Niels Weidtmann

Interkulturelle Philosophie


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und im Idealfall als einen besonderen Wert schätzen lernen: Immerhin erweitert die Vielfalt kultureller Traditionen das Erfahrungs- und Verhaltensreservoir einer Gesellschaft und ermöglicht es ihr dadurch unter Umständen, auf neue Herausforderungen flexibler zu reagieren, als monokulturelle Gesellschaften das tun könnten. Die zuletzt genannte Form, das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft zu regeln, wird im engeren Sinn als multikulturell bezeichnet.

      Die konkrete Ausgestaltung einer liberalen multikulturellen Gesellschaftsordnung erweist sich freilich als äußerst schwierig. Der erste Schritt besteht zweifellos darin, allen Bürgern eines Staates unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft dieselben Rechte zu gewähren. »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich«, so steht es nicht nur im deutschen Grundgesetz.1 Darüber hinaus aber müssen positive Rechte eingeräumt werden, etwa das Recht auf freie Lebensgestaltung und das Recht auf freie Religionsausübung. Auch muss geklärt werden, welche rechtliche Stellung kulturelle Gemeinschaften im Ganzen innerhalb einer Gesellschaft haben sollen. Die Rechte, die einer kulturellen Gemeinschaft eingeräumt werden, dürfen dabei nicht zu einer Einschränkung der Rechte anderer Gemeinschaften führen. Vor allem aber muss die gesamtstaatliche Ordnung gewährleistet sein. Das macht es immer wieder nötig, verschiedene Interessen gegeneinander abzuwägen. Noch komplexer wird die Situation, wenn man bedenkt, dass die rechtliche Gleichstellung verschiedener kultureller Gemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft nicht notwendigerweise auch zur faktischen Gleichstellung in der gelebten Praxis führt. Tatsächlich wird sich eine völlige Gleichstellung in den allerseltensten Fällen erreichen lassen; in der Regel wird diejenige kulturelle Gemeinschaft, der die Mehrheit der Bürger angehört, sehr viel größeren Einfluss auf die Gestaltung des Lebensalltags einer Gesellschaft haben als kleinere kulturelle Gruppen. Beispielsweise können nicht für beliebig kleine Gemeinschaften flächendeckend Schulen gebaut werden, obwohl möglicherweise gerade der schulischen Erziehung für die Weitergabe von kulturellen Traditionen und damit für den Erhalt einzelner kultureller Gemeinschaften besondere Bedeutung zukommt. Auch auf individueller Ebene gewährleistet das bloße Recht auf kulturelle Selbstgestaltung noch nicht die reale Möglichkeit, dieses Recht auch wahrzunehmen. Dafür sind unter Umständen bestimmte finanzielle Mittel nötig; auch Bildung und generell der Zugang zu Informationen spielen eine Rolle. Viele Faktoren, die oft nicht in der Hand des Einzelnen liegen, entscheiden darüber, ob das Recht auf kulturelle Selbstgestaltung wahrgenommen werden kann. Martha NussbaumNussbaum, Martha sieht es deshalb als eine der wichtigsten Aufgaben des Allgemeinwesens an, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es dem einzelnen Bürger möglich machen, sein Recht auf kulturelle Selbstbestimmung aktiv wahrzunehmen.2

      Philosophisch betrachtet stellt uns die Idee des Multikulturalismus freilich noch in anderer Hinsicht vor schwerwiegende Probleme. In ihm wird ein Kompromiss zwischen zwei einander widerstreitenden, gleichermaßen unverzichtbaren Einsichten in das Wesen des Menschen geschlossen, ohne dass dieser Kompromiss ein tieferes, die beiden widerstreitenden Einsichten unterfangendes Verständnis des Menschen darstellt. TaylorTaylor, Charles benennt die beiden einander widerstreitenden Einsichten in das Wesen des Menschen einerseits mit der Würde des Menschen, die darauf gründet, im Einzelnen das Menschsein überhaupt zu sehen, und andererseits der Einmaligkeit (Taylor spricht im Anschluss an Lionel Trilling von Authentizität) des Einzelnen, die gerade die Differenz zu anderen betont.3 Die Würde des Menschen besteht unabhängig von der Persönlichkeit des Einzelnen; sie kommt dem Menschen qua Menschsein zu, ja sie besteht gerade in der Einsicht darein, dass in jedem einzelnen Menschen das Menschsein im Ganzen auf dem Spiel steht – so, wie man einem einzelnen Menschen begegnet, so begegnet man der gesamten Menschheit. Anthropologisch gesehen ist nichts so universal wie die Menschenwürde. Eine Politik, die versucht, dieser wesensmäßigen Gleichheit aller Menschen Rechnung zu tragen, muss darauf abzielen, größtmögliche Gleichheit auch in der gelebten Praxis zu erreichen. Das betrifft in erster Linie die Gleichheit vor dem Gesetz, in der Folge aber auch die Gleichheit der den Einzelnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur freien Lebensgestaltung (Stichworte hierfür sind beispielsweise die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Gleichheit der Bildungs- und Berufschancen). Dieses in der Würde des Menschen begründete Gleichheitsdenken ist eine der wesentlichen Errungenschaften der Neuzeit. Dagegen steht nun eine weitere, nicht weniger fundamentale Einsicht in das Wesen des Menschen: Das Wesen des einzelnen Menschen erschöpft sich dieser Einsicht zufolge gerade nicht in dem, was er vor dem Gesetz ist oder wozu er durch die Wahrnehmung gesellschaftlich bereit gestellter Entfaltungsmöglichkeiten wird. Der Mensch ist dem zuvor als der, der er für sich selbst ist, einzigartig. Seine Entwicklung ist deshalb auch keinesfalls zufällig und allein von den verfügbaren Ressourcen und Möglichkeiten abhängig. Vielmehr folgt sie einer ›inneren Stimme‹ und bringt so das schlummernde Wesen des Einzelnen zur Entfaltung. Taylor macht diese Entdeckung der individuellen Subjektivität an Rousseau und HerderHerder, Johann G. fest. Die Anerkennung der Einzigartigkeit des Individuums führt zur Betonung der Differenz zwischen den Bürgern eines Staates. Letztlich ist jeder Bürger anders und bedarf darum auch einer anderen Behandlung durch den Staat (das entscheidende Stichwort hierfür liefern die besonderen Rechte für Minderheiten). Herder und HumboldtHumboldt, Wilhelm v. sind in diesem Zusammenhang besonders interessant, weil sie die Einzigartigkeit des Individuums auf Kulturen übertragen. So wie der Einzelne unverwechselbar ist, so bildet jede Kultur – in den Worten Wilhelm von Humboldts – ihre eigene »Weltansicht« aus;4 leitend ist dabei die Sprache, die sich gleichsam zwischen die Welt und den Verstand fügt. Kulturen sind für Humboldt und Herder deswegen zunächst einmal Sprachgemeinschaften – und auch diese sind, wie die Individuen, einzigartig.

