Keramikfabrik unter und machte dadurch aus dem ehemaligen Kloster eine Art ‚Schloss mit Schloten‘. Interessant ist, dass die – später ebenfalls geadelte Familie Boch – herrschaftliche Attitüden übernahm und für ihre Memoria Anleihen bei royaler französischer Sakralarchitektur des Mittelalters suchte. Im ehemaligen Klostergarten von Mettlach befindet sich nämlich auch die Gruft der Fabrikantenfamilie, über der sich die neugotische Kapelle St. Joseph erhebt, die 1864 als Nachbildung der Sainte-Chapelle in Paris (13. Jh.) in einem Nachbarort als Krankenhauskapelle errichtet worden war. Eugen von Boch konnte die aufgelassene Kapelle erwerben, ließ sie ab- und wiederaufbauen und schuf sich und seiner Familie auf diese Weise eine Grablege, die höchsten Ansprüchen genügen konnte und im Kontext mit dem barocken Fabrikgebäude der Familie von Boch den Anstrich ehrwürdiger Anciennität verlieh.
Im Gegensatz zu den keramischen Gebrauchsgegenständen, die in einem ehemaligen Kloster hergestellt wurden, handelte es sich bei dem Produkt, das mit dem sogenannten Palais Longchamp in Marseille seit den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts in einem eigens dafür errichteten
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‚Tempel‘ verehrt wurde, um eines von elementarer Art. Es waren das Wasser und zugleich auch die Ingenieurskunst, denen man zwei Jahrzehnte nach Fertigstellung der Trinkwasserzuleitung für die Stadt Marseille ein Denkmal in der Gestalt des Palais Longchamp errichtete. Der Architekt Henri Espérandieu schuf in den Jahren 1862 – 69 nach Plänen von Frédéric Auguste Bartholdi eine Dreiflügelanlage in der Art eines frühbarocken Belvederes, dessen Kolonnaden-Architektur im Halbrund eine terrassierte Brunnenanlage mit Wasserkaskaden einfasst, das sogenannte „Chateau d’eau“.
Abb. 2: Marseille, Palais Longchamps, 1862 – 1869 (> Abbildungsnachweis)
Das Zentrum des Komplexes bildet ein Triumphbogen, unter dem die Personifikation des Flusses Durance, von dem das Wasser abgleitet wurde, dargestellt ist. Namensgebend für den Wasserpalast, der als Ausdruck des Stolzes angesichts einer technischen, die städtische Lebensqualität entscheidend verbessernden Leistung gesehen werden muss, war das Plateau Longchamp über Marseille, von dem aus das kostbare Trinkwasser in der Stadt verteilt wurde.
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Von sehr archaischer Natur waren dagegen die in den Bergbauregionen des Ruhrgebiets heimischen, sogenannten „Malakowtürme“, die größtenteils zwischen 1850 und 1880 erbaut wurden und eine technische Verbesserung bei der Steinkohleförderung darstellten. Die vormals hölzernen Fördergerüste wurden nun von diesen massiven Türmen aus Backstein- oder Bruchsteinmauerwerk abgelöst, die Höhen von bis zu fünfunddreißig Metern erreichten. Diese Türme, deren Mauern aus statischen Gründen bis zu zwei Metern stark waren, erinnerten teils an trutzige italienische Castelli und nicht zufällig auch an schlichte, beinahe fensterlose frühmittelalterliche Fluchtburgen. An unwirtlichen Orten erbaut, die oft noch keinerlei Siedlungsstrukturen geschweige denn topografische Orientierungspunkte wie zum Beispiel Kirchtürme aufwiesen, spiegelten diese Nutzbauten auf kongeniale Weise die Verknüpfung von Lebenswirklichkeiten verschiedener historischer Welten wider – zusammengeführt durch einen solitären Standort und die tägliche Mühsal der Existenz: hier gegen die feindliche Außenwelt, dort gegen die Gefahren des Bergbaus.
