davon, dass es sich nicht um Frühneuhochdeutsch, sondern um ein Mittelochdeutsch des 13. Jahrhunderts handelt, weist die Schreibsprache von W Überlieferungmitteldeutsche Merkmale mit niederdeutschen Einflüssen auf – auch hier war also ein Schreiber am Werk, der Hartmanns Werk nach den Gegebenheiten seiner eigenen Sprache aufgeschrieben hat (vgl. Klein 2007).
FassungFassungsdivergenzDie Wolfenbütteler Fragmente bieten einen Text von Hartmanns ‚Ereck‘, der nicht nur sprachlich, sondern auch gestalterisch anderen Kriterien unterworfen ist als der viel später entstandene des Ambraser HeldenbuchesAmbraser Heldenbuch. Im Jahr 1978 sind in Wolfenbüttel weitere Fragmente dieser Handschrift aufgetaucht: ein Pergamentblatt, das in schmale Streifen zerschnitten wurde, um den Einband einer anderen Handschrift zu verstärken. Beim Zusammensetzen der einzelnen Streifen konnte man feststellen, dass sie vom selben Schreiber und derselben Handschrift stammen wie die beiden bereits bekannten Wolfenbütteler Blätter. Auch sie beinhalten, soweit man das bei diesem zerschnittenen Blatt noch erkennen kann, Teile der ‚Ereck‘-Handlung. Der hier gefundene Text gibt eine Szene aus dem Kampf zwischen Ereck und GifuraisGifurais wieder, in der Handlung also unweit der Stelle, an der die zuerst entdeckten Wolfenbütteler Fragmente einsetzen. Doch hat die hier geschilderte Szene überhaupt keine Parallele im Ambraser Heldenbuch, sondern ist viel stärker an die französische Vorlage Vorlagefranzösischeangelehnt. Dieser verwirrende Befund deutet darauf hin, dass es im 13. Jahrhundert offenbar noch eine weitere (aufgrund der Schreibsprache wohl hauptsächlich im mitteldeutschen Bereich kursierende) Version des ‚Ereck‘ neben der Hartmanns von Aue gegeben haben muss. Diese These wird durch die jüngst entdeckten Fragmente aus dem Kloster Zwettl ( Z) gestützt: Auch hier handelt es sich um insgesamt 11 kleine Papierschnipsel, die zur Verstärkung von barocken Einbänden in Bücher geklebt und erst bei der Restaurierung freigelegt und 2002 (das letzte erst 2013) bekannt wurden (→ Abb. 2.10.). Auch sie präsentieren einen ‚Ereck‘-Text in mitteldeutscher Schreibsprache, der nicht mit dem des Ambraser HeldenbuchsAmbraser Heldenbuch übereinstimmt, sondern sich viel enger an ChrétienChrétien de Troyes anlehnt (vgl. Glauch 2009b, Hammer/Reuvekamp-Felber 2014). Die Textausschnitte stammen aus dem ersten Teil der Handlung, etwa um das Hoffest nach der Hochzeit zwischen Ereck und ÜberlieferungEnite.
Der ‚mitteldeutsche Ereck‘ im 2002 entdeckten Zwettler Fragment (Mitte des 13. Jahrhunderts).
FassungFassungsdivergenzOb dieser zweite, ‚mitteldeutsche Ereck‘ ein Vorläufer oder ein Nachahmer Hartmanns ist oder vielleicht gar ebenso von diesem selbst stammt, bleibt erneut im Dunkeln (zur Diskussion vgl. Nellmann 1982, Gärtner 1982). Es ist allerdings schon sehr erstaunlich, dass die Wolfenbütteler Fragmente aus einer Handschrift stammen, die offenbar zunächst jene zweite, mitteldeutsche ‚Ereck‘-Version beinhaltete und dann, etwa ab der Mitte der Handlung, zum Text Hartmanns, wie wir ihn aus dem Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch kennen, übergeht. Es handelt sich also um die Kompilation zweier unterschiedlicher Versionen, wahrscheinlich auch zweier Autoren. Es wäre demnach sogar denkbar, dass Hartmann einen Vorläufer hatte und der erste Artusroman in deutscher Sprache gar nicht ihm zuzuschreiben ist! Genauso denkbar wäre freilich auch, dass die zweite, mitteldeutsche Version nur an einigen Stellen in den Text Hartmanns eingegriffen hat, also quasi eine sehr eigenständige Bearbeitung Hartmanns darstellt. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass jener zweite ‚Ereck‘-Roman nie vollständig existiert hat, sondern irgendwo in der Mitte zugunsten Hartmanns Darstellung abbrach (vielleicht, weil sich Hartmanns Version bereits durchgesetzt hatte?). Spekulationen ließen sich viele anbringen, Gewissheiten gibt es jedoch keine: Die wenigen, z.T. kaum mehr lesbaren Fragmente werfen mehr Fragen auf, als sie klären, und die einzige annähernd vollständige Handschrift ist so weit von der Entstehungszeit des ‚Ereck‘ entfernt, dass auch hier wenig Rückschlüsse über die Tradierung und Überlieferungsgeschichte gezogen werden können. Wir müssen uns damit begnügen: Die tatsächlichen Verhältnisse aus der Zeit Hartmanns werden wir wohl niemals nachvollziehen können. Umso mehr müssen wir uns bei der Interpretation dessen bewusst Überlieferungsein, dass wir stets mit Rezeptionszeugnissen arbeiten. FassungFassungsdivergenz
