Eva-Maria Landwehr

Kunst des Historismus


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Barock und Neubarock

       Architektur und Technik

       Kunsthandwerk und Kunstgewerbe

       Historienmalerei

       Bibliografie

       Abbildungsnachweise

       Namens- und Ortsregister

       Rückumschlag

Einleitung

      „Und es stellte sich heraus, daß auch die Stillosigkeit ein Stil ist“ – dieses unbarmherzige Urteil formulierte Egon Friedell in seiner erstmals 1927 – 31 erschienenen „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (Friedell 2003, S. 1300). Auch wenn dieser Satz sich zunächst wie das Ende eines Märchens liest, verstand sich Friedell keineswegs als Märchenonkel – nein, er war ein überaus sarkastischer und bissiger Analytiker und ließ kein gutes Haar an der historisch aufgefassten Kunst vor allem der Siebziger- und Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts. Und damit verteidigte er nicht etwa eine singuläre oder gar abwegige Position: „Stillos und charakterlos“ sei das 19. Jahrhundert, eben eine reine „Uebergangsperiode“, so lautete ein weiteres Urteil von Heinrich Schroers bereits aus dem Jahr 1896 über die künstlerischen Leistungen des eigenen Jahrhunderts – und damit auch der Gegenwart (Schroers 1896, Sp. 239f.). Hermann Muthesius stellte dann 1903 fest, dass dem 19. Jahrhundert der Wille zum Stil gänzlich abhanden gekommen sei: „Früher gab es keine Stile, sondern nur eine gerade herrschende Kunstrichtung, der sich mit völliger Selbstverständlichkeit alles unterordnete. Erst im neunzehnten Jahrhundert wurde die Menschheit aus diesem künstlerischen Paradies vertrieben (…)“ (Döhmer 1976, Zitat S. 81).

      Zu den Charakteristika, die der historistischen Kunst von ihren Schöpfern zugeschrieben wurde, zählte gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch überraschenderweise an erster Stelle eine ausgeprägte Modernität und Eigenständigkeit. Historistisch arbeitende Architekten zum Beispiel betrachteten ihre Entwürfe und Bauwerke als autarke Leistungen, die sie in der Überzeugung bestärkten, der Vergangenheit technisch überlegen zu sein. Dabei waren es vor allem die neuen Baumaterialien wie Eisen und Zement gewesen, die Konstruktionen möglich machten, die, so wörtlich, „für die Alten unausführbar gewesen wären“ (München und seine Bauten 1912, S. 210).

      [<<7] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

      Könnte man also die historistische Kunst des 19. Jahrhunderts als eine Fleisch gewordene Persönlichkeit betrachten, dann würde ihr die Psychologie des 21. Jahrhunderts mit großer Wahrscheinlichkeit ein ernsthaftes Identitätsproblem und wohl auch ein ausgeprägtes neurotisches Potenzial attestieren. Das Gesamturteil über den Historismus in der Kunst vor allem der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts präsentiert sich als eine kuriose Mischung aus einerseits selbstbewussten und wohlwollenden, andererseits zutiefst verächtlichen Meinungsäußerungen. Der Tenor dieser Aussagen zum Stildilemma ihrer Zeit, die sich in Hülle und Fülle aus den zeitgenössischen Quellen herausfiltern lassen, reicht von euphorischer Selbstüberschätzung über anspruchslose Zufriedenheit bis hin zu selbstquälerischer Geißelung. Besonders gegen Ende des Jahrhunderts, als die Erklärungsnot für die andauernden und immer schneller aufeinander folgenden Stilwechsel übermächtig wurde, bekam das Klagelied über die mäandernde Stilkultur des eigenen Jahrhunderts einen larmoyanten Ton, immer kürzer wurden die zeitlichen Abstände, in denen man sich mit einer historischen ‚Erklärung‘ für den Einsatz eines bestimmten Stils zufriedengab. Große Befürchtungen in ästhetischer Hinsicht weckte die fehlende Verbindlichkeit in Stilfragen, verbunden mit der Sorge, der Stilpluralismus könnte einer haltlosen Beliebigkeit Vorschub leisten, die tradierte symbolische oder ikonologische Aussagewerte ignorierte.

