Wahrnehmung der aufstrebenden asiatischen Mächte, allen voran China und Indien, geführt. Auch die afrikanischen Staaten, von denen die meisten zwar bereits um 1960 die Unabhängigkeit erlangt hatten, haben in den 1990er Jahren eine Renaissance erlebt. Die Globalisierung führt also keinesfalls geradewegs in einen einheitlichen Weltstaat. Vielmehr scheint es fast so zu sein, dass die Aufweichung der bisherigen machtpolitischen Grenzen die Vielfalt gefördert hat. Jedenfalls scheinen die Globalisierung von Wirtschaft und Kommunikation sowie der größer werdende Druck, sich auch im politischen Bereich international zu verständigen, nicht zur Nivellierung von Differenzen zu führen, sondern umgekehrt gerade die Besinnung auf eigene Traditionen, auf eigene Erfahrungen und auf eigene Weltverständnisse von neuem zu ermöglichen (und zu erfordern).
In der Philosophie gilt etwas Ähnliches. Die modernen Kommunikationstechniken haben es zweifellos einfacher gemacht, sich von überall auf der Welt am internationalen Diskurs der Philosophie zu beteiligen und Kenntnisse und Ideen untereinander auszutauschen. Das hat aber nicht einseitig dazu geführt, dass nun überall auf der Welt an den gleichen Konzepten gearbeitet und über die gleichen philosophischen Probleme nachgedacht wird. Vielmehr melden sich zunehmend viele eigenständige Stimmen zu Wort, die sich auf nicht-europäische und nicht-westliche Erfahrungstraditionen berufen und Philosophien entwerfen, die sich nicht in den Bedeutungsrahmen der europäisch-westlichen Philosophietradition einfügen. Will man diese Stimmen nicht einfach ignorieren und sich auf eine Position zurückziehen, die sagt, dass alles, was sich nicht in den Rahmen der europäisch-westlichen Philosophie (einschließlich ihres fortlaufenden, die eigene Tradition darin aber fortsetzenden Wandels) einfügt, eben keine Philosophie sei, dann muss die Philosophie selbst interkulturell werden.
Freilich melden sich hier entschiedene, und das heißt in diesem Zusammenhang philosophische Bedenken. Philosophie ist nicht einfach mit einer bestimmten Tradition des Denkens gleichzusetzen. Dann wäre die Existenz weiterer Philosophien selbstverständlich und ihre Wahrnehmung vergleichsweise unproblematisch. Was wir heute Philosophie nennen, meint aber nicht einfach die intellektuelle Tradition des Abendlandes, sondern die immer wieder neue Erfahrung und Ausarbeitung dessen, was HeraklitHeraklit als einer der Ersten als die Zusammengehörigkeit des Verschiedenen bezeichnet hat. Die Philosophie hebt im antiken Griechenland um 600 v. Chr. mit der Entdeckung an, dass die Vielfalt dessen, was uns in der Welt begegnet, auf seine Zusammengehörigkeit hin befragt werden kann und dass die Menschen lernen können, diese Zusammengehörigkeit zu sehen. Heraklit ist es auch, der diese Zusammengehörigkeit erstmals als ›Kosmos‹ in dem uns heute so geläufigen Sinn von ›Welt‹ bezeichnet. HeldHeld, Klaus, der diesen Zusammenhang herausgestellt hat, spricht darum im Anschluss an HusserlHusserl, Edmund von einer »Europäisierung der Menschheit«,1 die nicht darin liegt, dass die ›eine Welt‹ mit Europa gleichgesetzt wird, sondern darin, dass die Griechen die Welt als Einheit von Vielheit erkannt haben. Die von den Griechen entdeckte Welt ist gerade keine spezifisch griechische Welt, sondern meint das Zusammengehören all der verschiedenen kulturellen Lebenswelten, denen die Griechen damals begegnet sind. Die ›eine Welt‹ kann darum, griechisch gesehen, auch nur eine Idee sein. Die Philosophie übersteigt also gerade die bestehenden kulturellen Differenzen und zielt auf eine Zusammengehörigkeit, die die Differenzen nicht nivelliert und den verschiedenen kulturellen Lebenswelten ihr jeweiliges Recht belässt. Wenn die Philosophie den Schritt von den konkreten geschichtlichen Lebenswelten, in denen uns die verschiedenen Kulturen begegnen, zur einen universalen Welt geht, die nicht selber wieder geschichtlich konkret und damit auch nicht selber wieder kulturelle Lebenswelt ist, dann scheint es keinen Sinn zu machen, von einer interkulturellen Vielfalt von Philosophien zu sprechen. Diese Überlegungen müssen ernst genommen werden und dürfen keinesfalls vom Tisch gewischt werden, nur weil es aus anderen, zumeist politisch motivierten Gründen opportun erscheinen mag, jeder Kultur ihre eigene Philosophie zuzuerkennen. Die Philosophie macht ja gerade den Schritt über das Eigene hinaus zum Universalen oder schlicht zum ›Einen‹. Interkulturell wird die Philosophie deshalb nur – und muss es nur werden, wenn sie den Universalitätsanspruch der ursprünglich griechischen und seither europäisch-westlichen Philosophie aufrechterhalten und dennoch die Pluralität von ›Philosophien‹ zeigen kann, die ganz andere Erfahrungen thematisieren, aber ebenso Universalität und Weltcharakter beanspruchen können.