2.2.4. Die Lyrik: Überlieferung im Zeichen von mouvance und Performanz
Die Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik ist grundsätzlich anders gelagert als die narrativer, epischer Texte. Das liegt nicht zuletzt daran, dass mittelalterliche Lyrik stets mit einer spezifischen AufführungssituationVortrags--situationAufführung verbunden war. MinnesangMinnesang war, wie der Name schon nahelegt, keine ‚Leselyrik‘, sondern wurde vor Publikum vorgetragen, und diese PerformanzPerformanz sorgte dafür, dass die Texte schon von vornherein wandelbar waren, um dem Publikum und der Aufführungssituation angepasst zu werden. Wie genau sie aufgeführt worden sind, wissen wir heute zwar nicht mehr (zur Diskussion vgl. Boll 2007, pointiert zugespitzt die Thesen von Haferland 2000:65–90), doch zumindest sind für einige der Lieder auch Noten überliefert, so dass man davon ausgehen kann, dass sie als einstimmige Melodien vorgetragen wurden (vgl. zum Überblick Schweikle 1995:54–61, mit zahlreichen Literaturhinweisen). Der Vortrag kann zunächst durch die Dichter persönlich erfolgt sein, daneben gab es aber auch fahrende Sänger, die Texte ihrer ‚Kollegen‘ vortrugen.Vortrags--praxis Die Lieder des Minnesangs waren auf diese Weise noch das gesamte 13. Jahrhundert hindurch lebendig und sind wahrscheinlich auch nach dem Tod ihrer Dichter noch eine ganze Weile auf mündlichem Wege weitergegeben worden. Möglicherweise gab es gleichzeitig auch schon so etwas wie ‚Liederbücher‘, kleinere Sammlungen von Liedern verschiedener Autoren, die als Vortragshilfe benutzt werden konnten; erhalten geblieben ist davon freilich nichts mehr.
Es ist auffällig, dass etwa um 1300 fast zeitgleich mehrere umfangreiche Textsammlungen angelegt wurden, die drei wichtigsten sind heute die Weingartner LiederhandschriftLiederhandschriftenWeingartner Liederhandschrift (B) (B) sowie die kleineLiederhandschriftenKleine Heidelberger Liederhandschrift (A) (A) und die große Heidelberger LiederhandschriftGroße Heidelberger Liederhandschrift (C); letztere besser bekannt unter dem Namen Codex ManesseLiederhandschriftenCodex Manesse (C). Bei dieser handelt es sich um eine äußerst prachtvoll gestaltete, großformatige (etwa 35x25 cm) Handschrift, welche die einzelnen Lieder nach Autoren ordnet, wobei jedem Œuvre als ganzseitige Miniatur ein Bild Autorbild (Miniatur)vorangestellt wird, das den jeweiligen Autor zeigen soll (in idealisierter Form, keinesfalls als Portrait, → Abb. 1.2.). Genauso aufgebaut, allerdings in kleinerem Format (etwa Taschenbuchgröße) ist die Weingartner Liederhandschrift B (→ Abb. 1.1.), während A ebenfalls kleinformatig und nach Autoren geordnet, jedoch ohne Illustrationen angelegt ist. Mehrere Fragmente belegen, dass um diese Zeit offenbar noch Überlieferungweitere vergleichbare Sammlungen entstanden sind; offenbar war es knapp ein Jahrhundert nach dem Wirken der meisten Dichterpersönlichkeiten notwendig geworden, deren Texte schriftlich aufzuzeichnen und auf diese Weise zu bewahren. Dies scheint inzwischen losgelöst von einer konkreten Aufführungssituation geschehen zu sein, da Melodien selten mitüberliefert sind; freilich wäre es trotzdem denkbar, dass die Melodien aus dem Gedächtnis heraus noch bekannt waren und die Lieder weiterhin zur Aufführung kamen – immerhin werden in den Handschriften noch sogenannte Töne, also Melodievorgaben, genannt.Vortrags--praxis
LiederhandschriftenCodex Manesse (C)LiederhandschriftenWeingartner Liederhandschrift (B)LiederhandschriftenKleine Heidelberger Liederhandschrift (A)Hartmanns Lieder (→ Kap. 3.) sind in allen drei großen Handschriften überliefert, doch (man ahnt es schon) wiederum in großer Varianz. Schon die Anzahl der Strophen ist höchst unterschiedlich. C überliefert unter dem Namen Hartmanns insgesamt 60, B 28 und A nur 10 Strophen, wobei Reihenfolge und Wortlaut teils weit auseinandergehen. Acht der insgesamt 18 Lieder finden sich ausschließlich in C, die damit die vollständigste Sammlung präsentiert. Doch bei den Liedern, die mehrfach tradiert sind, geht die Überlieferung z.T. weit auseinander. Stellvertretend sei ein typisches Beispiel genannt: Das Lied I (Sît ich den sumer truoc riuwe unde klagen, MF 205,1) ist in B und C überliefert. In B steht es gleich an erster Stelle des Hartmann-Œuvres und besteht aus lediglich zwei Strophen: In der ersten beklagt das Sänger-Ich seine unerfüllte