zum Diasporaaufstand (115–117 n. Chr.; s. u. 3.7.3). In der Kyrenaika (Nordafrika) bestand ein weiteres Zentrum des Diasporajudentums mit ähnlichen Bedingungen wie in Ägypten.

      (Judentum in Syrien)

      In Syrien mit seiner Hauptstadt Antiochien blieben Judäer seit frühhellenistischer Zeit weitgehend unbehelligt. Josephus berichtet sogar von einer besonderen Attraktivität des Judentums in dieser Region (bell. 7,45). Diese ruhige Lage wurde durch den ersten Aufstand in Judäa kurzzeitig unterbrochen (bell. 7,46–62), konnte aber anschließend wiederhergestellt werden.

      (Judentum in Kleinasien und Griechenland)

      In Kleinasien und Griechenland galt dies noch viel mehr: Das Verhältnis zwischen den judäischen Minderheiten und der nicht-jüdischen Mehrheitsbevölkerung war, abgesehen von kleineren Unstimmigkeiten über die Tempelabgaben, unproblematisch. Es wurde zusätzlich durch rechtliche Regelungen der Römer abgesichert (ant. 14,185–267; 16,160–178). Das ökonomische Aufblühen Kleinasiens durch die Pax Romana trug dazu bei, etwaige Spannungen abflauen zu lassen. Weder die beiden Aufstände in Judäa noch jener in Ägypten, der Kyrenaika und auf Zypern wurde von den judäischen Gemeinden Syriens, Kleinasiens oder Griechenlands unterstützt.

      (Judentum in Rom)

      Wie alle anderen Völker des Mittelmeerraums stellten auch die Judäer eine Minderheit in der Bevölkerung der Stadt Rom. Spätestens im 1. Jh. v. Chr. konnten die Judäer politisch nicht mehr