Bernward Gesang

Wirtschaftsethik und Menschenrechte


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Zudem wird aus den Befunden der experimentellen Ökonomik klar, dass es viele Akteure mit Fairnesspräferenzen gibt. Diese werden vielleicht in faktischen Wirtschaftszusammenhängen nicht aktiviert, sie sind aber potenziell aktivierbar, wenn man das Setting verändert und einen Strafmechanismus für unfaire Aktionen garantiert.

      Weitere Befunde lassen sich anführen, die für beide HO-Konzepte problematisch sind: Kooperatives Verhalten wurde auch in Experimenten festgestellt, in welchen eigens Gefangenen-Dilemmata konstruiert wurden. Diese Spiele sind dadurch gekennzeichnet, dass kooperatives Verhalten eines Spielers vom anderen Spieler ausgebeutet werden kann. Cooper et al. führten ein Experiment durch, in welchem Spieler zwanzig Mal anonym auf einen jeweils anderen Spieler trafen. In den letzten |29|zehn Runden, also nachdem den Spielern definitiv bewusst war, dass sie ausgebeutet werden können, war der Anteil kooperativen Handelns zwar zu einem Minderheitenverhalten geschrumpft, lag aber immer noch bei etwa 22 Prozent (vgl. Cooper et al. 1996, 199). Ein Fazit zu diesen Fragen gibt E. Fehr: In zahlreichen Experimenten zeigt sich, „that a substantial percentage of the people are strongly motivated by other-regarding preferences and that concerns for the well-being of others, for fairness and for reciprocity, cannot be ignored in social interactions.“ (Fehr und Schmidt 2005, 1) Die These der ökonomischen Ethik, dass sich Individuen in Dilemmasituationen prinzipiell nicht ausbeuten lassen würden, ist empirisch falsch, da eine Übergeneralisierung.[24] Dass die These jedoch ein Mehrheitsverhalten unter Konkurrenz beschreibt, ist damit noch nicht widerlegt. Diese wenigstens statistische Adäquatheit war ja oben mit Popper zur Bedingung eines sinnvollen Modells gemacht worden.

      Das trifft auch das weite Konzept, weil man die empirische Zusatzannahme des Konzepts fallen lassen muss. Diese Annahme ist aber für das Konzept entscheidend. Was ansonsten bleibt, ist eine für ökonomische Zwecke leere Erklärungsstrategie (der psychologische Egoismus), mit der allein man beim HO-Test gar kein Ergebnis erzielen kann. Wie soll man ein Testergebnis prognostizieren, wenn sich die Hälfte der Fahrgäste bei der Bahn gemäß dem ersten Teil des (weiten) HO-Konzepts verhalten und als Spender für die Bahn statt als Schwarzfahrer auftreten können, weil sie auf das Gemeinwohl zielende, nicht zur „Gegenausbeutung“ verführbare, Präferenzen haben? Der Erfolg des HO-Tests hängt am Primat klassischer egoistischer Präferenzen, nur dann ist die Anwendung dieses Tests informativ. Diesen Primat bestätigt die Empirie aber nicht durchgängig. Für das weite HO-Konzept ergibt sich die Problematik, dass es in den Situationen, in denen seine Verwendung interessant wird, mit dem engen zusammenfällt. In allen anderen Situationen erklärt es jedes Verhalten (vgl. Schulte 2014, 39f.; Haller 2012, 23f.) und man kann (je nach Lage der empirischen Präferenzen) alles Mögliche mit ihm vorhersagen.

      Eindeutig versagen beide HO-Modelle selbst für Homann in ganz fremden Kulturkreisen wie dem chinesischen (Homann 2002, 86), wo sie weder insgesamt noch unter Konkurrenz ein Mehrheitsverhalten abbilden (vgl. Haller 2012, 48). Sie versagen zudem allgemein dann, wenn |30|Menschen von einer Idee begeistert sind, wie Widerstandsbewegungen wie die „Weiße Rose“ zeigen, bei denen Menschen für uneigennützige Zwecke erhebliche Gefahren auf sich nehmen. Das extremste Beispiel sind religiöse Fanatiker[25], die selbst in Dilemmasituationen, in denen ihr Leben auf dem Spiel steht, nicht als HOs handeln. Diese Begeisterung kann verstärkt durch massenpsychologisch erklärbare Mechanismen offenbar ganze revolutionäre Massenbewegungen wie bei der Befreiung der DDR tragen, bei der große unbewaffnete Mengen gegen gefährliche Soldaten demonstrierten. Tatsächlich setze ich Hoffnung darauf, dass Menschen unter dem Eindruck einer starken moralischen Idee ihren Egoismus häufig und vielleicht sogar auch mehrheitlich überwinden können. Solche Ansätze gilt es mit allen Mitteln von Bildung, Psychologie (z.B. auch „Nudging“; vgl. Thaler und Sunstein 2009) etc. zu fördern und die oft flüchtige Begeisterung zu verstetigen. Das Pendant zu besagter Begeisterung kann Furcht bilden. Wenn die Furcht vor der Zukunft – durch einzelne kleinere Katastrophen bewirkt – groß genug wird, kann das ebenfalls ein Verhalten auslösen, bei dem der HO (mehrheitlich) überwunden wird (Jonas 1979/1985, 391f.). Letztlich kann man vielleicht sagen, dass das HO-Modell (und der Singular ist gerechtfertigt, da weites und enges Konzept letztlich zusammenfallen) ein faktisches Mehrheitsideal in unserem Kulturkreis abbildet (Cooper et al. 1996, 199; Bonoli und Häusermann 2009, 201), demgemäß sich die meisten Menschen unter Konkurrenz wenigstens verhalten wollen. Aber sie scheitern häufig aufgrund von Fehlinformationen und anderer menschlicher Schwächen daran (Kahneman und Krueger 2006). Das Modell unterschlägt das Potenzial zu einem anderen Verhalten, das empirisch ebenfalls verbürgt ist. Damit ist das HO-Modell also gemessen an obigen Adäquatheitsbedingungen geschwächt, aber doch bestätigt.[26]

