Markus Öhler

Geschichte des frühen Christentums


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wollen überhaupt nichts vom Schicksal wissen und glauben, es gibt weder ein Schicksal, noch richte sich des Menschen Geschick danach, sondern alles geschehe nur nach unserem Willen, sodass wir ebenso die Urheber unseres Glückes seien, als wir auch unser Unglück uns durch unseren eigenen Unverstand zuzögen.“ (Übersetzung nach H. Clementz, Jüdische Altertümer, Wiesbaden 2004 [1899], 610.)

      Zum richtigen Verständnis dieser Gruppierungen ist allerdings zu beachten, dass die meisten Judäer und Judäerinnen nicht zu ihnen gehörten, sondern zu jenem breiten Strom des antiken Judentums, der sich an den zentralen Elementen judäischer Identität (s. o. 3.1) orientierte und versuchte, sein Leben nach diesen auszurichten.

      3.2.1 Sadduzäer

      (Sadduzäer)

      Die Sadduzäer, die sich auf den Priester Zadoq als ihren Ahnherrn (2Sam 8,17; 15,24–29) beriefen, stellten den Großteil der Jerusalemer Eliten (Josephus, bell. 2,166; ant. 13,297). Sie waren konservativ orientiert und hielten den in der Tora festgelegten Willen Gottes für die einzige bindende Vorgabe zu einem Leben im Bund. Die mündliche Überlieferung zur Toraauslegung war für sie daher unbedeutend (ant. 18,16). Die Sadduzäer betonten die Eigenverantwortlichkeit des Menschen (ant. 13,173; bell. 2,164) und den Tun-Ergehen-Zusammenhang der altisraelitischen Weisheitsliteratur: Gott werde dafür sorgen, dass es jenen, die seinen Willen tun, gut gehe, während jene, die diesen nicht tun, sich letztlich selbst schadeten. Die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod und die Auferstehungshoffnung lehnten sie daher auch ab (Mk 12,18; Apg 23,8; Josephus, bell. 2,165). Im Neuen Testament begegnen sie in der synoptischen Tradition als Gegner Jesu (Mk 12,18–27 par; Mt 16,1–12; vgl. Mt 3,7) sowie in der Apostelgeschichte als Feinde der Christusgläubigen (Apg 4,1–3; 5,17; 23,6–8).

      3.2.2 Pharisäer

      (Pharisäer)

      Die Pharisäer waren die religiösen und politischen Gegenspieler der Sadduzäer, was vor allem damit zusammenhing, dass sie den engen Konnex von Herrschaft und Kult ablehnten, der sich seit der Herrschaft des Hasmonäer vor allem unter Johannes Hyrkan I. (135–104 v. Chr.) etabliert hatte. Wichtig war ihnen neben der Tora auch die mündliche Auslegung, „die väterlichen Überlieferungen“ (Gal 1,14; Mk 7,3–5; Josephus, ant. 13,297f.), die die Lebbarkeit der Gebote Gottes im Alltag sichern sollte. Die Heiligung Israels durch ursprünglich nur für Priester vorgesehene Reinheits- und Speiseregeln (vgl. Mk 7,3–5) sollte dazu führen, dass das gesamte Land zum Heiligtum Gottes wird (vgl. Ex 19,6). Zudem wird den Pharisäern eine besonders genaue Kenntnis der Tora zugeschrieben (bell. 1,110; ant. 17,41; vita 191). Der Glaube an eine postmortale Existenz (bell. 2,163; Apg 23,8) zeichnete sie ebenso aus wie die Überzeugung, dass das menschliche Geschick zum Teil vorherbestimmt, zum Teil selbst gewählt sei (bell. 2,163; ant. 13,172).

      (Pharisäer nach 70 n. Chr.)

      Es handelte sich bei den Pharisäern um eine reformerische Laienbewegung, die in Judäa und Galiläa relativ weit verbreitet war und vor allem in städtischen Schichten jenseits der herrschenden Eliten ihre Anhänger hatte. Die Pharisäer hatten allerdings durchaus auch politischen Einfluss. Inwieweit in der Phase der Neuorientierung des Judentums nach der Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) die pharisäische Richtung zur entscheidend prägenden Kraft wurde, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Sie spielen in der rabbinischen Literatur eine überraschend geringe Rolle, doch sollte der Einfluss pharisäisch geprägter Traditionen auf die rabbinische Bewegung auch nicht unterschätzt werden. Sowohl mit der Jesusbewegung als auch mit dem frühen Christentum standen Pharisäer in wechselseitigen und polemisch geführten Auseinandersetzungen (vgl. z. B. Mt 23,1–36), die vor allem durch die ideologische Nähe bedingt waren. Aber auch von christusgläubigen Pharisäern ist die Rede (Apg 15,5), und Paulus beschreibt sich selbst als Pharisäer (Phil 3,5).

