Niels Weidtmann

Interkulturelle Philosophie


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verschiedene kulturelle Wege des Menschen es gibt.

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      In Kapitel 1 wird zunächst erläutert, worin sich der Begriff der Interkulturalität von denjenigen der Multi- und Transkulturalität unterscheidet und weshalb ich ihn für wesentlich besser geeignet halte, die philosophische Herausforderung, vor die uns die interkulturelle Situation, in der wir heute leben, stellt, adäquat zu beschreiben. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem Begriff der Kultur zu: Kulturen, so die These dieses Buches, sind Erfahrungswirklichkeiten und sie unterscheiden sich deshalb auch nur durch die Erfahrungen, auf denen sie aufruhen und die die verschiedenen Verständnisse von Menschsein und menschlicher Wirklichkeit begründen. Es ist ein essentialistisches Missverständnis, Kulturen als voneinander getrennte Entitäten vorzustellen;2 besonders irritierend ist die Vorstellung, Kulturen würden an biologischen Parametern wie Ethnizität und Hautfarbe hängen, aber auch die Reduktion von Kulturen auf Nationalität ist schlicht falsch, und selbst der Verweis auf die unterschiedlichen Sitten und Werte greift viel zu kurz. Stattdessen sind die Kulturen immer schon ineinander verschränkt und überlappen sich, ja jede einzelne Kultur nimmt alle anderen auf ihre Weise in sich auf und spiegelt sie wider. Gerade das begründet ihren Weltcharakter.

      Kapitel 2 stellt, wie bereits erwähnt, die verschiedenen Ansätze und Dimensionen interkultureller Philosophie vor. Einen philosophischen Austausch zwischen den Kulturen gibt es auf mehreren Ebenen. Zu einer Herausforderung für die Philosophie im Ganzen wird dieser Austausch freilich nur in der interkulturellen Dimension, in der nach den Erfahrungen gefragt wird, die den Weltcharakter anderer Kulturen begründen.

      In Kapitel 3 wird die These vertreten, dass Interkulturalität erst in der Gegenwart zu einer zentralen Fragestellung der Philosophie werden konnte. Das griechische Verständnis von Philosophie ist durch die Erfahrung von der Zusammengehörigkeit des Seienden in der Welt geprägt. Diese Erfahrung wird in der Neuzeit auf andere Weise wiederholt und erneuert. In der nach-kantischen Philosophie gewinnt das Phänomen der Erfahrung zunehmend an Bedeutung und wird in der Phänomenologie schließlich zum Ausgangspunkt der Analyse von Mensch und Welt. Damit bricht die Frage nach dem Anderen und der Möglichkeit, seine spezifischen Erfahrungen nachzuvollziehen, auf und wird zu einer der bestimmenden in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Analyse von Alterität und Fremderfahrung sensibilisiert die Philosophie auch für die Wahrnehmung anderer kultureller Erfahrungstraditionen. Zu einer Herausforderung für die Philosophie im Ganzen wird die Interkulturalität aber erst durch die Entdeckung des Weltcharakters, der den kulturellen Grunderfahrungen zukommt.

      Im 4. Kapitel werden wichtige Aspekte interkultureller Philosophie behandelt. Interkulturalität kann nur dann als ein zentrales und den Menschen zutiefst betreffendes Phänomen erkannt werden, wenn die These vom kulturellen Wesen des Menschen geteilt wird. Nur dann kann auch gesehen werden, dass sich der Mensch der Teilhabe am Geschehen der Welt verdankt und deshalb wesentlich aus dem Zwischen zu verstehen ist, in dem Mensch und Welt zusammengehören. Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die Dimensionalität aller Wirklichkeit, womit gemeint ist, dass sich die Wirklichkeit nicht in Bereiche – beispielsweise in verschiedene Kulturen – gliedert, die zusammen ein Ganzes ergeben, sondern dass sie sich stattdessen in Dimensionen differenziert, in denen sie jeweils im Ganzen getroffen ist. Die weiteren Aspekte betreffen die Überlegung, dass jede Philosophie auf bestimmten Erfahrungen aufruht und sich der Wandel dieser grundlegenden Erfahrungen als eine Grundphilosophie beschreiben lässt; ferner das Phänomen der Welt, das interkulturell im Plural gedacht werden muss; und die Kritikfähigkeit der Kulturen in der interkulturellen Begegnung. Schließlich wird die Menschlichkeit als das eigentliche Thema interkultureller Begegnung herausgestellt.

      In Kapitel 5 werden sodann drei ausgesuchte Beispiele interkultureller philosophischer Begegnung vorgestellt. Den Anfang macht ein Text zum Wesen der Begegnung aus der modernen japanischen Philosophie der Kyoto-Schule. Es folgt eine knappe Erläuterung wichtiger Denker des islamischen Mittelalters, deren Auseinandersetzungen mit der griechisch-europäischen Tradition für beide Kulturregionen von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Das dritte Beispiel betrifft die Herausbildung moderner Philosophien im sub-saharischen Afrika, die wichtige Erfahrungen aus vorkolonialer Zeit in die Beschäftigung mit der europäisch-westlichen Philosophie einbringen und so mittlerweile eine genuin afrikanische Stimme in der Philosophie etabliert haben.