      Folglich betrachte ich auch mein drittes Beweisziel als eingelöst: die aufgeklärten Präferenzen der Individuen fallen nicht auto|31|matisch mit denen eines HO zusammen. Zudem überzeugen die mit HO-Modellen verbundenen Aussagen nicht umfassend. Sie vernachlässigen eine existente und vergrößerbare Gruppe von Akteuren in unserem Kulturkreis. Damit ist ein einstimmiger Konsens über die Marktwirtschaft unwahrscheinlicher, als es die ökonomische Ethik annimmt, denn die wahren Interessen der Akteure fallen nicht bei allen mit den HO-Interessen zusammen: Aufklärung von Interessen führt nicht automatisch zum Konsens über Marktwirtschaft. Also gute Nachrichten für die Menschheit: Der Mensch ist besser als sein Ruf!

      VIII. Was von der Ökonomischen Ethik bleibt

      Nach dieser ausführlichen Kritik soll gesichtet werden, welche Errungenschaften die ökonomische Ethik erzielt hat, denn es lässt sich einiges von ihr lernen. Ganz Recht haben ihre Verteidiger mit der These, dass letztlich zählt, welche Folgen der Ethik sich in der Welt ergeben. Das heißt, Moral muss so gut wie irgend möglich umgesetzt werden. Einige Normen lassen sich nur umsetzen, wenn sie vom gesetzlichen Rahmen ermöglicht werden. Dazu auf die Rolle der Institutionen zu verweisen, ist ein guter, wenngleich hier oft verabsolutiert auftretender Ansatzpunkt: Letztlich können nur Individuen Institutionen verändern, wenn man den von der ökonomischen Ethik wohl – wie von fast der gesamten nichtmarxistischen Ökonomie – akzeptierten „methodologischen Individualismus“ (Hollis 1995, 148, Homann und Blome-Drees 1992, 95, Homann und Pies 1994, 11) voraussetzt. Diese Lehre besagt, dass Gesellschaften und ihr Handeln allein aus dem Handeln der einzelnen Individuen erklärbar sind, welche die Gesellschaft bilden. Nur wenn sich die Überzeugungen der Individuen in ihrer Rolle als Wähler ändern, wird eine neue Politik zustande kommen. Alles andere wäre Zauberei, zum Besten gegeben von einem imposanten Magier mit langem grauem Bart und funkelnden Augen, der beschwörende Worte wie „Unterbau“ und „Überbau“ raunt, bevor er mit Pathos zum „Simsalabim“ kommt. Man sollte einzelne Menschen mit moralischen Argumenten animieren, den Marsch durch die Institutionen anzutreten und dabei auch in diesen aktiv zu werden. Politisches Engagement und der Versuch, eigene Interessen zu organisieren, sind unabdingbar. Explizit greife ich den institutionenethischen Ansatz auf, in dem ich die Einführung einer neuen Institution (Anwalt für die Rechte zukünftiger |32|Generationen) als wesentlichen Schritt zur Lösung unserer globalen Probleme vorschlage (vgl. Kpt. 4.).

      Der HO-Test kann helfen, Institutionen leistungsfähig zu halten. Selbst wenn sich durch den „Zwang zur Gegenausbeutung“ motiviert nicht alle, sondern nur viele Menschen wie konsequente HOs verhalten, stellt der Test bedenkenswerte Herausforderungen an die Architektur von Institutionen. Zudem ist die Unterstellung eines HO-Verhaltens besonders prognosestark, insbesondere für den Umgang mit Unternehmen: Man weiß, dass Menschen, die gewohnheitsmäßig mit diesem Modell operieren, seine Logik übernehmen (Frank et al. 1993, 167). Allerdings ist es möglich, das im Alltag weit verbreitete HO-Verhalten ein Stück weit zu überwinden, insbesondere wenn die Menschen von einem höheren Ziel begeistert sind. Darauf beruhen viele Hoffnungen und für diese lässt die ökonomische Ethik keinen Platz.

      Es ist eine wichtige Aufgabe für Unternehmen, Politiker und Ethiker, nach echten Win-win-Situationen zu suchen. „Echt“ sind diese dann, wenn moralische Verbesserungen mit monetärem Gewinn umgesetzt werden und nicht nur Imagepflege betrieben wird. Den Blick von Theoretikern, Politikern und Unternehmern dafür zu schärfen, wie man solche Situationen aktiv schafft, indem man langfristige Vorteilsüberlegungen mobilisiert, ist ein echtes Verdienst der ökonomischen Ethik. An Unternehmen so heranzutreten, dass man ihnen Moral als Gewinnfaktor