an der unglücklichen Situation. In C gibt es dagegen gleich vier Strophen: Nach den beiden auch in B überlieferten Strophen schließen sich zwei weitere an, die allerdings inhaltlich keine Neuerung bieten, sondern die ersten zwei Strophen lediglich variieren; erneut geht es um Klage (Str. C 3) und um Selbstanklage (Str. C 4). Auch hier ist nicht zu entscheiden, welche die ‚ursprüngliche‘ Version war. Möglich wäre, dass in B Strophen verlorengegangen sind. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es sich stets um ein nur zweistrophiges Lied gehandelt hat, das allerdings variabel gestaltet war (so Kühnel 1989:13f.). Je nach Publikum und AufführungssituationVortrags--situation konnte der Sänger die Strophen austauschen, also die 3. Strophe statt der 1. oder die 4. statt der 2. wählen, die jeweils Variationen eines Themas (Anklage der Frau, Selbstanklage) sind. Dazu würde passen, dass C zwischen der zweiten und dritten Strophe noch ein ÜberlieferungVerweiszeichen eingefügt hat (→ Abb. 2.11.), das sich auf eine auf dem nächsten Blatt nachgetragene Strophe bezieht, welche erneut eine motivliche Variation der (in B und C) zweiten Strophe (Selbstanklage des Sänger-Ichs) beinhaltet. Während der Schreiber/Kompilator der Handschrift B entweder nur die eine Variante kannte oder sich auf eine bestimmte festgelegt hatte, kam es dem der Handschrift C darauf an, möglichst alle Variationen zu bewahren. Die nachgetragene Variationsstrophe wäre ihm dann möglicherweise erst später, z.B. aus einer anderen Vorlage, bekannt geworden und der Vollständigkeit halber mit Verweiszeichen auf das entsprechende Lied an anderer Stelle nachgetragen worden. LiederhandschriftenCodex Manesse (C)LiederhandschriftenWeingartner Liederhandschrift (B)LiederhandschriftenKleine Heidelberger Liederhandschrift (A)
mouvanceSchon an diesem Beispiel zeigt sich, wie sehr der performative Akt der Aufführungspraxis Vortrags--praxisdie Überlieferung der Lieder beeinflusst haben dürfte – zumal deren Aufzeichnung deutlich später und vermutlich abgekoppelt von der eigentlichen Darbietung stattgefunden hat; die großen Liederhandschriften bilden viel eher Sammlungsinteressen denn Aufführungsabsichten ab. Von den Liedern sollte offenbar möglichst alles, was noch bekannt ist, erhalten werden, was dazu führte, dass entweder alle verfügbaren Varianten aufgezeichnet wurden (wie im oben beschriebenen Fall von C) oder nur eine bestimmte (wie in B). Ein derartiger Befund ist typisch für die mittelhochdeutsche Lyrik-Überlieferung, wobei nicht nur die Strophenanzahl variabel sein kann, sondern auch die Reihenfolge der Strophen. Variationsmöglichkeiten wie oben beschrieben sind dafür nur eine Erklärung; durch Weglassen oder Hinzufügen bestimmter Strophen können natürlich auch ganz andere Aussagen entstehen, ebenso durch die Reihenfolge, wie sich z.B. am Lied II zeigt (Swes vröide an guoten wîben stât, MF 206,19): In allen drei Handschriften ist es mit drei Strophen überliefert, in A und C in der gleichen, in B jedoch in umgekehrter Reihenfolge. Die Strophenfolge in A und C ergibt eine typische Klage über das (‚Minne-‘)Paradox, dass die Frau für das Sänger-Ich unerreichbar bleibt, während die umgekehrte Strophenfolge in B nicht in Klage endet, sondern mit der halbwegs Überlieferungoptimistischen Aussicht der vröide an guoten wîben.
Beginn des Hartmann-Œuvres in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) mit einer Markierung zwischen der zweiten und dritten Strophe (linke Spalte).
Dieses als mouvancemouvance bezeichnete Phänomen, das die Beweglichkeit der Strophen innerhalb der mittelhochdeutschen Lyriküberlieferung kennzeichnet, hängt ebenfalls mit der bereits beschriebenen Diskrepanz zwischen der Aufzeichnung des bloßen Textes und der Aufführungssituation zusammen. Vortrags--praxisWährend die Sänger die Lieder bei der Darbietung immer wieder variieren, neu gestalten, verändern, anpassen und damit flexibel auf das Publikum reagieren konnten, geht eine solche Flexibilität bei der schriftlichen Aufzeichnung verloren. Diese mitunter auch spontane Möglichkeit der Variation abzubilden, ist in der Schrift unmöglich – ebenso wenig wäre es möglich, um ein modernes Beispiel anzubringen, ein Drehbuch für die Aufführung einer Stand-up-Comedy zu schreiben. Verschriftlicht werden die Lieder vielmehr statisch, sie bilden gewissermaßen nur eine spezifische Möglichkeit der Aufführung, eine spezielle Lesart ab, oder sie versuchen, wie es der prachtvolle Codex Manesse tut, möglichst alle Varianten zu erfassen, was die sich aus dem Augenblick der Performanz heraus ergebende Flexibilität und Beweglichkeit der Lyriktexte aber erst recht nicht abzubilden vermag.