      Abschließend ein Wort des Dankes an den Verlag. Ich danke Herrn Daniel Seger und Frau Kathrin Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag in Tübingen für die gute Betreuung und für die Geduld, mit der sie die Entstehung dieses Buches begleitet haben.

      1 Philosophische Begriffsklärung

      Der Begriff der Interkulturalität ist immer wieder verschiedenen Missverständnissen ausgesetzt und bedarf darum der Klärung. Wieso betreiben wir eine Philosophie der Interkulturalität und grenzen Interkulturalität deutlich sowohl gegen Multikulturaliät wie gegen Transkulturalität ab? Beschreibt der Begriff der Multikulturalität die Realität, in der wir leben, nicht sehr viel besser? Und ist der Begriff der Transkulturalität nicht der sehr viel modernere und in vielerlei Hinsicht auch der adäquatere, insofern er uns hilft, ein altes, essentialistisches Verständnis von Kultur zu überwinden? Ich werde auf den folgenden Seiten alle drei Konzeptionen kurz vorstellen und darlegen, weshalb aus philosophischer Sicht gerade die Konzeption der Interkulturalität geeignet ist, den Begriff der Kultur kritisch zu reflektieren und von essentialistischen Missverständnissen zu befreien. Die Kulturen können weder multikulturell nebeneinander stehen noch können sie sich zugunsten transkultureller Durchmischung auflösen. Und zwar, wie wir sehen werden, deshalb nicht, weil Kulturen konkrete, geschichtliche Lebenszusammenhänge darstellen, die sich laufend wandeln, erneuern und gegebenenfalls auch miteinander verflechten. Kulturen sind Lebens- und Interpretationszusammenhänge, die sich aus dem Umgang der Menschen mit der Natur, aus ihren Handlungen, ihren Selbstverständnissen und ganz besonders der Kommunikation der Menschen und Kulturen untereinander ständig neu speisen. Kulturen erschöpfen sich nicht in irgendwelchen Errungenschaften, weder in Sprache noch in Kunst, Religion, Literatur, Wissenschaft und Technik; vielmehr beschreiben sie jenen Zwischenbereich zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch, der in jeder Handlung und jeder Kommunikation von neuem ausgehandelt wird. Kulturen lassen sich deshalb nicht in irgendwelche Bestandteile auflösen und miteinander mischen, und sie können ebenso wenig innerhalb eines gesellschaftlichen Lebenskontextes unberührt nebeneinander stehen. Sowohl das Konzept der Multikulturalität als auch dasjenige der Transkulturalität setzen letztlich ein substanzialistisches und statisches Kulturverständnis voraus. Die spannende Frage, wie verschiedene gelebte Wirklichkeiten zusammengehören, können sie nicht beantworten.

      1.1 Multikulturalität

      Als multikulturell werden Gesellschaften bezeichnet, in denen Menschen verschiedener kultureller Herkunft und Praxis zusammenleben, ohne dass es zu einer deutlichen Vermischung der kulturellen Traditionen kommt. Multikulturelle Gesellschaften zeichnen sich also durch das Nebeneinander verschiedener kultureller Traditionen auf engstem Raum aus.

      Unsere Gesellschaften sind heute alle zu einem gewissen Grad multikulturell. Wo sie das nicht sind, sind sie entweder gewaltsam von der Außenwelt abgeriegelt (z.B. Nordkorea) oder mehr oder weniger unberührt (sog. ›Naturvölker‹). Ansonsten führt der Kontakt zwischen den Menschen überall auf der Welt zu einer teilweisen Durchmischung und zu einem Nebeneinander verschiedener kultureller Traditionen innerhalb einer durch ihre politische Organisation gegenüber anderen abgegrenzten Gesellschaft, üblicherweise also innerhalb eines Staates. Die Gewahrung dieser Realität hat zu vielfältigen Auseinandersetzungen über die politischen Konsequenzen geführt. Wie soll das Zusammenleben von Menschen verschiedener kultureller Herkunft in einer Gesellschaft politisch geregelt werden? In der politischen Praxis finden sich darauf sehr unterschiedliche Antworten, sie reichen von der Unterdrückung kultureller Minderheiten in totalitären Regimes bis zur Gleichstellung und Anerkennung in liberalen Demokratien. Letztere folgen wiederum unterschiedlichen Strategien: Während einige großen Wert auf eine möglichst weitgehende Integration ihrer fremdkulturellen Bürger in die Mehrheitsgesellschaft legen, folgen andere der Maxime, allen kulturellen Gemeinschaften innerhalb der Gesellschaft