Bernward Gesang

Wirtschaftsethik und Menschenrechte


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wird de facto an so vielen Stellen eingeschränkt, dass das Vorgehen der ökonomischen Ethik, erst vom idealen Rahmensystem und vom idealen Wettbewerb auszugehen und dann Störfälle zu behandeln, wie eine Lehrbuchweisheit erscheint, die mit der Realität wenig zu tun hat. Die Wirklichkeit beschreibt der Ökonom N. Stern sehr gut, wenn er zahlreiche Gründe für Marktversagen anführt, etwa unvollständige Informationen, unvollkommene Kapitalmärkte, politische Eingriffe, nicht repräsentierte Konsumenten etc. (Stern 2009, 101). Diese Faktoren sind nicht etwa temporäre Übergangserscheinungen auf dem Weg hin zum perfekten Markt, sondern es gibt keine empirische Begründung, nach der sie sich als vorläufig erweisen würden. Zum Teil liegen sie im Wesen des Menschen begründet.

      Die strikten Wettbewerbsbedingungen, von denen die ökonomische Ethik ausgeht, werden durch zahllose Gegenbeispiele in Frage gestellt |25|(Kimakowitz et al. 2011, 1f; Diercksmeier 2014, 60f).[20] So konnte ein Marktführer wie Levi-Strauss sehr wohl häufiger zugunsten ethischer Standards auf Gewinne verzichten (Shaw 2005, 178–182). Ebenso sind Unternehmen wie SAP, BASF und Danone zu nennen, die sich explizit Social-Business-Projekten verschrieben haben, bei denen die erwirtschafteten Profite zurück in das jeweilige soziale Projekt fließen. Hier ist unklar, ob sich das durch Know-How-Gewinne oder neue Vertriebsstrukturen für besondere Märkte gegenrechnen lässt. Banken, die sämtliche Dienstleistungen anhand von Nachhaltigkeitskriterien neu strukturieren (zum Beispiel ABN Amro Real oder die Triodos Bank), entlarven den Mythos der Wettbewerbszwänge ebenso. Sämtliche Fälle von Fehlmanagement und Verschwendung (nicht zuletzt bei Vorstandsgehältern und Abfindungen vgl. Kpt. 5. VI) durch Unternehmen, die diese Vorfälle überlebt haben, sind zu ergänzen. Daher meine These: Unternehmen, können – begrenzt – Normen umsetzen, die langfristige Gewinneinbußen bedeuten. Das zeigt, dass man auch auf Märkten nicht immer als HO handeln muss, wenn man überleben will.

      Die gerade diagnostizierte Verwechselung von Modell und Wirklichkeit geht in der ökonomischen Ethik noch weiter: Das HO-Modell wird von Homann, Suchanek und Pies als allumfassendes Prognoseinstrument für Dilemmasituationen eingeführt: „Da allen Interaktionen Dilemmastrukturen zugrundeliegen, wird das langfristige Resultat von Interaktionen durch diesen homo oeconomicus zuverlässig abgebildet.“ (Homann und Suchanek 2000, 420) Das ist leider falsch. Um das zu erkennen, muss man erst einmal begrifflich nachforschen: Das Konzept des HO kann man auf zwei Weisen interpretieren (und die ökonomischen Ethiker machen erfrischend von beiden Gebrauch):

      Das enge HO-Konzept, das die Ökonomie beherrscht, besteht in der Annahme, dass Menschen informiert sind und ihre egoistischen Präferenzen maximieren (klassisch: Sie wünschen wie Dagobert Duck zum morgendlichen Bad im Geldspeicher anzutreten …) (Kirchgäßner 1991, 2000, 16). Auf den naheliegenden Hinweis, es gäbe aber auch |26|altruistisches Verhalten, reagiert die ökonomische Ethik, indem sie betont, es handele sich beim HO nur um ein „Modell“ (vgl. Suchanek 2007, 177–184). Dieses sei nur eine Beschreibung der Wirklichkeit in Dilemmasituationen, d.h. unter Konkurrenz, da Menschen in diesen Situationen ihre „egoistischen“ Präferenzen dominieren lassen würden (Homann und Blome-Drees 1992, 94).[21] Zudem seien Konkurrenzsituationen die in der Marktwirtschaft typischen Situationen (Homann und Suchanek 2000, 420). Diese Aussagen sollen es erlauben, empirische Gegenbeispiele abzuwehren. So wird darauf verwiesen, dass Modelle stets die Welt vereinfachen müssten, was in diesem Fall bedeute, dass das Modell nur strikt auf Handeln in Konkurrenzsituationen zuträfe (Homann und Suchanek 2000, 421).

      Zu bedenken bleibt allerdings: Auch Modelle haben Verbindungen zur Empirie, jedenfalls sollte jedes Modell, wenngleich es die Zusammenhänge vereinfacht, „der Wahrheit (…) hinreichend nahe“ (Popper 2000, 355) sein, wie K. Popper sagt. Das heißt, wenn man es auf den Menschen insgesamt anwendet, sollte es wenigstens die statistischen Normalverhältnisse beschreiben.[22] Ob das hier der Fall ist, werden wir noch sehen. Diese Verbindung zur Empirie verschleiern die ökonomischen Ethiker beständig, indem sie den „präempirischen“ Charakter des HO betonen (Homann und Blome-Drees 1992, 94; Homann und Suchanek 2000, 418), aus dem sie dann im nächsten Atemzug klare empirische Konsequenzen in puncto „Gegenausbeutung“ ableiten (Homann und Suchanek 2000, 420; ein offenes Bekenntnis zur empirischen Verankerung des HO: Homann und Suchanek 2000, 422f.)

