man die literarischen Selbstentwürfe auktoriale SelbstdarstellungHartmanns nicht biographisch auswerten kann, zeigt auch ein Beispiel aus der ‚Klage‘, einem selbstbetrachtenden Dialog, der in Form eines allegorischen Streitgesprächs über die richtige Art des Liebens zwischen dem Herzen und dem Körper entworfen ist. Der Prolog der ‚Klage‘ stellt dar, wessen Herz und Körper sich in welcher lebensweltlichen Situation streiten: Es sind das Herz und der Körper des jungen Hartmann, die aneinandergeraten, als seine Liebe von einer Frau nicht erwidert wird:
Minne waltet grôzer kraft,
wande sî wirt sigehaft
an tumben und an wîsen,
an jungen und an grîsen,
an armen und an rîchen.
gar gewalticlîchen
betwanc si einen jungelinc,
daz er älliu sîniu dinc
muose in ir gewalt ergeben
und nâch ir gebote leben,
sô daz er ze mâze ein wîp
durch schœne sinne und durch ir lîp
minnen begunde.
dô sî im des niht engunde
daz er ir wære undertân,
sî sprach, er solde sîs erlân.
Doch versuochte erz ze aller zît.
[…]
er klagete sîne swære
in sînem muote
und hete in sîner huote,
sô er beste kunde,
daz ez ieman befunde.
daz waz von Ouwe her Hartman,
der ouch dirre klage began
durch sus verswigen ungemach.
sîn lîp zuo sînem herzen sprach: […] (HaKl 1–17; 24–32)
Die Liebe besitzt große Kraft, denn sie besiegt die Dummen und die Weisen, die Jungen und die Alten, die Armen und die Reichen. Mit großer Gewalt bezwang sie einen Jüngling, sodass er sich ganz und gar ihrer Macht unterwerfen sowie nach ihrem Gebot leben musste und sich mit Anstand in eine Frau verliebte wegen deren Wohlerzogenheit und Schönheit. Als sie ihm nicht gewährte, ihr zu dienen, sagte sie, er solle sie damit in Ruhe lassen. Dennoch versuchte er es immer wieder. […] Er klagte sein Leid nur innerlich und hielt es verborgen, so gut er es vermochte, damit niemand es herausfände. Dieser (Jüngling) war Hartmann von Aue, der diese Klage wegen eines solch verschwiegenen Leids begann. Sein Körper sprach zu seinem Herzen: […]
Im Selbstentwurf als alter Mann im ‚Gregorius‘auktoriale Selbstdarstellung behauptete Hartmann, von der Qual der Liebe freigeblieben zu sein (ichn gewan nie liep noch ungemach, HaGr 798), hier stellt er sich als über beide Ohren verliebter Jüngling dar: ein Widerspruch, der sich biographisch nicht auflösen lässt. Das Bild des Alten, der in seiner Weisheit und neu gewonnenen Einsicht vor den Trügnissen dieser Welt warnt, wie das des Jungen, der in seiner Unerfahrenheit der Liebe verfällt, sind keine Aussagen über den realen Autor, sondern Selbstentwürfe, die der Legitimation des Erzählens dienen. Hartmann muss nicht alt gewesen sein, als er den ‚Gregorius‘ schrieb, und nicht jung, als er die ‚Klage‘ verfasste. Und es ist mithin auch fraglich, ob er ein Ritter war. Biographisches ist aus den literarischen Autorbildern nicht zu gewinnen. Seine Autorbilder sind ausschließlich funktionale Textgrößen, mit deren Hilfe die erzählte Geschichte und die Erzählinstanz in einer raffinierten literarischen Konstruktion verschränkt werden. Erzähler / Erzählinstanz
Das gilt nicht zuletzt für eine Selbstaussage Hartmanns im ‚Armen Heinrich‘auktoriale Selbstdarstellung, Autorsignaturder in der germanistischen Forschung immer noch biographischer Zeugniswert beigemessen wird: dienstman was er ze Ouwe (HaAH 5). In mittelalterlichen Rechtstexten bezeichnet der Begriff dienstman einen Ministerialen. Ein Ministeriale ist ein unfreier, im Dienst eines Laienadligen oder der Kirche stehender Mann. In der Forschung hat man Hartmann wegen dieser Selbstbezeichnung mit der Ministerialenfamilie von Aue in Verbindung bringen wollen, die sich nach dem Dorf Au bei Freiburg nannte und zur Ministerialität der Herzöge von