verweist das von Hartmann entworfene ritterliche Selbstbild auktoriale Selbstdarstellungin den Raum einer neu entstehenden und an der klerikalen Schriftkultur partizipierenden Form literarischer SchriftlichkeitSchriftlichkeit. Denn der gelehrte Ritter ist ja nicht zuletzt ein Ritter, der den Anspruch geistlicher Bildung ins Weltliche transponiert und so als Ausdruck für ein neues Selbst- und Kunstbewusstsein volkssprachlicher Dichtung verstanden werden kann. Der gelehrte Ritter, der über Lesekompetenzen und Bildungswissen verfügt, wird zum Repräsentanten und Protagonisten ‚höfischer‘ Dichtung. Diese Dichtung mit ihrer Schwerpunktsetzung auf profane, lebensweltliche Gegenstände (Ritterschaft, Liebe, Abenteuer) markiert eine literaturgeschichtliche Zäsur. Zwar gab es auch schon zuvor eine volkssprachliche Schriftlichkeit; diese aber diente Mönchen und Geistlichen fast ausschließlich dazu, den weniger Lateinkundigen Glaubenstexte und christlich-heilsgeschichtliche Inhalte nahezubringen. Ab Mitte des 12. Jahrhunderts begann dann eine kleine kulturelle Elite innerhalb des Laienadels Einfluss auf die literarische Produktion zu nehmen. Der Literaturbetrieb, der wahrscheinlich an den großen Fürstenhöfen sein neues Zentrum fand, wurde nun von ganz anderen Faktoren bestimmt als zuvor in den Klöstern. HofkulturDas Urteil und die Wünsche des Publikums dürften die literarischen Werke geprägt haben, aber die zentrale Instanz war der adlige Gönner, der die Tätigkeit der Autoren finanzierteAuftraggeberAuftragsdichtung. Ohne dessen Bereitstellung von literarischen Vorlagen, Schreib- und Beschreibstoffen sowie materieller Entlohnung ist die Entstehung der ‚höfischen‘ Literaturhöfische Dichtung nicht denkbar. Gleichwohl findet sich im Werk Hartmanns von Aue kein einziger Name eines Gönners. Ausgerechnet der bedeutendste ‚höfische‘ Autor des 12. Jahrhunderts verzichtet darauf, seinem Finanzier die Ehre zu erweisen und ihn namentlich zu erwähnen. Dies ist umso erstaunlicher, als nahezu unser gesamtes Wissen über die Gönnertätigkeit von Adligen den literarischen Texten selbst entnommen werden muss, da historische Quellen weitestgehend fehlen.
Im folgenden Abschnitt werden die bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen für diesen tiefgreifenden kulturellen Wandel dargestellt und das Werk Hartmanns von Aue in die literarische Entwicklung bis um 1200 eingeordnet. Dafür wird zunächst einmal die Frage erörtert, wer in der mittelalterlichen Gesellschaft überhaupt lesen und schreiben konnte und wie wir uns die Rezeption der neu entstehenden ‚höfischen‘ Literaturhöfische Dichtung vorzustellen haben (1.2.1.). Anschließend wird die Bedeutung der großen Fürstenhöfe für die Verbreitung der neuen literarischen Formen erörtert (1.2.2.) und die Vorreiterrolle der Romania skizziert (1.2.3.). Die deutschen Adeligen orientieren sich nämlich an der HofkulturHofkultur, die in verschiedenen Regionen des heutigen Frankreich schon in der ersten Jahrhunderthälfte entstanden war. Volkssprachliche Literatur war ein zentraler Bestandteil dieser romanischen HofkulturHofkultur und wurde ab ca. 1160 in der deutschen Dichtung adaptiert. Die deutschen Autoren übernahmen ausgewählte lyrische Subtypen und übersetzten Romane – so auch Hartmann von Aue, der zwei Artusromane Chrétiens de TroyesChrétien de Troyes ins Deutsche übersetzte, daneben aber auch auf einheimische und lateinische literarische Traditionen zurückgriff (1.2.4.).
