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Hartmann von Aue


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der Textoberfläche einerseits überwunden zu sein scheint, aber anderseits als lyrische Sprechweise erhalten bleibt und mit der religiösen Rede verschränkt wird (Ortmann 1996:82, Reichlin 2014:185), wählt sich das Ich nun die Kristes bluomen (MF 210,37 ‚Kreuzzeichen‘, Reusner 1985:16f., Brackert 1983:20, Reichlin 2014:180), die ihn in den zehnten Himmelschor führen mögen. Das ganze Lied ist gewissermaßen auf die Grenze zwischen Früher und Jetzt, zwischen Welt und Himmel, zwischen zu Hause und der Ferne des Kreuzzugs gestellt. – Das einstrophige Lied VI (MF 211,20) greift den Gedanken vom geteilten Lohn auf. Dieses Mal wird er nicht dem toten Dienstherren, sondern der (treuen!) Ehefrau zugesprochen, die ihren Mann bereitwillig auf den Kreuzzug ziehen lässt. – Hartmanns vielleicht bekanntestes Lied, das sogenannte 3. Kreuzlied (XVII = MF 218,5), ist vielfach Gegenstand der Forschungsliteratur gewesen (ältere Literatur bei Reusner 1985:151–155, Nellmann 1987, Urbanek 1992, Ortmann 1996, Reichlin 2014). Es ist wie Lied V (MF 209,25) auf einem Gegensatz aufgebaut: dem nämlich von weltlicher und göttlicher minne. Hinter ihrer Entgegensetzung scheint freilich auch immer wieder ihr semantischer wie konzeptueller Bezug aufeinander deshalb auf, weil, wenn Gott an die Stelle der Dame tritt, die Positionen zwar umbesetzt werden, ihr Verhältnis zum Ich aber erhalten bleibt. Die Dame ist es, die dem Ich eine Fahrt gebot (damit dürfte den Zuhörern vom ersten Vers an klar gewesen sein, auf welches Thema das Lied zielt, so auch Mertens 1978c:327, anders Kuhn 21973). In Strophe 2 werden zunächst die Taten zu den Worten eingefordert. Die Liebe Gottes zu den Menschen ist die wahre Minne, die jetzt, im Moment der Not, zur Fahrt ins Heilige Land auffordert. Strophe 3 stellt den wahren Liebenden, der auf (göttliche) Gegenliebe stößt, die erfolglosen weltlichen Minner gegenüber, deren vergebliches Minnen nichts als wân (MF 218,22) ist. Die Gegenseitigkeit der Liebe zwischen Mensch und Gott hat die einseitige Minnekonstruktion des Minnesangs damit endgültig überwunden (Ortmann 1996:95). Es Minnesangfällt nicht ganz leicht sich vorzustellen, dass Hartmann nach diesem Lied noch Minnelieder verfasst hat (was große Teile der Forschung für unmöglich halten), aber völlig ausschließen wird man es nicht können.

      3.2. Narrativität

      Das kritische Urteil der älteren Forschung über Hartmanns Lyrik, sie sei „zu glatt, zu kalt, zu hell“ (vgl. Haustein 2011:85), wurde immer wieder mit der Beobachtung verbunden, dass Hartmann in seiner Lyrik erzählt. Im Mittelpunkt dieser Beobachtung stand stets Lied XV (MF 216,29, vgl. Johnson 1999:150). Vor dem Hintergrund der neueren Forschung zum Phänomen lyrisch-narrativer Interferenzen (vgl. Haustein 2011:86–89), die auch andere Texte auf der Grenze zwischen Lyrik und NarrationLyrik und Narration unter diesem Gesichtspunkt in den Blick genommen hat, kann vielleicht ein der hartmannschen Lyrik eigener Charakter präziser (und positiver) beschrieben werden. Denn nicht nur in Lied XV wird erzählt, sondern in vielen anderen Liedern auch. Sie erzählen kleine, abgekürzte Geschichten, die in Zeit und Raum eingespannt sind und in denen die Figuren des Ich und der Dame über die sie betreffenden Zusammenhänge erzählend nachdenken, Zusammenhänge, die im Roman zumeist den Erzähler interessieren.