Städtebau: Der Bürger löst die ordnende fürstliche Hand ab
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befanden sich die meist noch in mittelalterlichen Mauern gefangenen Städte angesichts von Industrialisierung und Zuwanderung in einem fundamentalen Wandlungsprozess. Nur die Schleifung von Stadtmauern und Befestigungsanlagen konnte den Raum schaffen, den die Städte notwendigerweise brauchten, um sich ausdehnen zu können. Europaweit waren auch diesbezüglich die unterschiedlichsten Ausgangsbedingungen vorzufinden: Während zahlreiche Städte auf dem Kontinent von gewaltigen, meist im 17. Jahrhundert in Massivbauweise errichteten Befestigungsringen umklammert wurden, konnten englische Städte oft problemlos expandieren. Die Hypothek dieser ‚Grenzenlosigkeit‘ zeigte sich allerdings in einer, schon von zeitgenössischen Beobachtern angeprangerten, unkontrollierten Ausuferung und Perforation des Stadtkörpers – mit der bitteren Konsequenz, dass die Zahl der Elendsquartiere sprunghaft anstieg. Je geplanter und damit
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vorhersagbarer diese Ausdehnung vonstatten ging, desto wahrscheinlicher war es demnach, dass die kommunalen Verwaltungsorgane die Kontrolle über die Morphologie ihrer eigenen Stadt behielten. Erst dann konnte man, im Gegensatz zu dem rein quantitativ zu gebrauchenden Begriff der Verstädterung tatsächlich von einem qualitativen Prozess der Urbanisierung sprechen. Es waren jedoch nicht nur hemmende Mauern, sondern ebenso strukturelle Unterschiede, die über die Expansionsmöglichkeiten einer Stadt entschieden: Neben altehrwürdigen Handelsstädten, die ihre Ausdehnung schon Jahrhunderte zuvor erreicht hatten, Residenzstädten oder Universitätsstädten, gab es die neueren Zentren der Frühindustrialisierung oder auch – bis auf einen kleinen historischen Kern – mehr oder weniger aus dem Boden gestampfte Ansiedlungen in dem sich konstituierenden Ruhrgebiet, wo dem Bergbau ab den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts vereinzelt eine geradezu städtegenerierende Rolle zukam.
Neben der Industrialisierung war das damit verbundene rasante Bevölkerungswachstum der Faktor, der das Gesicht der Stadt vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts grundsätzlich veränderte. Während zum Beispiel im Jahr 1870 noch zwei Drittel aller Bewohner des Deutschen Reichs im ländlichen Raum lebten, so hatte sich dieses Verhältnis vierzig Jahre später zugunsten der Stadt verkehrt. Der genuine Stadtbewohner sah sich einer Flut von Zuwanderern gegenüber, die neben den Belastungen für die Stadtkasse auch wachsende soziale Spannungen mit sich brachte und die Gräben zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ weiter vertiefte. Die Aufwertung des Einwohner- und damit die Relativierung des Bürgerrechts sollte zu einem gerechteren Miteinander führen, das heißt, das Wahl- und damit das kommunale Mitspracherecht war nicht mehr abhängig von Grundbesitz oder Gewerbe, sondern Einkommen und Steuerleistung entschieden über den Status des einzelnen Stadtbewohners. Weil die dafür vorgenommenen Einstufungen relationalen Gesetzmäßigkeiten gehorchten, provozierte das zu diesem Zweck eingeführte Dreiklassenwahlrecht dann allerdings auch höchst kuriose Erscheinungen wie in der Stadt Essen, in der sich der Industrielle Krupp ganz allein in der ersten Wahlgruppe wiederfand, während über 90% der Bevölkerung der dritten Gruppe zugeteilt waren. Im Lauf des Jahrhunderts musste der städtische Verwaltungsapparat kontinuierlich aufgestockt werden, und es
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bedurfte einer wachsenden, immer mehr spezialisierten Beamtenschar, die auftretenden infrastrukturellen Problemen nicht hilflos gegenüberstand, sondern in der Lage war, potenzielle Mängel in der Stadtentwicklung rechtzeitig zu antizipieren und durch systematische Planungen steuernd einwirken zu können. Aus diesem Grund wurden Versorgungsunternehmen, die Gas, Wasser und Elektrizität bereitstellten – also Grundbedürfnisse des täglichen Lebens verlässlich abdecken mussten – etwa ab dem Jahr 1890 aus der privaten in die städtische Hand überführt, während gleichzeitig der Spielraum der Kommunen, auf Privateigentum zugreifen und damit zum Wohl der Allgemeinheit Enteignungen vornehmen zu können, erweitert wurde.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden jedoch Stadtplanungskonzepte der bürgerlichen Administration von den Bürgern selbst nicht zwangsläufig ohne Weiteres akzeptiert. Viel zu präsent war die Verbindung der fürstlich ordnenden Hand mit der ästhetischen und repräsentativen Gestalt einer Stadt und viel zu gering entwickelt war noch der Wille, den eigenen Lebensraum strukturierend und verantwortlich mitzugestalten. Zu belegen ist dies am Beispiel von Elberfeld im Tal der Wupper, einer wohlhabenden, dem preußischen Staat zugehörigen Tuchweberstadt, für die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Adolph von Vagedes, seines Zeichens Düsseldorfer Regierungsdirektor, ein Generalbebauungsplan erstellt werden sollte. Vagedes hatte die Vorstellung von einem Stadtzentrum in der Form eines Rondells, von dem konzentrisch Straßenachsen ausgehen sollten. Um die frühindustrielle Ausrichtung Elberfelds zu unterstreichen, brach der Architekt mit einem städtischen Charakteristikum