Niels Weidtmann

Interkulturelle Philosophie


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erhebt.

      Freilich bleibt auch die Hochkultur eine Kultur. Auch für die Grunderfahrung gilt, dass das Aufgehen der Welt als Idee an der Erfahrung hängt, die Grunderfahrung selbst also Weltcharakter besitzt. Für die Entwicklung der griechischen Kultur zu der Gestalt, in der sie bis heute für das europäisch-westliche Selbstverständnis von Bedeutung ist, war zweifellos die Entdeckung, dass Vieles grundsätzlich in seiner Zusammengehörigkeit gesehen werden kann, ein entscheidender Schritt. Sie hat das Weltverständnis der Griechen geprägt. Die Grunderfahrung von der prinzipiellen Zusammengehörigkeit des Vielen hat also tatsächlich selber Weltcharakter. Folglich gilt sie auch für alle anderen Kulturen. Diese sind aber ebenso Hochkulturen und gründen deshalb auf eigenen Grunderfahrungen. Die griechische Erfahrung von der ›einen Welt‹ ist in ihnen nicht kulturstiftend geworden. Umgekehrt gelten die Grunderfahrungen anderer Kulturen zwar ihrerseits für die europäisch-westliche Welt, haben ihren Weg aber nicht maßgeblich mitbestimmt. Der »Weltcharakter der (Grund-)Erfahrung«und mit ihm der Weltcharakter jeder einzelnen Kultur hängen nicht an der Erfahrung der ›einen Welt‹. Die Erfahrung der ›einen Welt‹ ist selber nur eine von vielen möglichen Grunderfahrungen, die jede für sich Weltcharakter haben. In dieser Einsicht liegt der Schritt von der griechisch verstandenen Philosophie zur interkulturellen Philosophie.

      Philosophie, so die grundlegende These interkultureller Philosophie, ist kein kulturenunabhängiges Unterfangen, bei dem jenseits aller sprachlichen und kulturellen »Weltansichten«5 die Welt »an sich« erforscht wird. Vielmehr ist die Idee einer Welt »an sich« selbst eine »Weltansicht«, die ihre volle Berechtigung erst dadurch erhält, dass sie andere »Weltansichten« nicht als nachrangig, sondern als Übersetzungen und Verwirklichungen ihrer selbst erfährt.

      Dimensionen

      In der Beschäftigung mit interkultureller Philosophie begegnet man heute einer Reihe ganz unterschiedlicher Ansätze. Das ist zunächst einmal auf die unterschiedlichen Motivationen zurückzuführen, die Philosophen dazu bringen, über interkulturelle Fragestellungen nachzudenken. Drei von ihnen sollen kurz benannt werden:

      Die meisten Philosophen werden auf interkulturelle Fragestellungen vermutlich schlicht dadurch aufmerksam, dass ihnen Texte und Arbeiten in die Hände fallen, die anderen kulturellen Traditionen entstammen. Damit sind nicht die Beiträge, die Vertreter anderer Kulturen zur europäisch-westlichen Philosophie leisten, gemeint, sondern Texte, die tatsächlich einer anderen Denktradition als der europäisch-westlichen Philosophiegeschichte zugehören – beispielsweise die Lehren des Konfuzius. Auch die Philosophie hat sich im letzten Jahrhundert globalisiert, was nicht nur dazu geführt hat, dass die europäisch-westliche Philosophie weltweit bekannt und übernommen worden ist, sondern eben auch dazu, dass heute immer mehr Texte anderer Traditionen verfügbar sind und auf ihren philosophischen Gehalt hin beurteilt werden können. Und genau das geschieht denn auch. Überall dort, wo man auf Texte und Überlieferungen stößt, die philosophisch interessant erscheinen, werden sie in die ›globale Bibliothek‹ der Philosophie aufgenommen und es wird mit ihnen gearbeitet.

      Auf dieser Ebene finden Ansätze und Einsichten anderer kultureller Traditionen aber nur dann Eingang in die Philosophie, wenn sie den Philosophen bei der Bearbeitung ihrer Fragestellungen hilfreich erscheinen. Es finden also nur solche Texte aus anderen Kulturen Berücksichtigung, die in einem europäisch-westlichen Sinn als philosophisch eingestuft werden. Es ist deshalb eigentlich irreführend, in diesem Zusammenhang überhaupt von interkultureller Philosophie zu sprechen; stattdessen müsste man eher von einer Erweiterung der philosophischen Textsammlungen sprechen.