      Über mangelnde Abwechslung hatte das 19. Jahrhundert generell nicht zu klagen, kein anderes Jahrhundert war so reich an rasch aufeinander folgenden Umbrüchen und Wandlungen. Beginnend mit der Französischen Revolution noch im 18. Jahrhundert waren sämtliche Gesetzmäßigkeiten, seien sie gesellschaftlicher, politischer, konfessioneller oder wirtschaftlicher Natur, zuerst auf den Prüfstand und dann auf den Kopf gestellt worden. Vor allem die Industrialisierung hatte für den größten Teil der Bevölkerung tiefgreifende Änderungen mit sich gebracht: einerseits wirtschaftliche Liberalisierung und Aufstiegschancen, andererseits Landflucht, explosionsartiges Städtewachstum und millionenfache Hoffnungslosigkeit des Proletariats.

      Karl-Heinz Klingenburg hatte bereits 1985 konstatiert, dass die Ambivalenz der zeitgenössischen Meinung hinsichtlich des Historismus daraus resultiere, dass dieser angesichts seines vergangenheitsorientierten

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      Hintergrunds ein „Gegengewicht“ zur zukunftsgewandten Industriellen Revolution bilde, in der direkten Gegenüberstellung aber logischerweise auch deren veraltetes „Absurdum“ darstelle (Klingenburg Nachdenken über Historismus 1985, S. 26). Diese Zerrissenheit hatte der Engländer Augustus Pugin angesichts der beängstigend weit fortgeschrittenen Industrialisierung mancher englischer Städte bereits im Jahr 1836 in einem Stahlstich zusammengefasst, der eine fiktive europäische Stadt in den Jahren 1440 und – prospektiv – 1840 zeigt. Die wohlgeordnete und friedliche mittelalterliche Siedlung steht einem von Fabrikgebäuden und rauchenden Schornsteinen dominierten Konglomerat aus lieblosen Behausungen gegenüber. Das prominent im Vordergrund platzierte Gefängnis und eine verwahrloste Kirche symbolisieren den allgemeinen Verfall der Werte. Man muss nicht lange spekulieren, welche der beiden Städte Pugins Idealvorstellung entsprach: Der Wunsch, das Rad der Zeit Richtung Mittelalter zurückdrehen zu können, gehörte zu den utopischen Sehnsüchten, die nicht umsonst einige Ähnlichkeit mit dem Eskapismus und der Bereitschaft zur Realitätsflucht aufwiesen, die man später mit der Person des bayerischen ‚Märchenkönigs‘ Ludwig II. verbinden sollte.

      John Soane führte im Jahr 2007 konzise aus, wie sehr der Umgang mit dem historischen Erbe auch von der Ahnung beeinflusst war, dass die Vergänglichkeit und der Schwund dieser Hinterlassenschaft in sehr hohem Maße von eben jener Industrialisierung forciert werden würde. Es ging also um eine fundamentale und irreversible Veränderung der umgebenden Welt, die so rasch vonstatten ging, dass der Mensch zu einer ebenso zügigen Aufarbeitung der sich in Auflösung befindlichen Vergangenheit gezwungen war: „War es möglich, dass diese wachsende Verehrung der Vergangenheit nicht nur eine Gegenströmung im neuen Zeitalter der Industrialisierung war, sondern ein wesentliches Element ihrer selbst? War eine gesteigerte Wahrnehmung der kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit nur vor dem Hintergrund einer sich schnell ausbreitenden Modernität möglich?“ (Soane 2007, S. 290). Voraussetzung für einen solchen, groß angelegten empirischen Ansatz war die sich durchsetzende Überzeugung, dass alles menschliche Tun und Handeln – auch und vor allem der Gegenwart – nur unter Einbeziehung des ‚Davor‘, also durch die Aufarbeitung historischer Zusammenhänge

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      erklärbar sei. Für die Gewinnung einer möglichst komplexen Vorstellung von der Vergangenheit war es daher notwendig, alle verfügbaren geschichtlichen Quellen und Zeugnisse unter wissenschaftlichen und damit wertungsfreien Bedingungen zu sammeln und wie ein Mosaik zusammenzufügen. Die Vergangenheit galt zwar faktisch als abgeschlossen, behielt aber ihre ideelle ‚zeitlose‘ Bedeutung und Eigenständigkeit bei. Auf diese Weise wurde die Gegenwart durch ein ‚Mehr‘ an potenziellen Existenz-Entwürfen bereichert und gleichzeitig vorausschauend das Rüstzeug für die Zukunft bereitgestellt. Besondere Anschaulichkeit und Wirkung hatten naturgemäß architektonische Zeugnisse oder auch Denkmale, die für jedermann durch ihre bloße Existenz