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Hartmann von Aue


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(‚Armer Heinrich‘) und Überlieferungder MeierstochterMeierstochter (‚Armer Heinrich‘), deren weiteres Schicksal offen bleibt.

      Abb. 2.5.

      Zwei der elf Teile von Fragment E des ‚Armen Heinrich‘ (um 1300).

      FassungFassungsdivergenzDa die Entstehungszeit dieser Handschrift aus paläographischen Gründen noch ans Ende des 13. Jahrhunderts zurückreicht, scheint es sich nicht um eine v.a. für das Spätmittelalter typische KurzfassungFassungKurzfassung zu handeln, wie sie beispielsweise mit der ‚Iwein‘-Handschrift z vorliegt (s.o.). Da man außerdem anhand der erhaltenen Versanfänge sowie der Blattgrößen in etwa den ursprünglichen Gesamtumfang des Textes von E errechnen kann, lässt sich feststellen, dass die wesentlichen Kürzungen v.a. den Prolog und eben das Ende betroffen haben, der Textbestand ansonsten aber offenbar nicht wesentlich kürzer gewesen sein dürfte. Das legt den Schluss nahe, dass es sich bei E nicht einfach um eine gekürzte Fassung handelt, sondern um eine Textform, die der des religiösen Exempels nahesteht (Hammer/Kössinger 2012:158f.). Dazu würde die Anonymität des Textes passen (die Autornennung fällt ja mit dem Prolog weg), v.a. aber der rasche Abschluss der Handlung, der dann den Akzent ganz auf die gnadenvolle Heilung setzt und sich für das weitere Schicksal der Protagonisten nicht interessiert. Dass der Text jedenfalls für didaktische Zwecke geeignet war, zeigt die Aufnahme des Stoffes in lateinische ExempelsammlungenBreslauer Exempelkollektionen (Mertens 2004:939–941), wo der Erzählstoff vom Armen Heinrich als exemplarische Geschichte dargeboten wird, um Gottes Gnade und Barmherzigkeit unter Beweis zu stellen, welche den sündigen Menschen vom Aussatz (der dann weniger im wörtlichen denn im übertragenen Sinne zu sehen ist) heilen kann.

      FassungFassungsdivergenzDie Überlieferung von ‚Iwein‘ und ‚Armer Heinrich‘ könnte also unterschiedlicher nicht sein. Der Artusroman ist in zahlreichen Handschriften erhalten, der kurze, legenden- oder Überlieferungexempelhafte ‚Arme Heinrich‘ dagegen nur in drei vollständigen Handschriften. Dennoch zeigt sich ein vergleichbares Bild, denn beide Texte präsentieren sich in ganz unterschiedlichen Fassungen, die insbesondere im Erzählschluss ausgesprochen prägnant voneinander abweichen. Welche Fassung nun das ‚Original‘ Fassungautorisierte F.von Hartmann ist, wäre dabei erneut die falsche Frage. Man kann nur aus der Rezipientenperspektive argumentieren: Offensichtlich lassen sich gerade an den Schluss des ‚Iwein‘ seit jeher ganz unterschiedliche Interpretationsangebote anschließen, und zwar bis ins Spätmittelalter hinein, was das Bewusstsein für und die Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen der handelnden Figuren unterstreicht. Es gibt daher keinen ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘ Schluss; die beiden Fassungen existieren praktisch von Beginn an nebeneinander.

      FassungFassungsdivergenzÄhnlich sieht es beim ‚Armen Heinrich‘ aus, nur dass die geringere Zahl der erhaltenen Überlieferungsträger hier für Unsicherheiten sorgt. Dennoch zeigt sich zumindest, dass am und mit dem Text gearbeitet worden ist, der grundsätzlich offen für Veränderungen und unterschiedliche Interpretationsmodelle war. Verbunden bleiben alle Texte dennoch stets mit dem Namen Hartmann von Aue, dessen schöpferische Tätigkeit damit für die Rezipienten hinter jeder Fassung steht; lediglich die an religiöse Exempel angelehnte und ohne Autornennung überlieferte Fassung E des ‚Armen Heinrich‘ bildet hier eine Ausnahme und zeigt dadurch, wie sich die Übernahme in andere Erzählgenres regelrecht verselbständigt: Da sich der Stoff für Exempeldichtungen eignet, wird der Kern der Erzählung innerhalb derartiger Kontexte losgelöst vom Autor weitertradiert – erst recht erweist sich darin die prinzipielle Offenheit mittelalterlicher Textualität, die unabhängig von Konzepten wie dem des Autors und des Originals‘ von ‚echt‘ oder ‚falsch‘ funktioniert.

