Markus Spreer

Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen im Kindesalter


Скачать книгу

zu gute/zu schlechte Beurteilung)

      ■ Einfluss der zeitlichen Abfolge: Reihungs- und rhythmische Schwankungseffekte (strengere Bewertung der zuerst eingeschätzten Probanden; periodische Schwankungen)

      ■ Halo- oder Hofeffekt (von einem Merkmal auf alle schließend; Überstrahlungseffekt) Urteilstendenzen und Beurteilungsfehler

      ■ Logischer Fehler (Merkmale, die für logisch zusammengehörig betrachtet werden, werden ähnlich bewertet)

      ■ Referenzfehler (Bildung eines voreiligen Urteils, das die Bewertung der Verhaltensweisen beeinflusst)

      Weiterhin werden der sogenannte Pygmalion-Effekt („selbst erfüllende Prophezeiung“), Wahrnehmungsfehler (fehlerhaftes Erkennen der Bedeutung), die Ermüdung des Beobachters, eine zu starke Identifikation mit dem Probanden (bei teilnehmender Beobachtung) und die Interaktion Beobachter-Beobachteter als mögliche Fehlerquellen bei der Einschätzung von beobachtetem Verhalten beschrieben.

      Das Wissen um diese Beurteilungsfehler ermöglicht ein konstruktives Umgehen mit diesen beim Diagnostizieren und erhöht dadurch die Güte der über die Beobachtung ermittelten Daten.

      Für die Strukturierung, Dokumentation und Auswertung der Beobachtung kann auf unterschiedliche Beobachtungsmaterialien (z.B. Beobachtungsbögen, Einschätzskalen) zurückgegriffen werden. Diese sollen im Idealfall dafür sorgen, dass Beobachtungen replizierbar und kommunizierbar sind. Die in Kapitel 3.1.3 beschriebenen Gütekriterien für Testverfahren gelten ebenfalls für Beobachtungen – sie sollen objektiv sowie zuverlässig sein und inhaltlich genau das im Zentrum stehende Sprachverhalten erfassen.

      Die zur Verfügung stehenden Diagnostikmaterialien zur Dokumentation und Auswertung von Beobachtungen werden vor allem im Elementarbereich eingesetzt und sind in der Regel für die Hand der frühpädagogischen Fachkraft gedacht. Teilweise weisen diese Materialen dabei auch eine Überschneidung zur Methode der Befragung (vgl. Kap. 3.3) auf, was in einigen Verfahren explizit gewünscht ist (Möller/Spreen-Rauscher 2009). Dabei kommen in den verschiedenen Bundesländern ganz unterschiedliche Verfahren zur Entwicklungsdokumentation zum Einsatz, u.a.:

      Beobachtungsbögen für den Elementarbereich

      Beobachtungsbögen für den Primarbereich

      ■ SISMIK – Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen (Ulich/Mayr 2003)

      ■ SELDAK – Sprachentwicklung und Literacy bei deutschsprachig aufwachsenden Kindern (Ulich/Mayr 2006)

      ■ Literacy- und Sprachentwicklung beobachten (bei Kleinkindern) (liseb), (Mayr et al. 2014)

      ■ Leitfragen zur Beschreibung von Sprachkompetenz (Haid/Löffler 2015)

      ■ Begleitende alltagsintegrierte Sprachentwicklungsbeobachtung in Kindertageseinrichtungen (BaSiK) (Zimmer 2014)

      ■ Sprachlerntagebuch (z. B. in Berlin) (Ochsenstein 2017)

      ■ Beobachtungsverfahren mit qualitativ-hermeneutischer Ausrichtung (für einen Überblick Mischo et al. 2011)

      ■ Sprachentwicklung und Literacy bei Kindern im Schulalter (1. bis 4. Klasse) (selsa), (Mayr et al. 2012)

      ■ Kriterien für Unterrichtsbeobachtungen im Bereich Sprache (Reber/Schönauer-Schneider 2014)

      Die Güte dieser Verfahren ist sehr unterschiedlich und nur selten liegen ausreichende Angaben zur Prüfung der Gütekriterien vor. Somit bleibt häufig unklar, wie objektiv die so ermittelten Daten einzuschätzen sind, ob tatsächlich die angegebenen Konstrukte erfasst werden und wie genau dies geschieht.

      Zusätzlich werden zur Entwicklungsdokumentation weitere, dialogische Dokumentations- und Beobachtungsverfahren wie Portfolios oder Lerngeschichten genutzt, in denen auf vielfältige Weise immer wieder Produkte der Kinder gesammelt und reflektiert werden, wobei es bei diesen Verfahren zahlreiche Varianten gibt (Mischo et al. 2011; Ulber/Imhof 2014).