Die entscheidende Aufgabe interkultureller Philosophie lässt sich deshalb mit WaldenfelsWaldenfels, Bernhard als das Paradox einer »Universalisierung im Plural« bezeichnen.2
Wenn es gelingt, für die interkulturelle Dimension so etwas wie eine »Universalisierung im Plural« zu zeigen, dann gibt es in dieser Dimension gar keine Vielfalt mehr, die in einer Einheit zusammengehören könnte. Die Universalisierung lässt sich nicht nochmals auf eine weitere Universalisierung hin transzendieren. Interkulturell kann es dann also auch nicht um das Zusammenspiel von Einheit und Vielheit gehen. Das kann nur der europäisch-westliche Beitrag zum interkulturellen Gespräch sein. Stattdessen geht es in der interkulturellen Dimension um ein Gespräch zwischen verschiedenen ›Universalisierungen‹ oder, in der griechischen Tradition gesprochen, um ein Gespräch zwischen ›Welten‹. Es kann also nur dann gelingen, eine »Universalisierung im Plural« zu zeigen, wenn es gelingt, ›Welt‹ im Plural zu denken. Oder anders betont: Eine interkulturelle Philosophie brauchen wir nur dann, wenn ›Welt‹ grundsätzlich plural gedacht werden muss. Dann freilich muss die Philosophie um ihrer selbst willen interkulturell werden.
Wir werden das Phänomen der Welt, das die Griechen entdeckt haben, also neu bedenken müssen. Tatsächlich meint die griechische Entdeckung, die eigentlich selbst mehr eine Erfahrung denn eine Entdeckung ist (deshalb sprechen PlatonPlaton und AristotelesAristoteles vom ›Staunen‹ als dem Anfang aller Philosophie), zunächst schlicht die Entdeckung der Zusammengehörigkeit des Vielen. Diese Zusammengehörigkeit können wir als Welt bezeichnen, wenn wir nicht den Fehler machen, darunter etwas zu verstehen, in dem das Viele zusammengehört. Welt ist die Zusammengehörigkeit selbst; nichts davon Getrenntes. Gerade weil die Welt nicht ein umfassendes Seiendes ist, das alles andere in sich aufnimmt, sondern die tatsächliche Zusammengehörigkeit des konkret vorfindbaren Vielen, gerade deshalb ist sie ja universalisierbar. Immer gibt es ein Zusammengehören. Darin liegt noch nicht, dass dieses Zusammengehören immer dasselbe ist. Die Griechen entdecken gerade nicht ein spezifisches Zusammengehören (dann läge es in der Logik der griechischen Entdeckung, dass andere Kulturen andere Formen solchen Zusammengehörens entdecken und eigene Philosophien entwickeln), sondern sie entdecken, dass sich immer ein Zusammengehören finden lässt. Das Zusammengehören ist ein universales Prinzip, kein umfassendes Seiendes.
In diesem Sinne hat RombachRombach, Heinrich gezeigt, dass unsere Erfahrung von Welt davon abhängt, in welcher Zusammengehörigkeit uns die Dinge und Umstände begegnen, mit denen wir zu tun haben und die uns betreffen. Die Welt, die in der Erfahrung aufgeht, ist grundsätzlich situationsabhängig.3 Das aber nicht deswegen, weil die konkrete Situation eine bestimmte Perspektive auf die Welt bedingen würde, sondern weil Welt nichts von der Erfahrung der Zusammengehörigkeit Unterschiedenes ist. Sie geht an dieser Erfahrung und als diese Erfahrung auf. StengerStenger, Georg hat diese Überlegungen für die interkulturelle Philosophie fruchtbar gemacht. Wenn das Aufgehen von Welt davon abhängt, in welcher Zusammengehörigkeit wir die Dinge und Umstände erfahren, mit denen wir zu tun haben und die uns betreffen, dann heißt das, dass diese Erfahrung Welt konstituiert. Stenger spricht deshalb vom »Weltcharakter der Erfahrung«.4 Nun geht die griechische Erfahrung aber gerade nicht darin auf, eine bestimmte Form von Zusammengehörigkeit, die eine entsprechende Erfahrungswelt konstituiert, erfahren zu haben. Vielmehr liegt die griechische Erfahrung in der prinzipiellen Erfahrung, dass qua Zusammengehörigkeit Welt erfahren werden kann. Dadurch überschreitet diese Erfahrung ja die verschiedenen Erfahrungswelten auf die ›eine Welt‹ hin. Es handelt sich also eigentlich um eine Erfahrung von Erfahrung. Eine solche Erfahrung von Erfahrung ist keine Meta-Erfahrung, sie bezieht sich nicht reflexiv auf die Erfahrung; stattdessen gründet sie diese. Stenger spricht deshalb im Anschluss an Rombach von einer »Grunderfahrung«. In der Grunderfahrung geht die Idee der ›einen Welt‹ auf. Sie belässt den verschiedenen Lebenswelten ihr Recht, weil diese in einer anderen Erfahrungsdimension aufgehen. Von der Dimension der Grunderfahrung her gesehen, handelt es sich aber eben nur um Partikularwelten. In der Grunderfahrung wird die Zusammengehörigkeit der Partikularwelten erfahren und damit Welt als universale Idee jenseits