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Hartmann von Aue


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gezielt vorgenommen wurden. Betrachtet man beispielsweise die reichhaltige Überlieferung des ‚Iwein‘, so weichen die einzelnen Handschriften teils erheblich voneinander ab. Es gibt nicht nur spätmittelalterliche Kurzfassungen,FassungKurzfassung vielmehr weisen schon die beiden ältesten Handschriften erhebliche Unterschiede auf (→ Kap. 2.2.2.1.). Derartige FassungsdivergenzenFassungFassungsdivergenz – d.h. verschiedene Versionen eines Textes ohne Abhängigkeitsverhältnis, die zwar in vielen Punkten meist wörtlich übereinstimmen, sich jedoch im Textbestand bzw. der Textfolge signifikant unterscheiden (Bumke 1996:42–53) – sind gerade für die Werke Hartmanns kennzeichnend, und es ist rückblickend oft nicht mehr zu entscheiden, ob überhaupt eine ‚echte‘ darunter ist oder zumindest eine, welche auf Hartmanns ‚Original‘ zurückgeht. Solche EchtheitsfragenEchtheitsdiskussion, wie sie die Textphilologie des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder gestellt hat, haben sich als wenig zielführend erwiesen. Denn es ist sehr heikel, derart unterschiedlichen Fassungen einen ‚primären‘ oder einen ‚sekundären‘ Status zuzuweisen, schon allein, weil damit eine gewisse Wertung verbunden ist, welche dann eine FassungFassungautorisierte F. schnell zu derjenigen erklärt, die allein vom Dichter autorisiert wäre – doch genau diesen Nachweis kann man nie erbringen, ja mehr noch: Er ist für das Verständnis des zeitgenössischen Publikums offensichtlich gar nicht wichtig gewesen. Entscheidend ist, dass alle Varianten in der mittelalterlichen Überlieferung Interesse gefunden, die Rezipienten die Erzählung also auf ganz unterschiedliche Weise wahrgenommen haben. Es ist daher angeraten, verschiedene Versionen oder Fassungen nicht auf ihren (ohnehin nicht mehr rekonstruierbaren) Ursprung zurückzuführen, sondern vielmehr gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen (so auch die Forderung der ‚New Philology‘New Philology, vgl. programmatisch Nichols 1990). Sie sind kulturhistorische Zeugnisse des Umgangs und der Auseinandersetzung mit den entsprechenden Erzählstoffen – und diese ÜberlieferungAuseinandersetzung kann im Rahmen einer HandschriftenkulturHandschriftenkultur mitunter so tiefgreifend sein, dass sie gravierende Spuren in der Textüberlieferung zurücklässt. Die Texte können dann entsprechend umgeschrieben werden, oder besser, sie erfahren Umformungen, die sich nach den Bedürfnissen der Rezipienten richten.

      Das bedeutet keineswegs einen Eingriff in ein Autororiginal, Fassungautorisierte F. allein schon, weil es ein derartiges Verständnis in der deutschen Literatur des hohen Mittelalters so noch gar nicht gibt. Der Text wird selbstverständlich weiterhin als einer von Hartmann, Wolfram oder Walther betrachtet. In der konkreten GebrauchssituationGebrauchssituation jedoch kommt den Rezipienten eine viel weitreichendere Verfügungsgewalt zu, als es in der Neuzeit möglich und denkbar wäre. Wo Texte durch den Druck in ein und derselben Gestalt massenhaft herausgegeben werden können, sind vergleichbare Veränderungen kaum mehr möglich. Erst der erneute Medienwandel des 21. Jahrhunderts zeigt parallele Tendenzen: Texte, die übers Internet verbreitet werden, sind einerseits weltweit in kürzester Zeit verfügbar, andererseits genauso schnell zu verändern und den Gegebenheiten anzupassen. Auch hier lassen sich die Spuren vielfach kaum mehr zurückverfolgen, ist die Verfügungsgewalt über Texte (gerade in der Anonymität des World Wide Web) wieder ungleich höher geworden, während das Prinzip der Autorschaft und des Originals im Schwinden ist. Das zeigt, wie wichtig es ist, den Überlieferungskontext der einzelnen Werke zu kennen, um derartige Bedingungen und Verhältnisse einschätzen zu können, denn in den meisten Fällen sind auch produktions- und rezeptionsästhetische Fragestellungen bei der Interpretation zu berücksichtigen.

