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Hartmann von Aue


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von Hans Ried im Ambraser Heldenbuch vermerkte Werküberschrift ‚Disputatz‘ den Text an die Form einer gelehrten Kontroverse anschließt. Der ‚Disputatz‘-Werktitel, mit dem Ried hier die Komplettierung des Hartmann-Corpus in seiner Handschrift erläutert, heißt vollständig: Ein schoene Disputatz Von der Liebe so einer gegen einer schoenen frawoen gehabt vnd getan hat (Bl. 22r → Abb. 4.1., dazu Gärtner 2015:1); der Titel ruft also im selben Atemzug auch den ästhetischen Anspruch des Textes, das Rahmenthema Minne und einen narrativen Hintergrund auf. Diese schillernde Vielfalt bereits historischer Titelgebung ist kein Zufall, und sie wiederholt sich mit wechselnden, kontrovers diskutierten Versuchen der Gattungszuordnung durch die ‚Klage‘-Forschung.

      Abb. 4.1.

      Überschrift zur ‚Klage‘ im Ambraser Heldenbuch (A) (Detail)

      Die ältere Forschung hat den Text wenig geschätzt und überwiegend als Minnedidaxe Lehrdichtungaufgefasst, als ein auf Ausgleich und Integration bedachtes minnetheoretisches Frühwerk Hartmanns, das dessen episches und lyrisches Werk eher beiläufig flankiere. Anders als im komplexeren Fall von Hartmanns Liedern könne die ‚Klage‘ „fraglos, und ohne dass latente Spannungen spürbar werden, innerhalb der gegebenen Ordnungen bestehen“ (so noch Glier 1971:23). Doch schon in formaler Hinsicht ist die Rahmung des dialogischen Hauptteils durch Prolog und Schlussgedicht ungewöhnlich. Die Wechselrede selbst variiert zwischen längeren Redebeiträgen von bis zu 500 Versen und stichomythischem Sprecherwechsel, wobei sich aggressiver und kooperativer Redemodus nicht immer eindeutig voneinander abheben lassen. Entsprechend vielfältig fallen die Versuche der ‚Klage‘-Forschung aus, den Text als diskurs- und gattungsübergreifendes Experiment zu beschreiben: als Übergangsform zwischen der augustinischen Tradition des Soliloquiums, das mit seiner Form der Selbstverdopplung besonders einschlägig sei, „intrapersonale Widersprüche und Aporien zu benennen und aufzulösen“ (Hess 2016:122), lateinischen Leib-Seele-DialogenLeib-Seele-Dialog der ‚Visio Fulberti‘-Tradition ‚Visio Fulberti‘(altercatio, disputatio, conflictus; vgl. Bossy 1976) sowie der scholastischen disputatio-Tradition (zum „Gattungsproblem“ bereits Gewehr 1972).Streitgespräch / disputatio Das dialogische Auseinandertreten von Leib und Herz des (Sänger-)Ich findet sich darüber hinaus auch im kontemporären Minnesang (bereits Glier 1971:22; Parallelen zum lateinischen und romanischen Streitgespräch débat oder dit bei Kasten 1973; zu inhaltlichen Berührungen der ‚Klage‘ mit Hartmanns Liedern → Kap. 3.1.3. und 3.1.4.), auch dort mit auffällig rekurrentem Motiv der Selbstanklage. Nahe liegen außerdem die Tradition des Liebesbriefs (saluts d’amour, ‚Büchlein‘-Tradition) und der heterogene Bereich der sogenannten Minnerede (Glier 1971:20, fasst die ‚Klage‘ als in ihrer Zeit eigentümlich isolierten Minnereden-„Vorläufer“). Moriz Haupt, der die erste vollständige kritische Edition des Textes vorlegte (1842), gab dem Werk den Titel ‚Büchlein‘, was später auch die Edition von Arno Schirokauer (1979) übernahm, Ludwig Wolff (1972) hingegen edierte den Text als ‚Das Klagebüchlein‘. Dieser Titel stelle, so Gärtner (2015:XVIII), „einen Kompromiss zwischen Haupts Gattungsbezeichnung ‚Büchlein‘ und der inhaltlichen Bestimmung klage in V. 30 des Prologs dar“.

