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Hartmann von Aue


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Schlussstrophe steigern zudem grammatische Reime und iterative Rhetorik das Äquivalenzprinzip der von Strophe zu Strophe jeweils identischen Kreuzreime; auch sie beschleunigen und stauen zugleich den Zeitverlauf. In diesem Sinn könnte (ohne daß die Funktion dieser ungewöhnlichen formalen Abbreviatio damit ausgeschöpft wäre) die stete Strophenverkürzung am Ende Artificium-Demonstration des Dichters und zugleich performative stæte-Demonstration des Minnedieners sein, die in der allerletzten kreuzgereimten Viererstrophe gewissermaßen an ihr natürliches Ende kommt, als Minimalform, in der sich der Kreuzreim noch umsetzen lässt.2 Nur so kommt der Text an sein Ende, aber das Ich (noch) nicht an sein Ziel: Ich hân in dînen gewalt ergeben / die sêle zuo dem lîbe. / die emphâch! jâ müezen sî dir leben / und mê deheinem wîbe (HaKl 1911–1914). Das ist nichts anderes als ein Aufschub ins Ungewisse. Die Zeit bleibt stehen, und zwar genau auf der Schwelle zwischen Verheißung und Erfüllung.

      4.3. Gnade vor Recht? Diskursinterferenzen

      ‚Diskurse‘ können als regulierte Denk- und Argumentationssysteme gelten, als Wissensordnungen, deren Gegenstände und Funktionsweisen in Relation zu anderen Diskursen historisch rekonstruierbar sind. In Hartmanns ‚Klage‘ verbinden sich gelehrte Systematiken und literarische Entwürfe von Leib-Herz-muot-Seele, wie oben angedeutet, in überraschender perspektivischer Komplexität. Die Tradition der frühscholastischen Seelenlehre und Liebespsychologie ist Hartmann geläufig (Gewehr 1975; zur „Intellektualisierung“ der feudalen Liebesthematik im Kontakt mit der lateinisch-klerikalen Tradition vorsichtiger Karnein 1981),Scholastik aber die ‚Klage‘ ist eben keine theoretische Abhandlung, und so lässt sich nicht immer eindeutig entscheiden, ob Herz oder Seele jeweils metaphysisch, metaphorisch oder psychophysisch eingesetzt sind. Hinzu kommt, dass nicht nur der religiöse, sondern auch der juristische Diskurs (Rechts- und Bündnisterminologie, Anklage, Gegenklage, Schuld, Versöhnung) in der ‚Klage‘ in komplizierten Brechungen auf den Minnediskurs durchlässig ist, „wenn minnemetaphorisch aufgeladene Rechtsterminologie in eine allegorische Streitszene zurückgespielt wird“ (Cormeau/Störmer 32007:103). Und die eine Seite der Justiziabilität bleibt bis zum Schluss zusätzlich uneindeutig, da Sünde-, Himmel-, Hölle-Anspielungen zusätzlich das Jüngste Gericht einblenden (HaKl 1833). Mhd. fürspreche (HaKl 1643) kann nach allen drei Seiten des juristischen, religiösen und höfischen Diskurses übersetzt werden als ‚Anwalt‘, ‚fürbittender Vermittler‘ und ‚vermittelnder Bote‘. So bleibt etwa der Klagegestus der ersten Schlussgedichtstrophe, wie schon in der Eingangsstrophe und im vorausgehenden Streitgespräch, schillernd. Das liegt einerseits am gleitenden Übergang von höfischem Minnedienst und Rechtsdiskurs: Seine beständige Dienstbereitschaft könne er mit einem Eid beschwören (HaKl 1659). Anderseits ist die Minne durch Anspielungen auf den religiösen Diskurs (schon mit der ausdrücklichen Angewiesenheit des Ich auf ‚Gnade‘, HaKl 1662) Teil eines Kulturmusters, das für die höfische Adelsgesellschaft Orientierung entwickelt, „die der allgemein geltenden religiösen Weltanschauung gegenüber teilweise autonom sind“, und dieser „Orientierungswert der Minne wird nicht von theologischer Spekulation neu abgeleitet, sondern er ist in der hohen Minne des Lieds mit den religiösen, metaphysischen und rechtlichen Konnotationen schon von Anfang an vorgegeben“ (Cormeau/Störmer 32007:108, anders Philipowski 2006). Für Mertens (1988) sind Hartmanns religiöse Diskurszitate (alle Seele-Belege bei Köbele 2006:279) Teil einer Strategie der Integration von höfischer und religiöser Wertordnung; er plädiert für eine „gradualistische Konzeption“ auf der Basis eines „ontologischen Dualismus“ (Mertens 1988:17).

