Bernward Gesang

Wirtschaftsethik und Menschenrechte


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die nicht über Win-win-Kalkulationen durchsetzbar sind, sind dann eben andere Umsetzungsstrategien zu suchen. Ein besonders wirksames Mittel sind nicht Moralappelle, sondern anschauliche moralische Argumentationen. Das eigene Verhalten kritisch zu reflektieren, verändert etwas, was durch psychologische Versuche bestätigt wird (Duval et. al. 2001). Zudem kann Moral durch öffentliche Kampagnen, Produkt- oder Unternehmensboykotte, kritische Konsumenten, kritische Aktionäre, ethisches Investment usw. umgesetzt werden. Da informierte Individuen eben auch unter Konkurrenz nicht nur HO-Präferenzen haben, ist es nicht unrealistisch, auf ein Zustandekommen dieser nicht egoistisch motivierten Durchsetzungswege zu setzen.

      |33|Fazit: Man muss das für die ökonomische Ethik spezifische Wechselspiel von Vertragstheorie und HO-Annahmen kritisieren, das eine vertragstheoretische Legitimation der Marktwirtschaft erzeugen soll. Zudem muss man Unstimmigkeiten bei der Verwendung des HO-Konzepts aufdecken und klären, weshalb Kritiken der empirischen Ökonomik dieses Konzept sehr wohl treffen, gleichgültig, ob man einen engen oder weiten Gebrauch zugrunde legt. Man kann von der durch die ökonomische Ethik empfohlenen Orientierung an Anreizen und der institutionenethischen Ausrichtung Gebrauch machen. So können mehr Forderungen umgesetzt werden, sofern diese Orientierung nicht als einzig erfolgreiches Instrument verstanden wird, um Moral durchzusetzen. Letzteres kann gerade dazu führen, Moral zu verhindern.

      Damit ist eine Theorie, die auf dem egozentrischen Wirtschaftszweck aufbaut, mitsamt der häufig hinter diesem und dem nationalen Zweck stehenden Vertragstheorie zurückgewiesen worden. Andere Rechtfertigungen dieser Zwecke sind denkbar, aber können hier nicht alle untersucht werden. Im nächsten Kapitel wird einer Kritik des utilitaristischen Wirtschaftszwecks nachgegangen, deren Scheitern gemeinsam mit den gerade vorgebrachten Argumenten plausibilisieren soll, weshalb ich vom utilitaristischen Zweck ausgehe.

       [Zum Inhalt]

      |34|2. Kapitel: Pareto-Optimalität, weil mehr nicht geht?

      I. Utilitarismus – Was ist das?

      Bevor wir weiter die Zwecke des Wirtschaftens analysieren, muss noch ein anderer Punkt geklärt werden. Jede Bewertung geht von einem ethischen Fundament aus, auf dem sie beruht. Wie genau sieht der Utilitarismus aus, auf den ich mich in der Einleitung festgelegt habe? Ein geradezu „natürlich“ anmutendes Verfahren, um Handlungen moralisch zu bewerten, besteht darin, zuerst die Folgen einer Handlung für die von ihr Betroffenen abzuwägen. Das Verfahren wenden wir im Alltag unentwegt an. Ethische Entscheidungen werden also fast überall auch durch Zuhilfenahme einer Analyse der Konsequenzen dieser Entscheidungen getroffen. Meint man, diese Analyse allein reiche aus, um die ethische Bewertung durchzuführen, dann ist man Konsequenzialist. Aber schnell drängt sich die Frage auf, nach welchem Maßstab man denn die Konsequenzen einer fraglichen Handlung bewerten soll. Es ist keine Lösung, immer nur auf die Folgen „auszuweichen“, es muss einen Wert geben, demzufolge „gute“ Konsequenzen gut sind. Die prominenteste Antwort auf die Frage nach einem Maßstab lautet: Die Menge des Nutzens, den eine Handlung hervorbringt, soll ihr Maßstab sein. Aber diese Antwort ist unterbestimmt. Nutzen für wen? Und was genau ist Nutzen? Die bekannteste konsequenzialistische Ethik, der Utilitarismus, beantwortet diese Fragen genauer: Nutzen ist nicht nur der individuelle Nutzen des Akteurs, sondern der „Gesamtnutzen“, also der Nutzen, der insgesamt für alle von der Handlung betroffenen Individuen durch diese Handlung entsteht. Auf die Frage, was Nutzen aber genau bedeutet, kann man antworten: Glück! Aber was ist Glück? Für „klassische Utilitaristen“ bemisst sich die Größe des Glücks an der Bilanz lustvoller und schmerzvoller Gefühle. Dabei fordert dieser Utilitarist, Lust zu maximieren und Schmerz zu minimieren. Und letztlich wird dann dieses Glückskriterium zum einzigen Maßstab der moralischen Qualität von Handlungen erklärt. All die komplizierten ethischen Probleme sollen also allein durch einen Vergleich von Lust und Schmerz der Betroffenen entscheidbar sein.