      Das weite HO-Konzept setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Einem Schema, das vor aller Erfahrung gelten soll und einer empirischen Zusatzannahme. Das Schema besteht darin, jeden informierten Menschen bei jedem Handeln als Maximierer von Präferenzen zu verstehen, gleichgültig, wie diese beschaffen sind (psychologischer Egoismus) (vgl. v. Kutschera 1982, 60f.; Popper 2000, 356f.). Nur so wird sein Handeln überhaupt verständlich: Jeder Mensch tut alles, was er |27|tut, um seine Präferenzen zu erfüllen und er will dies immer im größtmöglichen Maße. Dabei verfolgt der Akteur sowohl im klassischen Sinne eigennützige Präferenzen, wie aber auch solche, die zu seiner Präferenzerfüllung beitragen, indem sie Präferenzen anderer Subjekte erfüllen (altruistische Präferenzen). Mutter Teresa hat demnach Armen geholfen, weil sie den Wunsch dazu hatte und es sie befriedigt hat, ihn zu erfüllen. Dass die Erfüllung dieses Wunsches anderen geholfen hat, ändert nichts daran, dass sie ihren eigenen Wunsch umsetzte. Sie war „egoistisch“ im Sinne des psychologischen Egoismus, insofern sie nur auf Grundlage eigener Wünsche handelte. Aber sie war auch nicht egoistisch im Sinne eines umfassenden und im Alltag zugrunde gelegten Begriffsverständnisses (dazu: Fehige 2001, 61; Haller 2012, 25f.), weil der Inhalt ihrer Wünsche das Wohl anderer war. Es handelt sich beim psychologischen Egoismus laut Homann um eine Rationalitätsannahme vor aller Erfahrung. Von solchen Annahmen meint Popper, dass wir sie selbst bei der Interpretation des Verhaltens von Verrückten machen sollten, wenn wir diese verstehen wollen (Popper 2000, 356f.). Das erlaubt es, auch altruistisches Handeln als existent und rational zu beschreiben und so auf besagte Kritik am engen Konzept des HO einzugehen. Wie G. Becker es ausdrückt: „Alles menschliche Verhalten kann vielmehr so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem, maximieren.“ (Becker 1993, 15) Auch mildtätige Personen fallen für Becker unter diese Beschreibung (Becker 1993, 306). Das ist der Teil der HO-Annahme, der vor aller Erfahrung gilt und der empirisch ergänzt wird. Empirisch kommt mindestens die Annahme hinzu, dass Menschen in Dilemmasituationen zur „präventiven Gegenausbeutung“ greifen, d.h. ihre klassisch egoistischen Präferenzen in solchen Situationen dominieren lassen (Homann und Blome-Drees 1992, 42, 94).[23] Diese Annahme braucht man, um etwa den HO-Test überhaupt anwendbar zu machen (s.u.). Der besagt: Wenn andere auf Kosten der Ehrlichen schwarzfahren, überlegen die Ehrlichen sich auf Dauer, ob sie die „Dummen“ sein sollen, welche die Schwarzfahrer finanzieren oder ob sie selbst schwarzfahren sollen und am Ende fahren auch die Ehrlichen definitiv schwarz.

      Zur Kritik beider Konzepte: Die experimentelle Ökonomik führt dazu, die mit den Konzepten verbundenen empirischen Annahmen ein|28|zuschränken: „In einer umfassenden Studie an 15 Kulturen haben Henrich et al. das Standardmodell des Homo Oeconomicus experimentell überprüft und dabei festgestellt, dass das ‚canonical model – based on self-interest – fails in all of the societies studied‘.“ (Haller 2012, 48) Es zeigt sich: Die Annahme des HOs versagt selbst dabei, nur das Verhalten in bestimmten Situationen zu prognostizieren: Akteure verzichten auch in Dilemmasituationen bei besonderen Public-Good-Spielen auf eigenen Nutzen (Auszahlungen), wenn sie unfaire Mitspieler strafen können (vgl. Sigmund et al. 2002, 98; vgl. Aßländer und Nutzinger 2010) und das ohne sich davon eine Disziplinierung der Mitspieler in weiteren Spielrunden zu versprechen. Es geht ihnen einfach um Gerechtigkeit oder, unschöner formuliert, um Revanche für unfaires Verhalten oder, noch banaler, um Rache. Die Akteure haben eben auch Fairnesspräferenzen und wollen unfaire Mitspieler strafen, was durch den HO begründete Erwartungen über Ausgänge dieser Spiele über den Haufen wirft. Also können die auf das Wohl anderer Menschen bezogenen Präferenzen die im engeren Sinne egoistischen Interessen auch dauerhaft überwiegen. Dabei muss zugestanden werden, dass dies in anonymen Massengesellschaften ohne „Strafmechanismen“ für unfaire Akteure wohl nicht der Regelfall ist. Es gilt gleichwohl auch in Dilemmasituationen: Wer (nur) auf den HO baut, hat auf Sand gebaut (Fehr und Gächter 2000).

      Zwar zeigt sich, dass die Fairnesspräferenzen bei starker Konkurrenz weniger wirksam werden (wobei selbst dann immer noch keine mit der HO-Annahme übereinstimmenden Ergebnisse herauskommen) (Panther 2005, 82f.).