      2.2. Die Überlieferung der Werke Hartmanns von Aue

      Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Überlieferung der Werke Hartmanns, so fällt auf, dass sie sich in den meisten Fällen als äußerst komplex erweist. In der Blütezeit der höfischen Literatur, also der Zeit um 1200 bis 1220, gehörte Hartmann von Aue vermutlich zu den bekanntesten deutschsprachigen Dichtern; dies erweist sich nicht zuletzt in zahlreichen zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen, die ihn nennen (→ Kap. 12.). Man sollte meinen, dass sich dieser Bekanntheitsgrad auch in der Überlieferung widerspiegelt, doch dies ist in der Mehrzahl der Fälle nicht so. Der ‚Ereck‘ und die ‚Klage‘ sind beide nur in Überlieferungdem zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstandenen Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch (weitgehend) vollständig überliefert. Ginge man allein nach der Zahl der Überlieferungsträger, so scheint der ‚Iwein‘ (15 vollständige Handschriften) ein deutlich beliebterer und bekannterer Text gewesen zu sein – freilich ist dies ein sehr unzureichendes Kriterium. Die Tradierung dieser Texte über Jahrhunderte unterliegt so vielen Zufällen, dass mit der Anzahl, dem Layout oder dem Entstehungszeitraum der Handschriften alleine nicht viel Aussagekraft gewonnen ist. Hinzu kommt, dass von einigen der Texte Hartmanns (das gilt auch für die Lyrik) nicht nur eine, sondern gleich mehrere Fassungen überliefert sind – im ‚Iwein‘ wie im ‚Armen Heinrich‘ weichen gerade die Erzählschlüsse in auffälliger Weise voneinander ab. Es ist daher nicht sinnvoll, die einzelnen Handschriften und Fragmente der jeweiligen Werke in toto aufzuzählen (vollständig erfasst im → Verzeichnis der Handschriften und Fragmente), vielmehr gilt es, die Eigenarten der teilweise sehr verworrenen Überlieferung herauszuarbeiten. Die Vorgehensweise richtet sich daher im Folgenden auch nicht nach chronologischen oder gattungstypologischen Kriterien, sondern vielmehr danach, ob und welche Auffälligkeiten sich in der Überlieferungssituation zeigen.

      2.2.1. Stabile, überschaubare Überlieferungsverhältnisse: ‚Klage‘ und ‚Gregorius‘

      Ausgesprochen überschaubar ist die Überlieferung der ‚Klage‘, denn sie ist nur in einer einzigen Handschrift, dem sogenannten Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch überliefert. Dabei handelt es sich um eine besonders junge Handschrift vom Beginn des 16. Jahrhunderts. Zwischen Entstehung und einziger Überlieferung liegen somit über drei Jahrhunderte – eine Schwierigkeit, die auch für den ebenfalls nur dort (annähernd) vollständig überlieferten ‚Ereck‘ gilt und am Ende des Kapitels noch ausführlicher zu Sprache kommen wird (→ Kap. 2.2.3.). Auch der ‚Gregorius‘ weist insgesamt eine sehr stabile Überlieferung auf: Der Text ist neben sechs Fragmenten in insgesamt sechs Handschriften überliefert (→ Verzeichnis der Handschriften und Fragmente), die einen weitgehend übereinstimmenden Textbestand aufweisen. Eine Besonderheit ist allerdings erwähnenswert, denn sie ist typisch für die mittelalterliche Handschriftenkultur: In den älteren Handschriften fehlt nämlich der Prolog, diesen beinhalten nur Überlieferungzwei Handschriften aus dem 15. Jahrhundert. Da der ‚Gregorius‘ jedoch bereits Anfang des 13. Jahrhunderts durch Arnold von Lübeck ins Lateinische übersetzt wurdeArnold von Lübeck, ‚Gesta Gregorii Peccatoris‘ und darin aus dem Prolog zitiert wird, scheint dieser nicht erst im Spätmittelalter hinzugekommen zu sein, vielmehr haben die uns erhaltenen frühen Handschriften den Prolog offenbar weggelassen.

      Im Falle des ‚Gregorius‘ zeigt sich, dass nicht nur unterschiedliche Fassungen oder Versionen den Umgang der Rezipienten mit einem Text beleuchten können, sondern auch der Überlieferungskontext Überlieferungskontext– diejenigen Texte also, die in der Handschrift mitüberliefert sind. Das ist im Falle des ‚Gregorius‘ besonders für die umstrittene Frage des Status dieses Textes interessant, der ja Genregrenzen überschreitet: Handelt es sich um eine LegendeLegende oder einen höfischen Roman – oder um das ‚Gattungshybrid‘ eines Legendenromans? Derartige Fragestellungen einer neuzeitlichen Philologie evozieren freilich ein Gattungsbewusstsein, das es im Mittelalter so nicht gegeben haben dürfte. Das kann man hier besonders gut erkennen (vgl. Ernst 1996): Der ‚Gregorius‘ ist fast durchweg zusammen mit anderen religiösen Texten überliefert; in der späten Sammelhandschrift E aus dem 15. Jahrhundert steht er hingegen gemeinsam mit anderen Artusepen (u.a. dem ‚Iwein‘). Offenbar haben die mittelalterlichen Rezipienten den ‚Gregorius‘ also in den meisten Fällen in eine Reihe mit anderen Legendendichtungen gesetzt – aber eben nicht alle, denn zumindest eine Handschrift zeigt ja, dass man im Spätmittelalter weniger den legendarischen als vielmehr den höfischen Charakter der Erzählung ins Auge fasste. Das Changieren zwischen den Gattungen, zwischen Legendendichtung und ArtusromanArtusroman, lässt sich folglich bis in den Überlieferungskontext verfolgen, wenngleich die meisten Handschriften das Werk eher in einen legendarischen Zusammenhang stellen.

      2.2.2. ‚Iwein‘ und ‚Armer Heinrich‘: Variantenreiche Überlieferung