Doch nicht nur die Überlieferung der Lieder an sich, ihre Strophenzahl und -reihung sowie teilweise Überlieferungauch ihre inhaltliche Ausgestaltung erweisen sich als äußerst variabel, sondern sogar die Autorzuschreibung ist bisweilen offen. So ist das Lied XII (Dir hât enboten, vrouwe guot, MF 214,34) in A und C unter Hartmanns Namen überliefert, und zwar als dreistrophiges Lied. Das gleiche Lied taucht noch in einer anderen Handschrift, dem sogenannten Hausbuch des Michael LeoneHausbuch des Michael LeoneLiederhandschriftenWürzburger Liederhandschrift (E) (E) auf – dort aber in einer Sammlung von Liedern Walthers von der Vogelweide. Die ersten drei Strophen stimmen mit den in A und C unter Hartmanns Namen überlieferten überein, danach folgt noch eine weitere Strophe, die in einer anderen, nur fragmentarisch überlieferten Handschrift LiederhandschriftenHaager Liederhandschrift (s)(s) ebenfalls WaltherWalther von der Vogelweide zugeschrieben wird (aber als Einzelstrophe, also ohne in den Kontext eines größeren Liedes gestellt zu werden). Eine Strophe im gleichen Ton, die gewissermaßen auf Hartmanns Lied parodistisch zu reagieren scheint, findet sich zusätzlich noch in C und E unter den Liedern Walthers. Es wäre also möglich (so Kühnel 1989:29), dass Walther von der Vogelweide Hartmanns Lied aufgegriffen und parodiert hat, wobei C dann das eigentliche Lied unter Hartmanns Namen, die ‚Parodie-Strophe‘ aber unter Walthers Œuevre überliefert hätte, während E das komplette Lied allein Walther zuschrieb.
Doch auch das muss notwendigerweise Spekulation bleiben. Es kommt häufig vor, dass die Handschriften die gleichen Lieder oder einzelne ihrer Strophen unterschiedlichen Autoren zuschreiben – vermutlich, weil auch hier die Aufführungspraxis Vortrags--praxisso gewesen sein könnte, dass die Sänger (besonders wenn sie ihre eigenen Lieder vortrugen) auch Lieder der Konkurrenten aufgriffen und entsprechend verarbeiteten. So wird das Lied XVIII (Wê, war umbe trûren wir, 38MF:429f.) in verschiedenen Handschriften mal Hartmann, mal Walther und einzelne Strophen sogar ReinmarReinmar der Alte zugeordnet. Dennoch zeigt gerade die Lyrik-Überlieferung, dass es durchaus einen ausgeprägten Autor- und Werkbegriff gegeben hat, sind doch die Handschriften meist nach Autoren geordnet, auch wenn nicht immer alle Werke konsequent den gleichen Dichtern zugewiesen werden. Das freilich dürfte eng mit der mündlichen Aufführungssituation zusammenhängen, deren Eigenheiten im Zuge der Verschriftlichung kaum mehr abgebildet werden können.
2.3. Fazit
Am Phänomen der mouvancemouvance und der unterschiedlichen Autorzuschreibung mancher Lieder zeigt sich vielleicht Überlieferungam deutlichsten, dass die Sicht auf den Autor und sein Werk im Rahmen der mittelalterlichen Überlieferung in einem ganz anderen Lichte erscheint als in der Neuzeit. Wir sind es gewohnt, einem Autor ein festes Œuvre zuzuweisen, seine Werke gedruckt und gebunden zu lesen, und wir erwarten, dass diese Werke in dieser Form unveränderlich feststehen. Auch wenn die Lyrik-Handschriften genau das abzubilden scheinen, sind all dies Eigenschaften, die für die mittelalterliche Literatur so nicht gelten. Wenn wir heute Hartmanns Werke in modernen Ausgaben präsentiert bekommen, so erzeugt dies lediglich die Illusion eines modernen Buches. Was wir darin als Text lesen können, ist hingegen stets nur eine Möglichkeit dessen, was die mittelalterliche handschriftliche Überlieferung tatsächlich zeigt: Mittelalterliche Textualität ist viel stärker von einem offenen Werkbegriff und Textverständnis Textgeprägt.
Das gilt analog für das uns heute vertraute Konzept von AutorschaftAutorschaft, das viel weiter gefasst werden muss. Die besonders im Sturm und Drang idealisierte Vorstellung eines ‚Originalgenies‘Originalität, das alle künstlerische Schaffenskraft allein aus sich selbst hervorbringt, existiert im Mittelalter nicht – im Gegenteil: Hier ist es vielmehr entscheidend, sich auf bereits Bestehendes zu beziehen, also nichts Neues zu erschaffen, sondern das Traditionelle, Bekannte und Erprobte zu bewahren, weiterzuentwickeln und den veränderten Bedürfnissen anzupassen. Ein mittelalterlicher Autor schafft Neues nur auf vertrautem Boden. Neu mag vielleicht die Form sein, weniger aber der Inhalt,