      Beobachtung als obligatorischer Bestandteil der Diagnostik

      Im Rahmen der hier beschriebenen Gesamtdiagnostik einer sprachlichen Auffälligkeit wird zwangsläufig immer eine Beobachtung des sprachlichen Verhaltens durch den Untersucher innerhalb der Gesprächs-, Spiel- und Testsituationen Bestandteil des diagnostischen Prozesses sein. Ob diese Beobachtung mit Hilfe von Beobachtungsrastern, Checklisten oder durch eine ausführliche Betrachtung spontaner sprachlicher Äußerungen erfolgt und welche anderen Beobachtungen (z.B. in schulischen Situationen oder durch andere Bezugspersonen) einfließen werden, ist abhängig von der konkreten Fragestellung. Bestimmte sprachliche Bereiche sind der direkten Beobachtung dabei unmittelbarer zugänglich als andere (z.B. eine Stottersymptomatik vs. Leistungen des Sprachverständnisses).

      Im Rahmen des diagnostischen Prozesses ist es notwendig, gezielt und systematisch sprachliche Fähigkeiten und einzelne sprachliche Bereiche zu betrachten und zu bewerten. Im Gegensatz zu Beobachtungen, bei denen nur das eingeschätzt werden kann, was das Kind spontan zeigt, ermöglichen Elizitationsverfahren, dass das Kind ganz bestimmte zu überprüfende sprachliche Fähigkeiten zeigt.

      Es lassen sich zwei große Klassen von Verfahren unterscheiden – standardisierte Testverfahren (zu denen auch Screenings gehören) und informelle Testverfahren. Standardisierte und normierte Testverfahren ermöglichen es, die sprachlichen Fähigkeiten einer Person messbar zu machen und im Vergleich zu einer Normstichprobe zu bewerten. Informelle Verfahren dienen dazu, einzelne sprachliche Phänomene im Vergleich zur „fertigen Standardsprache“ zu beurteilen, also z.B. das Vorhandensein einer bestimmten grammatischen Struktur zu untersuchen.

      Psychometrische Testverfahren haben das Ziel, psychische Eigenschaften indirekt messbar zu machen. Sie beinhalten Aufgaben, die sog. Items eines Testverfahrens, die auf einer theoretischen Basis für einen bestimmten Alters- und Inhaltsbereich konzipiert werden. Ein Verfahren muss bestimmten Gütekriterien genügen, um eine Messung zu ermöglichen (Objektivität, Reliabilität und Validität; s. Kap 3.1.3). Ist ein solches Verfahren normiert, kann abgeschätzt werden, ob die Leistungen einer Person von der Norm abweichen und z. B. als auffällig bzw. störungswertig einzustufen sind.

      Standardisierte Testverfahren stellen einen wichtigen Baustein im diagnostischen Prozess dar. Von einem Testergebnis allein lässt sich aber z.B. die Diagnose einer (umschriebenen) Sprachentwicklungsstörung nicht stellen.

      Im sprachlichen Bereich liegen zum einen umfassende Testverfahren vor, die einen Gesamtüberblick über das sprachliche Vermögen eines Kindes geben sollen – sog. allgemeine Sprachentwicklungstests (s. Kap. 4.7 und 4.8). Zum anderen existieren Verfahren für einzelne sprachliche Bereiche, z. B. ausschließlich für das Verständnis grammatischer Strukturen.

      Screenings

      Eine Untergruppe standardisierter Testverfahren sind Screenings. Diese haben eine eingeengte Zielstellung und sollen möglichst ökonomisch aus einer großen Anzahl von Personen diejenigen herausfiltern, die ein Risiko in sich tragen, eine bestimmte Auffälligkeit/Störung zu haben (engl. to screen = durchleuchten, durchsieben). Anwendungsbereiche finden sich in der Frühdiagnostik (beispielweise im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen, s. Kap. 5.1), als erster Schritt (Verdachtsdiagnose) bei der Diagnostik sprachgestörter Kinder sowie im Rahmen von Einschulungsuntersuchungen.

      Die Güte eines Screenings lässt sich darüber bestimmen, wie gut es in der Lage ist, diagnostische Zuordnungen im Sinne von auffällig/unauffällig zu gewährleisten. Wichtige Kennwerte dafür sind die Sensitivität und Spezifität eines Screenings. Sie geben an, welcher Prozentsatz der sprachgestörten bzw. der sprachlich unauffälligen Personen korrekt identifiziert