      3.2.3 Essener und die Qumrangemeinschaft

      (Essener)

      Die Essener werden von Josephus (bell. 2,119–161; ant. 13,171–173; 15,371–379; 18,18–22) und Philo von Alexandrien (prob. 72–87; apol. bei Euseb, praep. ev. 8,11,1–18) als jüdische Gemeinschaft beschrieben, in der hellenistische Ideale vorbildlich umgesetzt waren und jüdisch-hellenistische Philosophie gepflegt wurde (vgl. auch Plinius d. Ä., nat. hist. 5,73). Die strikte Einhaltung der Vorschriften der Tora, Enthaltsamkeit, gemeinschaftiches Leben, Gemeinschaftsbesitz und Distanz zum Tempelkult waren nach diesen Darstellungen u. a. Kennzeichen der Essener. Ihre etwa 4000 Mitglieder sollen in kleinen Vereinigungen über ganz Judäa verteilt gelebt haben. Josephus erwähnt zudem ein Essener-Tor in Jerusalem (bell. 5,145).

      (Der Ort Qumran)

      Die Mehrheit der Forschung setzt die Essener mit jener Bewegung gleich, die sich aus Texten rekonstruieren lässt, die in elf bzw. zwölf Höhlen in Qumran unweit von Jericho gefunden wurden. Die bauliche Anlage von Qumran, bestehend aus einer Siedlung mit Reinigungsbädern, Versammlungs- und Wirtschaftsräumen sowie Friedhöfen mit über 1100 Gräbern, wurde im Jahr 68 n. Chr. zerstört. Die Interpretation des Ortes als Zentrum einer religiösen Gemeinschaft hängt eng mit den entdeckten Schriften zusammen.

      (Texte von Qumran)

      Die ca. tausend zumeist fragmentarischen Texte aus den Höhlen von Qumran stammen zum weitaus größeren Teil nicht aus der „essenischen“ Gemeinschaft. Die meisten sind Abschriften von Bibeltexten oder frühjüdischen Büchern. Allerdings lässt sich aus einigen Schriften eine religiöse Gruppe mit einem spezifischen Profil erkennen. Unter den gefundenen Manuskripten finden sich Gemeinderegeln (1QS, 1QSa, 1QSb; vgl. auch CD), exegetische Schriften, die als Pesharim bezeichnet werden, weisheitliche und poetisch-liturgische Texte. Die Gemeinschaft bezeichnete sich selbst als jahad („Vereinigung“) oder „Neuer Bund“.

      (Qumran-Judentum)

      Die Ansichten des jahad von Qumran orientierten sich an einem dualistischen und deterministischen Weltbild. Die Auferstehungsvorstellung ist hier ebenso zu finden wie die Forderung radikaler Einhaltung der Toravorschriften. Die Gemeinschaft stand mit der zeitgenössischen Tempelführung ebenso in scharfem Konflikt wie mit den Pharisäern. Reinheitsfragen und die Einhaltung des solaren Kalenders waren ihr besonders wichtig. Als der letzte treue Rest Israels erwartete sie für die nächste Zukunft eine entscheidende kriegerische Auseinandersetzung, die Israel zu neuer Größe führen würde, sowie zwei Messiasse, einen priesterlichen und einen königlichen.

      (Qumran und frühes Christentum)

      Im Neuen Testament werden die Essener bzw. Qumran nicht erwähnt. Versuche, einzelne Figuren der frühchristlichen Tradition wie Johannes den Täufer, Jesus, Paulus oder Jakobus mit dieser Gruppe zu verbinden, haben sich nicht bewährt. Das Schweigen frühchristlicher Texte bedeutet allerdings nicht, dass nicht in einzelnen theologischen Perspektiven sowie religiösen Praktiken eine Nähe zu dieser besonderen Form des Judentums bestand. Erwogen wird dies u. a. für das Johannesevangelium, einzelne Paulustraditionen oder auch für Teile der synoptischen Überlieferung.

      3.2.4 Apokalyptische Bewegungen

      (Apokalyptik)

      Im Judentum entwickelten sich ab dem 3. Jh. v. Chr. eine Reihe von unterschiedlichen apokalyptischen Erwartungen, die in einer großen Zahl von Schriften festgehalten wurden, deren Verfasser sowie Trägergruppen sich allerdings nicht genau bestimmen lassen. Die moderne Bezeichnung „Apokalyptik“ geht auf Apk 1,1 zurück, wo die Enthüllung der Endzeit als άποκάλυψις/apokalypsis bezeichnet wird. Zumeist wollen apokalyptische Schriften allerdings Einblicke vermitteln, die sich nicht nur auf die Zukunft, sondern auch auf Vergangenheit und Gegenwart beziehen.

      (Apokalyptische Ansichten)

      Es handelt sich grundsätzlich um Literatur, die der Lebensbewältigung dienen will: Da die bedrängenden Umstände – soziale Probleme, die Bedrückung durch fremde Mächte oder auch Naturkatastrophen – nicht selbst umgestaltet oder verhindert werden können, wird auf das nahe Eingreifen Gottes verwiesen, mit dem die Verhältnisse endgültig zum Positiven geändert werden. Das Ziel der apokalyptischen Botschaft ist die Bewältigung dieser unheilvollen Gegenwart bei Beibehaltung des Glaubens an einen gerechten und geschichtsmächtigen Gott. Dessen früheres und gegenwärtiges Handeln in der Welt zu enthüllen, vor allem aber Gottes Pläne zu offenbaren, ist Anliegen