      Schon über Lied I (MF 205,1) spannt sich ein Zeithorizont auf, der von der frühesten Jugend des Ich (MF 206,12 und 18) bis in die eigene Gegenwart, ja bis in dessen Alter (MF 205,23) reicht. Das Lied setzt also als Fixpunkte einer nicht auserzählten Geschichte einen Anfang und ein Ende eines ‚Helden‘ wie in einem Roman und imaginiert so auch eine „Evidenz des Körperlichen“ (Wenzel 2013:90). Diese Zeitstruktur wird mit dem Motiv des Wandels verbunden, deutet also auch so ein Vorher und ein Nachher an: vil wandels hât mîn lîp unde ouch der muot (MF 205,12) oder grôz was mîn wandel (MF 205,24). Was diesen Wandel verursacht hat, erfahren wir freilich nicht, nur dass dieser auf Seiten des Ich zum Verlust an Zeit geführt hat (MF 205,6f.). Stellt der in Strophe 3 erwähnte Tod des Dienstherrn eine andere kleine, nicht erzählte Geschichte dar? Strophe 5 fasst die Minnereflexion des Ich „in einem beinahe erzählenden Ablauf zusammen“ (Cormeau/Störmer 32007:84). Das Thema ‚Zeit‘ durchzieht auch Lied III (MF 207,11) „wie ein roter Faden“ (Reusner 1985:104f.). Angedeutet wird eine Geschichte vom zunächst fast trotzig an den Tag gelegten Wankelmut Minnesangdes Ich, den dieses späterhin bereut, um wenigstens in Gedanken zu seiner Dame zurückzukehren. Diese Geschichte hat sich übrigens, wie der explizite Bezug ausweist, nach dem Erleben, von dem Lied II (MF 206,19) berichtet, ereignet. Mehrere Lieder sind durch Vor- und Rückgriffe strukturiert: In Lied VII (MF 211,27) wird ein zukünftiges Glück angekündigt, in Strophe 2 eine kleine Geschichte von Untreue angedeutet, die in Strophe 3 als Voraussetzung des in der ersten Strophe angekündigten neuen Glücks fungiert. Ähnlich ist Lied XV (MF 216,29) gebaut: Erst die abschließende dritte Strophe berichtet von einer Erfahrung, die zeitlich vor der Situation der ersten Strophe liegt und aus der heraus ‚Hartmann‘ nicht mehr zu den ritterlîche[n] vrouwen gehen will (MF 216,32). Und auch in Lied XVI (MF 217,14) dominiert das Thema ‚Zeit‘, wenn dort ein früheres Glück, jetziger Schmerz und die Aussicht auf eine traurige Zukunft thematisiert werden. Lyrik und Narration

      Auffälligerweise arbeiten gerade die Lieder mit einer Zeitstruktur auch mit oft nur angedeuteten Raumvorstellungen. Das gilt etwa für Lied IV (MF 209,5), in dessen Verlauf Strophe 1 eine Zeit- und Strophe 2 eine darauf bezogene Raumstruktur stiftet. In Lied VIII (MF 212,13) wird das Moment der räumlichen Ferne explizit mit Gegenwart und Zukunft verbunden und auf die Gefahr einer möglichen Untreue bezogen. Das in seiner Echtheit umstrittene Lied XII (MF 214,34) verbindet in der ersten Strophe das Motiv der Ferne mit dem des Dienstes, der in diesem sumer (MF 214,38) geleistet werden soll. Und auch die in den Handschriften Hartmann zugewiesene Strophe 3 erzählt ganz in der Art der anderen Hartmann-Lieder eine Geschichte vom wandel (zehant bestuont si ein ander muot, MF 217,4), die in eine Zeit- (êrste rede…ie…zehant…nien…iemer) und Raumstruktur (nâhen…in mac von ir niht komen) eingebunden ist (Strophe 4 und 5 sind eher begrifflich orientiert und auf das Thema ‚Leid‘ bezogen). Lyrik und Narration

      Die eingangs erwähnte Einschätzung der hartmannschen Lyrik als ‚didaktisch‘, ‚sentenziös‘ oder ‚intellektuell‘ könnte man aus der Perspektive der Gattungsdifferenzen als Folgen einer erzählerischen Grundhaltung im Lied interpretieren. Die Lieder werden von einem ErzählerErzähler / Erzählinstanz erzählt, der nicht auftritt bzw. sich hinter dem erzählenden Ich verbirgt. Lied IX (MF 212,37) deutet in einem Vers von Strophe 1 (MF 213,2) eine kleine Verführungsgeschichte durch list an, erzählt in Strophe 2 einiges über die Macht der Worte und isoliert in Strophe 3 die erzählende Dame dadurch, dass der Blick auf andere Handlungsoptionen freigegeben wird. Lied XIV (MF 216,1) erzählt die Geschichte eines Dilemmas und lässt uns an den anschließenden Reflexionen über unterschiedliche Handlungsoptionen teilhaben. Die Dame wird im Ergebnis dieses Denkprozesses die Minnesangrigiden Normen ihrer vriunde unterlaufen, indem sie ihnen zwar zu gehorchen scheint, tatsächlich aber ein unerlaubtes Liebesverhältnis beginnen will. Die Voraussetzung dafür ist zum einen die Diskretion des Mannes und zum anderen die Klugheit der Dame, mit der sie genau der Zwickmühle (das getilte spil, MF 216,8f.) entkommen wird, in die auch die Romanfiguren Enite (HaEr 3153–3155) und Iwein (HaIw 4872f.) geraten sind. Umgekehrt vertraut sich in Lied XIII (MF 215,14) das männliche Ich einer Frau an, deren wîplichen Verstand (sin) es als Voraussetzung dafür akzeptiert, dass dem herze auch dann kein Leid geschieht, wenn der lîp in der Ferne ist. Diese erzählerisch entfaltete Reflexion mündet unversehens in eine kleine Genreszene von Abschied und Erhörtwerden, in der im Grunde alle narrativen Möglichkeiten, die dem Lyriker zur Verfügung stehen, zusammengeführt werden: Erinnert wird aus der Ferne ein angedeutetes, aber nicht auserzähltes Erlebnis, das zeitlich zurückliegt. Lyrik und Narration

      Die zum Ende des 12. Jahrhunderts entwickelten lyrischen Sprechweisen, die auf Präsenz und Gegenwärtigkeit zielen – das Leid des Mannes, das im Lied ‚vorgeführt‘ wird, ist jetzt und immer und die Abweisung der Dame zeitlos – werden in den hartmannschen Liedern zum einen oft mit einer ‚wenn-dann‘-Konstruktion auf ihre ‚logischen‘ Bedingungen hin geprüft, zum anderen narrativ angereichert. Hartmanns Lieder haben selbst im performativen