gesellschaftlichen und auch politischen Gegebenheiten ihrer Entstehungszeit erzählt? Oder ist das 19. Jahrhundert eine Epoche der beliebig reanimierten, rein dekorativ eingesetzten Neostile? Hinter jeder neugotischen Kirche eine ikonologische Botschaft zu vermuten, wäre ebenso vermessen, wie diese – wahrhaft zahlreichen Sakralbauten – in ihrer Gesamtheit als seelenlose Massenware zu deklarieren.
Zweifellos aber sind die Zusammenhänge von Historismen in der Kunst mit zeitgenössischen Problematiken und Ideologien unbestreitbar. Es gilt also, Einzelfälle mit einem geschärften Blick zu betrachten und darzustellen, auf welche Weise und in welchem Umfang historische Stile für die Kunst des 19. Jahrhunderts und damit im Interesse ihrer Rezipienten instrumentalisiert wurden. Eine systematische Aufgliederung in Auftraggeber-Gruppen beziehungsweise Trägerschichten versucht der gesellschaftlichen Bedeutung des Themas gerecht zu werden und vor allem die Wahl des für die jeweilige ‚Botschaft‘ geeigneten Stils transparenter und verständlicher zu machen. Eine Gewichtung der vorgestellten Beispiele zugunsten der Gattungen Architektur und Denkmal ergab sich aus der öffentlichen Präsenz und Sichtbarkeit dieser Monumente, deren narratives Potenzial naturgemäß größer ist als dies bei Kunstwerken möglich wäre, die ausschließlich für einen eng begrenzten Rezipientenkreis geschaffen wurden. Zu den Zwängen, denen eine knappe Übersichtsdarstellung wie die vorliegende unterworfen ist, gehört auch die Notwendigkeit, aus Platzgründen auf eine enzyklopädische Behandlung des Themas zu verzichten. Für die Architektur bedeutet das zum Beispiel, dass Bauten wie Parlamente oder auch Gerichtsgebäude zugunsten anderer funktionaler Gebäudetypen nicht berücksichtigt werden konnten.
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Literatur
Bringmann 1968; Brix / Steinhauser Geschichte im Dienst 1978; Csàky 1996; Döhmer 1976; Driever 2001; Frevert / Haupt 2004; Friedell 1996; Gaethgens / Fleckner 1996; Hardtwig 1978; Klingenburg Nachdenken über Historismus 1985; Klotz 2000; München und seine Bauten 1912; Pevsner 1965; Schroers 1896; Selle 2007; Soane 2007; Wehler 1995
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2.
Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Bürgertums. Sein Aufstieg ist ohne den Antagonismus zum Adel weder denkbar noch erklärbar, denn was der Adel an Ansehen, Macht und Privilegien verlor oder besser: was ihm genommen wurde, das eroberte sich Schritt für Schritt das Bürgertum. Während sich der Adel zu oft in der reinen Besitzstandswahrung erschöpfte und darüber zusehends in eine Art Lethargie verfiel, berauschten sich die Bürger an ihrer eigenen Erfolgsgeschichte. Das Prinzip der Ständegesellschaft, in der ein gesellschaftlicher Aufstieg ausschließlich über die Abstammung sanktioniert gewesen war, wurde im 19. Jahrhundert von einem bürgerlichen Gesellschaftskonzept abgelöst, das mit der Zeit immer mehr Statusverbesserungen zuließ. Selbstverständlich war das Bürgertum keine homogene Bevölkerungsgruppe, die in einer Atmosphäre politischer, gesellschaftlicher und sozialer Gleichheit, wie sie in den idealistischen Vorstellungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts existierte, hätte gedeihen können. Man hatte von den Gesetzmäßigkeiten der Adels-Hierarchie gelernt und so gab es innerhalb der bürgerlichen Schichten natürlich weiterhin ein Oben und ein Unten, Gewinner und Verlierer – und damit die obligatorischen Friktionen zwischen einer bürgerlichen Elite mit Führungsanspruch und einer Vorstellung vom Bürgertum, die nach wie vor einem egalitär ausgerichteten Miteinander anhing. Auch wenn man sich gegen die Restauration feudaler Zustände stemmte, wurden Erfolg und Status, die kraft eigener Leistung erreicht wurden, akzeptiert und mit Loyalität belohnt. Der Berliner Unternehmer August Borsig war in dieser Hinsicht ein ‚Selfmade-Fürst‘, der sich sein Imperium nicht durch Erbe, sondern auf der Basis eigener Hände Arbeit geschaffen hatte und verantwortungsvoll für seine ‚Untertanen‘ sorgte. Als er 1854 starb, wurde ihm diese Haltung mit einer wahrhaft fürstlichen Bestattung vergolten,
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als anlässlich des Leichenzugs dem Katafalk die Arbeiterschaft von über zwanzig Berliner Unternehmen folgte.