      2.2.3. Lückenhafte Überlieferung: Der ‚Ereck‘

      Ganz anders stellt sich die Situation beim ersten Artusroman in deutscher Sprache, dem ‚Ereck‘, dar. Hartmanns mutmaßlich erstes Werk wird in der Literatur des 13. Jahrhunderts immer wieder erwähnt, so in Wolframs ‚Parzival‘Wolfram von Eschenbach‚Parzival‘ (mit Hartmann als Autor verbunden) oder dem ‚Welschen Gast‘ des Thomasin von ZerklæreThomasin von Zerklære, ‚Welscher Gast‘, einem Lehrgedicht für höfische Tugenden und Verhaltensweisen (vgl. Wolf 2008:26 und 258f.). Entgegen dieser offensichtlichen Präsenz im literarischen ÜberlieferungBewusstsein ist die Überlieferungslage aber denkbar schlecht: Neben ein paar Fragmenten aus dem 13. und 14. Jahrhundert finden wir den gesamten Text überhaupt nur in einer einzigen Handschrift (A), und nicht einmal dort ist er vollständig erhalten. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Handschrift erst Anfang des 16. Jahrhunderts angefertigt worden ist, also über drei Jahrhunderte nach der Entstehung des ‚Ereck‘: Das sogenannte Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch (benannt nach dem früheren Aufbewahrungsort Ambras in Österreich) wurde von niemand Geringerem als Kaiser Maximilian I.Maximilian I. in Auftrag gegeben. Maximilian war begeistert vom Mittelalter, präsentierte sich oftmals selbst als Ritter und hing so einem für ihn selbst schon längst vergangenen Zeitalter nach, das er idealisierte und als ‚letzter Ritter‘ bisweilen offenbar auch nachzuleben versuchte. Dementsprechend war er auch an der Literatur dieser Zeit interessiert (vgl. Müller 1982), und so beauftragte er den Zollschreiber Hans RiedRied, Hans, sich auf die Suche nach alten Handschriften zu machen und diese in einem großen, repräsentativen Codex abzuschreiben. Von 1504–1516 war Ried mit dieser Arbeit beschäftigt, wobei es offenbar nicht ganz einfach war, von allen Texten brauchbare Manuskripte aufzutreiben.

      Abb. 2.6.

      Überschrift zur ‚Mantel‘-Erzählung Überlieferungmit Ankündigung des ‚Ereck‘ im Ambraser Heldenbuch (A) (mittlere Spalte unten, vgl. Abb. 2.7.).

      Das Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch ist für die Literaturwissenschaft von unschätzbarem Wert, da es nicht weniger als 15 Texte enthält, die ansonsten gar nicht oder nur in wenigen Fragmenten überliefert sind. Von Hartmanns Werken enthält es neben dem ‚Ereck‘ auch den ‚Iwein‘ sowie die ‚Klage‘ und ein weiteres minnedidaktisches Werk, das ‚zweite Büchlein‘‚Zweites Büchlein‘, das zur Abfassungszeit des Codex offenbar ebenfalls Hartmann von Aue zugeschrieben wurde. Die beiden minnetheoretischen Stücke sind gerahmt von den beiden Artusromanen ‚Iwein‘ und ‚Ereck‘, was darauf schließen lässt, dass hier gezielt ein ganzer Block aus dem Hartmann-Œuvre aufgeschrieben werden sollte, und zwar allesamt Werke, in denen über das Thema der höfischen Minne reflektiert wird. Hans RiedRied, Hans hat die Texte aus seinen wohl sehr alten, aber nicht immer vollständigen VorlagenVorlage mit kalligraphischer Genauigkeit abgeschrieben, allerdings sprachlich modernisiert: Die mittelhochdeutsche Sprache seiner meist aus dem 13. Jahrhundert Überlieferungstammenden Texte überträgt er ausnahmslos in die frühneuhochdeutsche, Tiroler Mundart seiner Zeit. Wir finden Hartmanns ‚Ereck‘ daher nur in der Sprache des frühen 16. Jahrhunderts wieder, und da wir bis auf wenige Bruchstücke keine anderen Textzeugen mehr besitzen, ist es praktisch unmöglich, das mittelhochdeutsche ‚Original‘ Hartmanns wiederherzustellen – wenngleich fast alle Ausgaben anhand sprachlicher und stilistischer Vergleiche mit anderen Werken Hartmanns eine Rückübersetzung ins Mittelhochdeutsche unternommen haben. Das Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch ist daher in erster Linie ein Rezeptionszeugnis; anders als beim ‚Iwein‘ ist es für den ‚Ereck‘ und die ‚Klage‘ allerdings auch das einzige Überlieferungszeugnis.1

      Doch die Schwierigkeit einer über 300 Jahre jüngeren, sprachlich stark veränderten Textfassung ist nicht die einzige. Hinzu kommt nämlich das Problem, dass die Überlieferung des ‚Ereck‘ im Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch an zwei Stellen scheinbar unvollständig oder zumindest gestört ist, einmal gleich am Anfang und ein weiteres Mal in der Mitte der Handlung. Besonders problematisch ist die erste Stelle: Geht man nach den ‚üblichen‘ Konventionen der höfischen Romane sowie nach der französischen Vorlage ChrétiensChrétien de Troyes, so wäre auch für den ‚Ereck‘ ein Prolog zu erwarten, in dem der Autor sich nennt und den Stoff seiner Erzählung vorstellt,