das Herzblut einer Jungfrau im heiratsfähigen Alter sei, die sich freiwillig opfert, und ein Bauernmädchen genau dazu bereit ist, will er zuerst einmal dieses Opfer annehmen. Doch HeinrichHeinrich (‚Armer Heinrich‘) besinnt sich im letzten Moment: Kurz bevor das Mädchen von einem Arzt getötet wird, versteht er, dass er wie Hiob aus dem Alten Testament Gottes Willen geduldig ertragen muss, und bricht die Opferzeremonie ab. Diese Erkenntnis und die aus Mitleid erwachsende Rettung des Bauernmädchens honoriert Gott mit der Heilung Heinrichs. Die vielen religiösen Elemente erinnern an eine Legende, doch wird am Ende das irdische Leben nicht zugunsten einer jenseitigen Perspektive überwunden, sondern wiederhergestellt. In einer handschriftlichen Fassung heiratet nämlich der Adlige das Bauernmädchen und beide kommen nach einem langen glücklichen Leben in den Himmel. Der kleinepische Text weist in einer anderen handschriftlichen Fassung einen alternativen Schluss auf, der die legendarischen Züge stärker betont (→ Kap. 2.): Die Ehe wird sexuell nicht vollzogen, Heinrich wählt den geistlichen Stand und zieht sich wie das Mädchen für den Rest seines Lebens ins Kloster zurück, um Gott zu dienen. Der ‚Arme Heinrich‘ lässt stärker noch als der ‚Gregorius‘ erkennen, dass Weltliches und Geistliches in der ‚höfischen‘ Literatur keine Gegensätze darstellen, sondern (auf verschiedenste Art) miteinander verwoben sind (→ Kap. 11.). Und er zeigt, dass Hartmann Erzählmuster und Motive kennt, die in der lateinischen Gelehrtenkultur wurzelnklerikale Bildung. So begegnen Heilungsgeschichten von Aussätzigen nicht nur in der Bibel, sondern auch in der lateinischen Legendenliteratur. Daher verwundert es nicht, dass auch der ‚Arme Heinrich‘ im 14. Jahrhundert in lateinische Prosa (als ‚Henricus pauper‘ ‚Henricus pauper‘und ‚Albertus pauper‘ ‚Albertus pauper‘in zwei Breslauer Handschriften) übertragen wird (Wolf 2007:108f.). Hartmanns spezifische Leistung aber ist es, die traditionellen, aus dem Lateinischen stammenden Motive mit den profanen Inhalten der ‚höfischen‘ Literatur kreativ zu verschränken: Als Protagonist im ‚Armen Heinrich‘ fungiert ein Ritter, das Opfermotiv wird in eine erotisch aufgeladene Beziehung zwischen Adligem und einem Bauernmädchen eingekleidet, das Ende wird (in einer Textfassung) von einem Märchenschluss dominiert.
Die originelle Verbindung lateinischer Texttypen mit profanen Inhalten der ‚höfischen‘ Kulturhöfische DichtungHofkultur kennzeichnet auch die ‚Klage‘ Hartmanns von Aue (→ Kap. 4.). Als erste deutschsprachige LehrdichtungLehrdichtung über die Liebe kann der Text keiner Gattung wirklich zugeordnet werden. Die ‚Klage‘ entzieht sich einer klassifikatorischen Gattungsbestimmung, weil sie durch ganz verschiedene generische – epische, lyrische, dramatische, epistolarische – Formen geprägt ist und sich durch ein dichtes Geflecht von Traditionsreferenzen auszeichnet. Hartmann experimentiert mit Überkommenem und akzentuiert etablierte Formen neu. So greift er einerseits in der formalästhetischen Ausgestaltung auf lateinische Leib-Seele-DialogeLeib-Seele-Dialog als Traditionskontext zurück und darüber hinaus auf das „Modell der abendländischen Selbstgespräche“ (Hess 2016:13). Diese Selbstgespräche in Form des selbstbetrachtenden Dialogs entstehen im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter (zu denken ist etwa an Augustins ‚Soliloquia‘Augustinus, ‚Soliloquia‘ oder Boethius’ ‚Consolatio Philosophiae‘Boethius, ‚Consolatio Philosophiae‘) und etablieren sich „als ‚sprachliche Technik der Selbstformung‘, mit der eine Neuausrichtung in Denken und Handeln erreicht wird“ (Hess 2016:71). Hartmanns originäre Leistung ist es, diesen Dialogtyp des Selbstgesprächs in die höfische Literatur eingeführt und ihn als Medium für deren Themen und Motive etabliert zu haben.