      Die Forschung ist sich mittlerweile einig, dass die ‚Klage‘ als uneindeutiges Geflecht aus unterschiedlichen Traditionssträngen zu beschreiben sei, für das keine konkreten Prätexte aus der deutschen, französischen oder lateinischen Literatur der Zeit nachgewiesen werden können. Zwar ist Hartmanns ‚Klage‘ ohne diese Kontexte der romanisch-frühhöfischen Literatur und lateinisch-klerikalen Liebes- bzw. Wahrnehmungstheorie nicht denkbar. Die Suche nach Vorlagentexten blieb gleichwohl bis heute ohne greifbare Ergebnisse. Die Quellen von Hartmanns Text „liegen im Zwielicht“, so bereits Cormeau/Störmer (32007:105). Am experimentellen, transgenerischen Status des Textes hält die jüngste Forschung fest, etwa Hess (2016), die die Übertragung des augustinischen Soliloquium-Modells Augustinus, ‚Soliloquia‘Leib-Seele-Dialogauf den Diskurs der höfischen Liebe höfische Liebeins Zentrum ihrer ‚Klage‘-Analyse stellt, während Gebert (2019) stärker auf die Psychomachie-Tradition zurückgreift und deren spezifische Transformation in der höfischen „Wettbewerbskultur“ des Mittelalters verfolgt. Direkte Linien lassen sich hier wie dort kaum ziehen.

      Hartmanns formal innovatives, kunstvoll arrangiertes StreitgesprächStreitgespräch / disputatio ist dabei gegenüber seinem Gattungsexperimentstatus in inhaltlicher Hinsicht keineswegs herunterzustufen als „spannungslose“, „optimistische“ Minnelehre (so noch Glier 1971:23). Die ‚Klage‘ ist im Gegenteil, wie hier gezeigt werden soll, Medium einer komplexen Diskursivierung paradoxer Affekte und grundsätzlich gestörten Innen-Außen-Kommunikation des Ich: ein êwiger strît (HaKl 900). Für diese Frage, wie die Gattungs- bzw. Diskursinterferenzen – ihre textübergreifenden Funktionen und Effekte – genau einzuschätzen seien, schwanken die Urteile der Forschung erheblich. Zielt Hartmanns Streitgespräch mit seiner charakteristischen Vervielfältigung von Sprechakten und Sprecherperspektiven auf Krisenbewältigung oder eher auf Konfliktentfaltung?

      4.2. Schwierige Kohärenz: Reimpaardialog und Schlussgedicht als selbstwidersprüchliche stæte-Demonstration

      Im Blick auf sämtliche Textteile (Prolog, Wechselrede, Schlussgedicht) stellt sich die methodisch nicht einfache Frage nach der Kohärenz des Textes und der „Emergenz“ (Hess, 2016:12) seiner Form. Makrostrukturell ergibt sich ein auch lateinischen Seelenkampftexten geläufiger dreiteiliger Aufbau (differenzierte Gliederungsvorschläge bereits bei Zutt 1968, Cormeau/Störmer 32007:99–105, Strittmatter 2013:149f.), der sich wie folgt darstellen lässt:

I. 1–32: Prolog
II. Dialogteil:
33–484: Anklage des Herzens durch den Leib
485–972: Gegenklage des Herzens
973–1125: Versöhnungsangebot durch den Leib
1126–1167: Bereitschaft des Herzens zur Versöhnung
1168–1268: Stichomythie
1269–1375: Kräuterzauber (Rede des Herzens)
1376–1644: Situationsklärung durch Leib und Herz (mit zweimaligem Redewechsel)
III. 1645–1914: Schlussgedicht (15 Strophen)

      Für den mittleren Dialogteil lassen sich wiederum vier Binnenabschnitte unterscheiden und inhaltlich so zusammenfassen: 1. Der Leib klagt das Herz an; die Anklage lautet auf Untreue und gezielte Irreführung (HaKl 33–484); 2. das Herz widerlegt die Anklage und bezichtigt seinerseits den Leib des Ungehorsams (HaKl 485–972); 3. das Einlenken des Leibes führt 4. zur Versöhnung und Kooperationsbereitschaft der beiden Gegner und zu einer ausführlichen Minne- und Rechtsbelehrung des Leibes durch das Herz. Insgesamt sieben Mal wechseln im Dialogteil die Redebeiträge von Leib und Herz, bevor der überlieferte Schluss aus der Dialogsituation herausführt: Das Ich überbringt der Dame einen mehrstrophigen Liebesgruß, der emphatisch beständige Dienstbereitschaft beschwört (HaKl 1645–1914). Der textkonstitutive Konflikt scheint sich also im Textverlauf aufzulösen in einer klaren Dramaturgie von Klage, Gegenklage, Einigung, Belehrung und Dienstbestätigung.

      Doch genau genommen kann der Leib, schon zu Beginn, den Prozess nur in der Wunschform eröffnen: ‚Wärest du etwas anderes – oder: ein anderer – als ich, hättest du verdient, dass ich dich verklage‘ (Ouwê, herze