      |35|II. Die Grundpfeiler des Utilitarismus

      Um den Utilitarismus genauer zu darzustellen (eine Begründung habe ich in Gesang 2011 Kpt. 3 versucht), kann man vier „Grundpfeiler“ der Theorie unterscheiden:

      1. Universelle Glücksmaximierung: Es ist ein an sich wertvolles Gut, dass Lebewesen Lust, Freude oder Befriedigung empfinden. Dieses an sich oder intrinsisch wertvolle Gut, nennen wir es vorerst undifferenziert Glück, möchte der Utilitarist maximieren, d.h. er möchte, dass die Gesamtsumme des Glücks in der Welt so groß wie möglich wird. Damit setzt der Utilitarist dem Egoisten ein universelles Prinzip entgegen, anhand dessen er Handlungen als moralisch richtig oder falsch beurteilt. Dieser Gedanke ist intuitiv einleuchtend und sehr einfach. Man will, dass es den Lebewesen gut geht, und zwar so gut wie möglich. Mehr Glück ist besser als weniger Glück. Es würde irrational und falsch anmuten, wenn man sich darauf beschränken wollte, dort einen kleineren Betrag an Glück zu produzieren, wo man auch einen größeren produzieren könnte.

      Nach J. Bentham ist Nutzen (utility) das, was das Glück (happiness) einer Interessenpartei befördert (Bentham, 1789/1970, I.2). Happiness, das Ziel allen Handelns, lässt sich in den Maßeinheiten von pleasure und pain messen und über deren Gesamtbilanz definieren (Bentham, 1789/1970, IV.5). Pleasure und pain sind Gefühle, die in unterschiedlichen Intensitäten auftreten. Gefühle kann man als bestimmte mentale Zustände beschreiben. Bentham macht das Nutzenprinzip zum Maßstab der Begriffe „richtig“, „sollen“ usw. Versteht man diese Begriffe losgelöst davon, so Bentham, dann werden sie sinnlos (Bentham, 1789/1970, I.10). Die Größe des erzielten Glückszustands ist also das Maß für die moralische Qualität unserer Taten. Bentham gebraucht die Begriffe pleasure und pain, die in der Umgangssprache primär im Zusammenhang mit körperlichen Lüsten und Schmerzen verwendet werden. Aber die erwähnten mentalen Zustände beziehen sich natürlich auch auf Freude am Wohlergehen anderer oder auf ästhetische oder intellektuelle Freuden (Bentham, 1789/1970 V. Mehr zu den verschiedenen Glückkonzepten: Gesang, 2010a).

      2. Wertmonismus: Der Utilitarismus basiert auf der Vorstellung, dass es ein und nur ein an sich wertvolles Gut gibt und dass man daher alle moralisch relevanten Güter in die eine „Währung“ Glück umrechnen kann. Glück wird als die Quelle verstanden, der alle anderen moralischen Werte entspringen. Gerechtigkeit hat nur dann einen |36|Wert, wenn sie etwas zur Glücksvermehrung beiträgt. Hingegen findet sich in unserem Alltag oft eine wertpluralistische Grundeinstellung, der zufolge es verschiedene gleichberechtigte Werte, nämlich z.B. Glück, Gerechtigkeit, Freiheit oder Würde gibt. Der monistische Ansatz ist schwer zu verstehen, wenngleich auf der Hand liegt, dass er die Ethik enorm vereinfacht, ja ein Stück weit operationalisierbar macht.

      Ich möchte eine Begründung dieses intuitiv schwierigen Punktes wenigstens andiskutieren: Was spricht für den Monismus? Betrachten wir das Beispiel der Gerechtigkeit. Ist diese wertvoll, wenn sich durch ihre Realisierung niemandes Wünsche erfüllen, wenn sie niemandes Glück vergrößert? Wäre es nicht völlig gleichgültig, ob eine solche „glücksleere“ Gerechtigkeit existieren würde, da sich niemand durch sie besser fühlt? Wäre der, der diese Gerechtigkeit oder parallel eine „glücksleere“ Würde durchsetzen will, nicht jemand, der die Menschen zugunsten eines abstrakten Ideals aus den Augen verliert?

      Stellen wir uns das Beispiel „Sadomasochiens“ vor. Das ist eine Welt, die aus Sadisten und Masochisten besteht. Die einen quälen gerne Menschen, selbst wenn diese Masochisten sind, die anderen werden gerne gequält. Beide Gruppen sind maximal befriedigt in ihrer Welt die Glückssumme ist groß. Wir haben es mit einem Glücksfall einer Koevolution zu tun. Nun tritt unser irdischer, deontologisch angehauchter Alltagsethiker auf und moniert, dass diese Welt zutiefst ungerecht und menschenunwürdig sei. Die Sadisten beuteten die Masochisten aus (unabhängig davon, ob eine Zustimmung der Masochisten vorliege oder nicht, man könne sich ja auch nicht freiwillig versklaven) und die Menschenwürde letztlich beider Gruppen sei nicht gewahrt. Dann ändert der irdische Moralapostel diese Welt, die danach gerechter und menschenwürdiger ist. Denn Gerechtigkeit (und Würde) gibt es nur eine, die von der Perspektive der Menschen und ihrem