Neben dem Artusroman ist der MinnesangMinnesang die zweite zentrale Gattung der ‚höfischen‘ Periode der Literaturgeschichtehöfische Dichtung (vgl. zum Folgenden Johnson 1999:45ff. sowie Schnell 2012a, Schnell 2012b), die in Hartmanns Œuvre vertreten ist. Immerhin 18 Lieder können ihm zugewiesen werden (→ Kap. 3.). Mittelalterliche Lyrik unterscheidet sich signifikant von moderner Lyrik. Zwar sind formale Mittel wie Rhythmus und Reim vorhanden, allerdings schafft sie weniger Stimmung oder subjektives Empfinden, als es in der modernen Lyrik oft – aber auch nicht ausnahmslos – der Fall ist. Mittelalterliche Lieddichtung ist eine ausgesprochen intellektuell kalkulierte Form lyrischen Sprechens. Sie diskutiert mehr, als dass sie Empfindungen ausdrückt oder evoziert. Dabei ist es nicht so, als würden Gefühle und Empfindungen keine Rolle spielen, nur werden diese extrem typisiert und konventionalisiert. Trotz aller Konventionalität präsentiert aber das Minnelied seinen Inhalt als Erlebnis eines Einzelnen. Der geschilderten Situation kommt dabei aber höchstwahrscheinlich keine historische Referenz zu. Ein Ich singt in den Liedern also nicht über seine persönlichen Gefühle oder Erlebnisse, sondern reflektiert mit topischen Argumenten und rhetorischen Ausdrucksmitteln über konventionalisierte Gefühle. Mittelalterliche Liebeslyrik entspricht also weniger expressiven Formen des eigenen Gefühlsausdrucks als vielmehr Erzeugnissen der modernen Schlager- oder Popkultur. Sie ist eine Form von Rollenlyrik, nicht Erlebnislyrik. Auch wenn Hartmann von Aue eine ausgesprochene Kunstfertigkeit als Lyriker vonseiten der mediävistischen Forschung und anderer Autoren des 13. Jahrhunderts (Heinrich von dem TürlinHeinrich von dem Türlin sowie der Minnesänger von GliersDer von Gliers [SMS 8]) attestiert wird, hat er hier anders als in der Epik keine exzeptionelle Stellung. Während er in der Epik zur ersten Generation von Autoren gehört, die auf französische Romane zurückgreift und lateinische Texttypen neu akzentuiert, liegt die Sache in der Lyrik anders: Bereits seit etwa 1160 werden romanische Liedtypen in der deutschen Literatur adaptiert. Hartmann schließt in seinen Minneliedern an solche schon bestehenden deutschen Traditionen an. Alle vier lyrischen Subgattungen, die in seinem Œuvre vorkommen (Werbelied, Kreuzlied, Frauenlied, Minneabsage), hatten sich im deutschsprachigen Minnesang bereits ausgebildet. Generische Experimente oder Neuerungen bei der Etablierung von Gattungen kennt die Lyrik Hartmanns nicht. Er zeigt sich bei aller artistischer Virtuosität im Einzelnen als ein Lyriker, der bestehende deutschsprachige Traditionen fortführt und sich an etablierten Gattungskonventionen orientiert.
1.3. Fazit
Mit Hartmann von Aue begegnet uns ein ausgesprochen vielseitiger Autor, der lyrische, groß- und kleinepische Texte verschiedener Gattungen gedichtet hat und mit der romanischen, lateinischen und auch deutschsprachigen Literaturtradition bestens vertraut war. In seiner Traditionsbindung an romanische und einheimisch deutschsprachige literarische Formen zeigt sich Hartmann als typischer (aber qualitativ herausragender) Vertreter des hochmittelalterlichen Literaturbetriebs, in dem nicht das Dichten von Originalen, sondern v.a. das kunstvoll-überbietende (Nach-)Dichten bekannter Stoffe sowie die Retextualisierung bereits existierender Erzählungen (ähnlich wie heutzutage das Remake eines Films) hoch angesehen waren (Worstbrock 1999, Bumke/Peters 2005). Daneben besticht er durch die Neuakzentuierung lateinischer Texttypen, die er mit Motiven und Themen verschränkt oder auch wie in der ‚Klage‘ ausfüllt, die der sich entwickelnden ‚höfischen‘ Literatur des 12. Jahrhunderts entstammen. Vor allem in seiner Legende vom guten Sünder Gregorius, aber auch in seiner Erzählung vom Armen Heinrich wirken sprachliche Konventionen weiter, die sich bereits in der deutschsprachigen Literatur mit geistlicher Thematik im 11. und 12. Jahrhundert herausgebildet haben (Unzeitig 2010:231). Der Rückgriff auf die literarischen Formen der Leib-Seele-Dialoge und des selbstbetrachtenden Dialogs in der ‚Klage‘ zeigen darüber hinaus, dass Hartmann auch mit der lateinischsprachigen Literaturtradition vertraut war. Diese Texttypen sind in der deutschsprachigen Literatur vor Hartmann nicht vertreten.
Auch zeitgenössische und nachfolgende mittelalterliche Dichterkollegen weisen ihm eine Ausnahmestellung unter den deutschsprachigen Autoren zu und stellen ihn auf eine Ebene mit Wolfram von EschenbachWolfram von Eschenbach‚Parzival‘, dem Dichter des ‚Parzival‘ und des ‚Willehalm‘, sowie Gottfried von StraßburgGottfried von Straßburg‚Tristan‘, dem Verfasser des ‚Tristan‘. Sie rühmen v.a. Hartmanns sprachliche Virtuosität, seine gedankliche Brillanz und seine Gedankentiefe. Am eindrücklichsten hat dies Gottfried formuliert, der ihn als den größten lebenden Dichter bezeichnet und ihn mit schapel und lorzwî, also mit Sieges- und Lorbeerkranz, zum virtuellen Dichterkönig krönt:
Hartman der Ouwære
ahî, wie der diu mære
beide ûzen unde innen