1.2.1. Die klerikale Schriftkultur und der Bildungshorizont adliger Laien
SchriftlichkeitSchriftlichkeit hatte im Mittelalter, also vor der Erfindung des Buchdrucks, einen ganz anderen Stellenwert als in der Moderne. Sie war eine knappe kulturelle Ressource, einerseits bedingt durch die enormen Kosten des Beschreibstoffs Pergament (→ Kap. 2.), andererseits durch den geringen Bildungsgrad innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft. Nur eine kleine kulturelle und gesellschaftliche Elite verfügte über die finanziellen Mittel und Bildungsressourcen, an der Schriftlichkeit zu partizipieren. Lesen und schreiben lernte man in der Regel an Kathedral- und Klosterschulen. Bildung, klerikaleDie in lateinischer Sprache ausgebildeten Schüler waren für eine geistliche Laufbahn vorgesehen. Die Verkehrssprache im pragmatischen Schrifttum – in der Theologie, in der Verwaltung, im Recht, in der Wissenschaft usw. – war im 12. und 13. Jahrhundert nahezu ausschließlich Latein. Volkssprachliche Texte stellen nur einen Randbereich innerhalb der mittelalterlichen SchriftlichkeitSchriftlichkeit dar. Die Autoren umfangreicher Erzähltexte haben höchstwahrscheinlich eine klerikale Ausbildung erhalten und eine Lateinschule besucht, da sich sonst ihre umfangreichen Kenntnisse in Rhetorik, Theologie, Naturkunde usw. kaum erklären lassen. Zudem speisen sie in die volkssprachige Dichtung gelehrtes Wissen ein, das aus den lateinischen Text- und Bildungstraditionen stammt (Reuvekamp 2013). Als Rezipienten volkssprachiger Erzähltexte kommen in erster Linie Laienadelige infrage, die nicht für eine geistliche Laufbahn bestimmt und des Lateins nicht mächtig waren. Wie man sich konkret die Rezeption der volkssprachlichen Literatur vorstellen muss, ist in der Forschung umstritten. Die meisten Mediävisten gehen davon aus, dass Erzähltexte den laienadeligen Analphabeten vorgelesen wurden (Green 1994)Vortrags--praxis. Zeugnisse für eine solche Vorlesesituation sind aber spärlich und begegnen nur in der Literatur selbst. Wenn eine Lesung in der Dichtung als Motiv begegnet, dann sind es nicht schulgebildete Geistliche, die den Text an eine analphabete laienadelige Zuhörerschaft vermitteln, sondern (zumeist weibliche) Einzelpersonen aus dem Laienadel selbst. Charakteristisch für eine solche Lesung ist eine Stelle im ‚Iwein‘ Hartmanns, wo ein Mädchen ihren hochadeligen Eltern etwas auf Französisch vorliest:
unde vor in beiden saz ein magt,
diu vil wol, ist mir gesagt,
wälsch lesen kunde:
diu kurzte in die stunde.
ouch mohte sî ein lachen
lîhte an in gemachen:
ez dûhte sî guot swaz sî las,
wand sî ir beider tohter was. (HaIw 6455–6462)
Vor ihnen beiden saß ein Mädchen, die sehr gut, wie mir erzählt wurde, französisch lesen konnte. Die vertrieb ihnen die Zeit. Zudem konnte sie die beiden sehr leicht zum Lachen bringen: Was auch immer sie vorlas, gefiel ihnen, denn sie war ihrer beider Tochter.
Lesekundige Laienadelige begegnen allenthalben in der volkssprachlichen Literatur. Daraus ist gegen die Mehrheitsmeinung in der Mediävistik geschlossen worden, dass Lese- und Schreibkenntnisse im Laienadel weit verbreitet gewesen sein mussten (Scholz 1980, Ernst 1997). Die Divergenz der wissenschaftlichen Annahmen gründet in der schlechten Quellenlage, die es verunmöglicht, sich ein genaues Bild zu machen. Wenn man geneigt ist, den literarischen Zeugnissen über Lese- und Schreibfähigkeiten von Laien Erkenntniswert für die historische Wirklichkeit zuzugestehen, so bleibt dennoch das Dilemma, dass sich diese Zeugnisse widersprechen: Neben solchen, die den schriftliterarisch gebildeten Laienadeligen fokussieren, finden sich Texte, in denen Laien der Schrift verständnislos gegenüberstehen und auf die Hilfe klerikaler Vermittler angewiesen sind (Reuvekamp-Felber 2003). Vortrags--praxis HofkulturAm plausibelsten erscheint die Annahme, dass innerhalb der Gruppe des weitgehend schriftunkundigen Adels eine kleine kulturelle Elite existierte, die sich durch Lese- sowie Schreibkenntnisse auszeichnete und literarische Texte in Lesungen oder in privater Lektüre rezipierte. Denn auch für die private Lektüre von Literatur bietet die mittelalterliche Dichtung einige wenige Zeugnisse. Ein instruktives Beispiel begegnet in der Kurzerzählung ‚Der Welt Lohn‘ Konrads von WürzburgKonrad von Würzburg, ‚Der Welt Lohn‘ (nach 1250). Der Protagonist sitzt zu Beginn der Erzählung zu Hause und liest in einem Buch:
Sus saz der hôchgelobte
in einer kemenâten,
mit fröuden wol berâten,
und hæte ein buoch in sîner hant,
dar an er âventiure vant
von der minne geschriben.
dar obe hæte er dô vertriben
den tag unz ûf die vesperzît;
sîn fröude was