      Abb. 4.2.

      Schluss der ‚Klage‘ im Ambraser Heldenbuch (A) (Detail). Es fehlt die Initiale am Beginn der letzten Strophe (Ich, 4. Zeile von unten).

      Unübersehbar inszeniert Hartmann die Dissoziation der Person als permanente Störanfälligkeit der intrapersonalen Ordnung. Leib und Herz, auch wenn sie sich annähern, bleiben in instabiler Balance verbunden, nämlich zugleich in Subordination (Dienstverhältnis) und Koordination (Freundschafts-, Verwandtschaftsverhältnis). In der ‚Klage‘ stehen gerade nicht Affekt gegen Ratio, Begehren gegen mâze-Gebot. Der Leib verteidigt vielmehr seine Interessen mit nicht geringer Rationalität, umgekehrt artikuliert auch das Herz kognitive und affektive Ansprüche, wenn es als Organ im Körper dem Körper zugleich gegenübertritt. Darüber hinaus oszilliert die Bedeutung von herze zwischen konkretem körperlichem Organ und dessen Funktion als Sitz innerer Wahrnehmung (Strittmatter 2013), von den Ansprüchen der dritten Instanz, der Seele, die beide Kontrahenten prompt ins Spiel bringen, zu schweigen. Dass das Ende der Wechselrede Leib und Herz zur personalen Wir-Einheit zusammenführt, ist unbestritten, doch sind mit den Versen 1642–1644 (nun solle der Leib Fürsprecher bei ihr sein) zum Schluss nicht sämtliche antagonistischen Interessen des Ich aufgelöst. Vielmehr führen die Minnesangstrophen, Minnesangdie sich anschließen, in dieselben Minneaporien wie zu Beginn zurück. Der Leib-Herz-Konsens bleibt also labil.

      Im Fazit: Mit seinem hybriden Gattungsstatus, der subtilen Minnepsychologie und komplexen Zeitregie erweist sich die ‚Klage‘ als ein signifikantes Zentrum des Hartmann-Œuvres. Hartmann führt religiöse Dialogformen experimentierend in den höfischen Liebesdiskurs ein, mit dem Effekt einer charakteristischen Überblendung von höfischer Affektsprache und christlicher Leib-Seele-Anthropologie. Erst die ältere Forschung tendierte dazu, den Text als schlichte Minnelehre zu unterschätzen. Die jüngere Forschung misstraut der programmatischen Versöhnung von Herz und Leib und sucht nuanciertere Beschreibungsmodelle. Gerade die StichomythieStichomythie perpetuiert den Konflikt zwischen Herz und Leib, und dass auch der strophische Frauenpreis am Ende wieder im Klagemodus des Anfangs ankommt, liegt auf der Hand. So zeigen sich gerade im Gegenüber von Dialog und Schlussgedicht die an das stæte-Dilemma geknüpften Aporien der höfischen Minnekultur, die die Grenzen einer widersprüchlichen Ich-Einheit im subtilen Zusammenspiel von Leib, Herz, muot und Seele auslotet. Rekursive Ich-Verdoppelungen stören die Affekt-Transparenz sowohl nach innen im Modus des Selbstgesprächs, wie nach außen in Form minnesängerischer Interaktion zwischen Ich und Dame.Minnesang Durch diese bis zum Schluss je neu umgesetzte Doppelperspektivierung löst Hartmanns ‚Klage‘ die widersprüchliche Affektambivalenz des Ich nicht restlos auf, sondern artikuliert den Konflikt in seiner ganzen Schärfe. Die Konsensfindung bleibt transitorisch.

      Dass die ‚Klage‘ die Undurchschaubarkeit der widersprüchlich und irreversibel das Ich bezwingenden Minne immer wieder auch für Komikeffekte nutzt, sollte nicht übersehen werden. Auffällig dichte religiöse Semantiken kennzeichnen die ‚Klage‘, die nicht nur Heil, Glückseligkeit und Gnade, sondern die ganze Heilsgeschichte vom Engelsturz bis zum Jüngsten Gericht anzitiert, die Dame als Engel oder Göttin imaginiert, für die Seele und Leib aufs Spiel gesetzt werden, und Gott als Kräutergärtner. Doch der Text will nicht die höfische Ichkonstitution (als Interaktion von Herz, muot und Leib) durch eine geschlossene Leib-Seele-Ontologie der Person überbieten. Vielmehr ist ein breites Spektrum religiöser Anspielungen zwischen lusorischer Hyperbel und metaphysischem Argument mitzubedenken, und auch diese Anspielungskunst steht im Dienst der Demonstration einer grundsätzlich gestörten Innen-Außen-Transparenz.

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