Problematisch ist und bleibt aber grundsätzlich, was denn nun eigentlich das Bürgertum war, wer sich dafür ‚qualifizierte‘ und wer durch das gesellschaftliche Raster fiel. Es war nicht das hermetisch abgeschlossene frühneuzeitliche Stadtbürgertum, aus dem das Bürgertum des 19. Jahrhunderts hervorging, es war vielmehr ein liberalisiertes Klima, das Aufsteigern aus den unterschiedlichsten sozialen Gruppen die Chance bot, mit Talent und Leistung auch eine niedrige Herkunft zu relativieren und als Beamte, Unternehmer oder auch Wissenschaftler zu reüssieren. Zuerst jedoch galt es, sich von der biedermeierlichen Privatheit zu befreien, die per se ein außerfamiliäres, öffentlich wirksames Engagement in der Politik oder für die Gesellschaft verhindert hatte. Zwar musste man nach der gescheiterten 1848er-Revolution anerkennen, dass trotz einer Stärkung der Bürgerschaft durch in der Verfassung festgeschriebene Grundrechte ein wirkliches Mitspracherecht auf staatlicher Ebene nicht durchsetzbar war, dass Militärwesen, Verwaltung und Diplomatie weiterhin fest in Adelshand waren. Eine Teilhabe an der Macht auf kommunaler Ebene war jedoch in greifbare Nähe gerückt. Diese gänzlich antirevolutionäre, pragmatische Akzeptanz hinsichtlich einer machbaren Realpolitik erweiterte die Möglichkeiten, die sich dem ‚neuen‘ Bürgertum in Wirtschaft, Handel und Bildung eröffneten. So wurde zum Beispiel um die Jahrhundertmitte die bürgerlich-kommunale Selbstverwaltung durch die Gesetzgebung gestärkt, eine Entwicklung, die sich zeitgleich mit dem Rückzug zahlreicher Fürsten aus ihren Residenzstädten vollzog. Vor allem das schwindende Interesse der fürstlichen Hand an einer fortgesetzten Prägung und Formung des Stadtbildes trug dazu bei, dass den Kommunen zu dieser Zeit auch sukzessive die Verantwortung für das Baurecht übertragen wurde. Zahlreiche Stadtregierungen erkannten das gestalterische Potenzial, das diese Wende mit sich brachte, und gingen dazu über, Grundstücke zu erwerben – in Karlsruhe sogar direkt vom Herrscherhaus selbst. Diese neue Eigenverantwortlichkeit hatte Vor- und Nachteile: Einerseits ruhte die zukünftige Stadtplanung nun auf einem breiteren demokratischen Fundament, andererseits stellte es eine große Herausforderung für die Kommunen dar, neben dem rein
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utilitaristischen beziehungsweise funktionalen Teil des Bauvolumens, der ihnen bis zu diesem Zeitpunkt aufoktroyiert worden war, nun auch die Entscheidungen hinsichtlich ästhetischer Fragen zu übernehmen und damit die Freiheit zu haben, ganze Stadtviertel durch Neubaumaßnahmen zu prägen. Zusätzlich bedeutete es eine große Umstellung, bislang autokratisch angeordnete Maßnahmen durch gemeinschaftlich festgesetzte Beschlüsse in den zuständigen Gremien zu ersetzen und damit viele divergierende Interessen und Vorstellungen zu vereinen. Wie wichtig vor allem der persönliche Besitz von städtischem Grund und Boden für eine bürgerliche Existenz war, hatte sich bereits Anfang des 19. Jahrhunderts abgezeichnet, als im Zuge der Steinschen Reformen ein solches Eigentum zur Voraussetzung für die Einflussnahme auf die kommunale Administration wurde. Diese Reformen, die auf der Basis eines größeren Mitspracherechts den Staatsbürger im Untertanen wecken und dadurch verborgene ökonomische Energien freisetzen sollten, hatten den Nachteil, dass Städter ohne Grundbesitz an diesen Verbesserungen schwerlich partizipieren konnten. Eine Revision der Städteordnung stufte dann zwar im Jahr 1831 alle männlichen erwachsenen Stadtbewohner, die über ein gewisses Einkommen verfügten, als wahlberechtigt ein, die faktische Macht blieb jedoch weiterhin in den Händen der Grundbesitzer.
Die bereits erwähnte Rivalität zwischen dem Bürgertum als Herausforderer und dem Adel als Besitzstandswahrer, die während des ganzen 19. Jahrhunderts seine Gültigkeit behielt, manifestierte sich folgerichtig besonders ausgeprägt auf den ‚Schlachtfeldern‘, die von der Perzeption durch eine breite Öffentlichkeit betroffen waren: der Architektur und dem Denkmal. Institutionen der humanistischen Bildung, wie Opern, Theater und Museen, oder auch administrative und infrastrukturelle Bauten, wie Gerichtsgebäude oder Bahnhöfe wurden nicht mehr in erster Linie von Fürsten oder adeligen Mäzenen, sondern von der bürgerlichen Obrigkeit errichtet. Generell änderten sich die Vorzeichen für die Auftragskunst: Die Ausschließlichkeit, mit der Adel und Klerus über Jahrhunderte Aufträge erteilt und das Stiftungswesen genauso wie das Mäzenatentum