      Eine ganz anders gelagerte Motivation interkultureller Philosophie liegt in der Wahrnehmung der veränderten politischen Gegebenheiten spätestens seit Mitte des letzten Jahrhunderts. Seit der frühen Neuzeit hatte sich Europa für rund 500 Jahre als weltbestimmend verstanden – und zwar sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht. Mit der Begründung der Mathesis universalis, der universalen Wissenschaft, durch DescartesDescartes, René galt den Europäern (und gilt uns bis heute) nur noch das methodisch gewonnene Wissen als gewiss. Zugleich haben die Europäer ihren technischen Vorsprung dazu genutzt, die Welt nicht nur theoretisch zu erkunden, sondern auch praktisch zu beherrschen. Die lange koloniale Vergangenheit Europas ist erst Mitte des letzten Jahrhunderts zu Ende gegangen. Freilich leben diverse neokoloniale Machtstrukturen unter dem Deckmantel der Globalisierung bis heute fort. Das zumindest formale Ende der Kolonialzeit hat dennoch auch in theoretischer Hinsicht seinen Niederschlag gefunden. Kurz gesagt ist seither klar, dass die Nicht-Europäer zu Unrecht als rückständig und den Europäern als in intellektueller Hinsicht unterlegen dargestellt worden sind. Dementsprechend gilt es nun, Versäumtes nachzuholen und den Nicht-Europäern endlich eine eigene Stimme zu geben. Auch in der Philosophie. Und so ist die Beschäftigung mit interkulturellen Fragestellungen oft durch die postkoloniale Situation, in der wir heute leben, motiviert. Die Prämisse dieser Herangehensweise lautet, dass nicht nur alle Menschen, sondern ebenso alle Kulturen gleichberechtigt und gleichwertig sind und sich darum keine einzelne Kultur mehr über die anderen erheben darf – und das ebenso in theoretischer wie in praktischer Hinsicht. Mit Blick auf die Philosophie bedeutet das, dass es nicht richtig sein kann, Philosophie nur für Europa und den Westen in Anspruch zu nehmen. Jede Kultur hat ihre eigenen Denker/innen und ihre eigenen Denktraditionen, ob sie nun Philosophie heißen oder nicht. Darum müssen sie heute gehört werden. Philosophie kann nur noch interkulturell, und das heißt hier: im direkten Austausch zwischen Vertretern möglichst aller Kulturen, betrieben werden.

      Damit ein solch philosophischer Austausch aber überhaupt zu etwas führen kann, ist in diesem ›postkolonialen Paradigma‹ vorausgesetzt, dass sich die Gesprächspartner einig sind, worüber sie reden, und sich in einer Weise vernünftig artikulieren, die es den anderen erlaubt, die jeweiligen Beiträge aufzunehmen und zu berücksichtigen. Tatsächlich ist ja genau dies die Prämisse des ›postkolonialen Paradigmas‹: Die Vertreter anderer Kulturen können ebenso vernünftig reden wie die Europäer und dürfen darum nicht länger übergangen werden. Das ist zwar zweifellos richtig, es zum Ausgangspunkt interkultureller Philosophie zu machen, bedeutet aber, dass in ihr ein bestimmtes Vernunft- und Philosophieverständnis vorausgesetzt bleibt. Interkulturelle Philosophie meint dann eigentlich die Öffnung des philosophischen Diskurses für außer-europäische Stimmen. Das Grundverständnis von Philosophie selbst bleibt dagegen unberührt.

      Gegen eine solche vergleichsweise unkritische Öffnung der Philosophie wären nun freilich all jene Ansätze abzusetzen, die darauf aufmerksam machen, dass es in der heutigen postkolonialen Situation nicht nur um Teilhabe an europäischen Diskursen gehen darf, sondern dem zuvor um eine Dekolonialisierung des Denkens selber gehen muss. In diesem Sinne spricht beispielsweise WireduWiredu, Kwasi von der Notwendigkeit einer »Conceptual Decolonization«.1

      Der dritte Zugang, den ich hier nennen möchte, ist durch die Philosophie selber motiviert. Die nach-hegelsche Philosophie ist durch das Ende der großen Systementwürfe und eine Kritik der Subjektphilosophie geprägt. Im 19. Jahrhundert wird zunächst die Geschichtlichkeit der Vernunft herausgehoben, so dass die historisch unterschiedlichen Gestalten des Subjekts hervortreten. Bei HegelHegel, Georg W.F. bedeutet Geschichtlichkeit noch Entfaltung der Vernunft, die historischen Gestalten des Subjekts werden deshalb auf den absoluten Geist hin überstiegen. DiltheyDilthey, Wilhelm dagegen versteht die Geschichtlichkeit der Vernunft vom Erleben des historischen Subjekts her; die Vernunft entfaltet sich nicht, sondern sie verändert sich, weil sich das Erleben des Subjekts wandelt. Im 20. Jahrhundert schließlich zerfällt das historische Subjekt vollends in eine Vielzahl von Einzelsubjekten, die sich nicht mehr ohne weiteres auf eine einheitliche Vernunft berufen können – und das nicht deswegen, weil die Vernunft auf einmal kontingent wäre, sondern weil das Apriori der Vernunftstrukturen nur an den konkreten Erfahrungen, die der einzelne macht, geklärt werden kann. Es ist eben nicht so, dass die Vernunft auf die Welt schaut bzw. die Welt erlebt, sondern stattdessen so, dass bestimmte Vernunftstrukturen konkrete Erfahrungen ermöglichen. Um diese Vernunftstrukturen klären zu können, muss man die entsprechenden Erfahrungen machen. So wird die Aufklärung der Vernunft zu einer Kommunikation der Einzelsubjekte über ihre jeweiligen Erfahrungen. Indem sie sich über ihre Erfahrungen austauschen, erforschen sie die ihnen gemeinsame Vernunft. Das ist der tiefere Grund dafür, dass