ZähringenZähringer gehörte. Allerdings gibt es dafür genauso wenig einen Anhaltspunkt wie für die Spekulation, dass Hartmann im Auftrag der zähringischen Herzöge gedichtet hat. Zwar ist volkssprachliche epische Dichtung im Mittelalter nach allem, was wir wissen, AuftragsdichtungAuftragsdichtung. Hartmann nennt in seinen Texten jedoch anders als viele Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts keinen Auftraggeber. Und auch der dienstman-Begriff hilft bei der ständischen Einordnung unseres Autors nicht weiter, meint er in der Dichtung doch meist etwas anderes als in den Rechtstexten. Während er hier einen Vertreter der Ministerialität bezeichnet, bezeichnet er dort einen Mann, der in einem Dienstverhältnis jeder Art stehen kann. So werden in der Literatur Männer im Frauendienst als dienstman bezeichnet, auch wenn sie dem Hochadel entstammen. Eine ständische Einordnung Hartmanns mithilfe dieser Selbstbezeichnung lässt sich daher kaum rechtfertigen. Im ‚Armen Heinrich‘ fungiert Hartmann jedenfalls als gelehrter Dienstmann, der in verschiedenen Büchern nach einer Geschichte sucht, dâ mite er swære stunde / möhte senfter machen (HaAH 10f.). Der Begriff bezieht sich hier folglich auf Hartmann als Autor, der einen Schreibdienst leistet, nicht aber explizit auf Hartmann als Ministerialer. Autorschaft
Während wir über den sozialen Status und den Lebensraum Hartmanns nicht wirklich informiert sind, lassen die literarischen Zeugnisse Aussagen über seinen Bildungshorizont durchaus zu: Dieser ist nämlich als Summe der poetischen Möglichkeiten des Autors Autorschaftgreifbar. So konnte Hartmann nicht nur lesen und schreiben, sondern besaß auch umfängliches Wissen über Rhetorik und PoetikRhetorik und Poetik. Dies bezeugen seine Prologtopik im ‚Iwein‘ und im ‚Gregorius‘, die Kenntnisse poetischer Verfahren der dilatatio materiaedilatatio materiae (geradezu musterhaft vorgeführt in der Beschreibung von Enites Pferd im ‚Erec[k]‘, HaEr 8271–8747; vgl. dazu Worstbrock 1985), des aus antiken Dichtungen bekannten stichomythischen Dialogs (vgl. dazu Miedema 2006) u.a.m. Dieses Wissen konnte man sich im Mittelalter nach allem, was wir wissen, nur aneignen, wenn man als Geistlicher eine lateinische Schule in einem Kloster oder an einem Bischofssitz besucht hat. Hartmann dürfte eine solche geistliche Ausbildung erhalten haben, auch wenn er dies in keinem seiner Texte von sich behauptet.klerikale Bildung Nicht auszuschließen ist aber auch, dass die eigentlich der Selbstlegitimation dienenden Autorbilderauktoriale Selbstdarstellung partiell mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Vom Schlaraffenland könnte doch wirklich jemand erzählen, der gern und gut isst, oder ein Koch oder ein Hungerleider. Welchem Stand Hartmann angehört hat, als er seine Dichtungen verfasst hat, wissen wir nicht mit Sicherheit. So könnte er tatsächlich in den weltlichen Stand eingetreten sein, nachdem er eine klerikale Ausbildung erhalten hatte. Oder er könnte als Ministerialer gedient oder auch als alter Mann den ‚Gregorius‘ gedichtet haben. Den auktorialen Selbstentwürfen ist dies aber alles nicht zu entnehmen. Diese dienen erst einmal Hartmanns rhetorischer Strategie, sich Kompetenz qua fingierter Erfahrung zuzuschreiben, um sich als versierter Autor zu profilieren. Zugleich sind seine Selbstdarstellungen als Ritter und die um Liebe, Abenteuer und Gewalt kreisenden Texte auch Ausdruck eines tiefgreifenden kulturellen Wandels in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in der eine Gruppe adliger Laien Einfluss auf die Entstehung literarischer Formen nimmt, die ihren weltlichen Interessen entspringen.
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