      Es ist leicht zu erahnen, dass diese beiden Grundannahmen über das Wesen des Menschen in einen Konflikt miteinander geraten können (wenn auch nicht notwendiger Weise müssen). Entweder alle Bürger einer Gesellschaft werden gleich behandelt, dann drohen bestehende Differenzen eingeebnet zu werden. Oder aber der Einzelne wird seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend behandelt, dann ist dies ein Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip. Eine nahe liegende Lösung wäre zu sagen, dass die Gleichheit gerade darin besteht, dass jeder individuell behandelt wird. Dass eine solche Lösung in der Praxis aber kaum möglich ist, wird am konkreten Beispiel schnell klar: Die Gleichberechtigung der Frau kann nicht darin bestehen, dass Frauen unterschiedlicher Herkunftsländer und Kulturen in ein und demselben Staat verschiedene Rechte besitzen. Bestimmte Grundrechte sind nicht verhandelbar; sie müssen auch dann gewährt sein, wenn dadurch bestehende kulturelle Differenzen eingeebnet werden. Multikulturalismus ist deshalb nur innerhalb eines klar gefügten Rahmens möglich, üblicherweise innerhalb eines Rechtsstaates, in dem jeder Bürger vor dem Gesetz gleich ist. Das macht deutlich, dass das Konzept der Multikulturalität selbst einer bestimmten Denktradition verbunden ist, nämlich dem modernen rechtsstaatlichen Denken, wie es sich in den liberalen westlichen Demokratien seit der amerikanischen Unabhängigkeit und der französischen Revolution nach und nach entwickelt hat.

      Innerhalb eines rechtlich einheitlichen Rahmens lassen sich verschiedene Modelle des Multikulturalismus verwirklichen: Solche, die den Erhalt kultureller Eigenheiten aktiv fördern; und andere, die auf zunehmende Integration setzen. So oder so aber muss das Zusammenleben verschiedener Kulturen in einer Gesellschaft geregelt sein, ohne dass diese Regeln selbst von den einzelnen Kulturen verschieden ausgelegt werden dürfen. Ein solches Regelwerk, das die mit der Würde des Menschen zusammenhängenden Grundrechte sichert, ist aber keineswegs kulturell neutral. Es setzt beispielsweise das Recht über die Religion, was nicht nur in manchen anderen Kulturen undenkbar wäre, sondern auch in der europäisch-westlichen Tradition so erst in der Neuzeit möglich geworden ist. Vor allem aber liegt dem Modell der in ein Regelwerk gefassten multikulturellen Gesellschaft ein Verständnis von Kultur zugrunde, das diese gleichsam zur Privatsache erklärt, wohingegen allein das Regelwerk selbst öffentlichen Charakter hat.5 Was aber soll eine private Kultur sein? Der Begriff der Kultur macht überhaupt nur auf einer sozialen Ebene Sinn. Private Kulturen wären sinn-los – gerade so, wie Wittgenstein das für die Vorstellung einer Privatsprache zeigt. Wie die Sprache, so konstituiert sich auch die Kultur im wechselseitigen Austausch der Menschen untereinander als deren gemeinsame, und das heißt eben öffentliche, Lebenswelt. Eine solche Lebenswelt kann nicht nochmals in einen weiteren öffentlichen Raum eingebunden sein, es sei denn im Zuge der Konstitution einer weiteren, umfassenderen Kultur. Der Ansatz der Multikulturalität geht also einher mit einer Abwertung,