Markus Spreer

Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen im Kindesalter


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beschreibt den Anteil der testpositiven Personen unter allen „in Wahrheit“ auffälligen Personen einer Stichprobe, also den Anteil tatsächlich auffälliger/sprachgestörter Kinder, die durch das Screening auch als sprachgestört eingestuft werden. Demgegenüber beschreibt die Spezifität, in welchem Ausmaß (mit welcher Wahrscheinlichkeit) die unauffälligen Kinder auch wirklich als unauffällig klassifiziert werden. Die Abbildung 5 illustriert dies.

      Primäres Ziel eines Screenings ist es, alle auffälligen Personen (z.B. Risikokinder) zu identifizieren. Dafür wird eher in Kauf genommen, etwas zu viele Kinder als auffällig zu klassifizieren. Wichtig ist ein ausgewogenes Verhältnis von Sensitivität und Spezifität, das je nach Zielstellung des Screenings zu gestalten ist.

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      Abb. 5: Vierfeldertafel zur Bestimmung von Sensitivität und Spezifität eines Screenings

      Elizitationsverfahren, die nicht standardisiert und normiert wurden, werden als informelle Verfahren bezeichnet. Mit diesen werden meist spezifische sprachliche Teilleistungen dahingehend betrachtet, ob sie prinzipiell von einer Person gezeigt werden (im Vergleich zur „fertigen Standardsprache“). Auch wenn diese Verfahren teilweise weit verbreitet sind und sich gerade bzgl. der Anwenderfreundlichkeit großer Beliebtheit erfreuen, stehen sie aufgrund unzureichender Prüfung ihrer Güte in der Kritik (Kany/Schöler 2007), da wichtige testkonstruktive Kriterien bezüglich der Güte und statistisch gesicherte Normierungen nicht vorhanden sind (List 2010, 21f.). So sind diese Verfahren von der Expertise der Konstrukteure (und deren Plausibilitäten) für Leistungen im Entwicklungsbereich Sprache und Kommunikation abhängig (List 2010, 21f.). List (2010, 21f.) beschreibt, dass in der Praxis häufig solche informelle Verfahren als Sprachstandserhebungsverfahren im Elementarbereich eingesetzt werden, bei denen zu prüfen bleibt, ob sie z.B. eindeutige Bewertungskriterien sowie Durchführungs- und Auswertungsanweisungen aufweisen.

      Ein wichtiger Aspekt sprachtherapeutischer Diagnostik ist die Erhebung von Spontansprachdaten eines Kindes, die in Ergänzung der Erfassung normierter Sprachdaten ihre Berechtigung hat. Auf der Grundlage des Aktenstudiums, des Anamnesegesprächs und der Beobachtung einer Spiel-/Gesprächssituation wird entschieden, ob eine gezielte Untersuchung der Spontansprache durchgeführt werden soll (Schrey-Dern 2006, 42). Hierbei könnten beispielsweise im Zuge einer genaueren Therapieplanung vom Kind bereits in der Spontansprache verwendete sprachliche Strukturen sehr detailliert betrachtet werden. Dabei ist darauf zu achten, dass diese Äußerungen möglichst aus unterschiedlichen Settings stammen und damit repräsentativ für die sprachlichen Fähigkeiten des Kindes sind (Heidtmann 1988). Die Vorgehensweise der Spontansprachanalyse im therapeutischen Kontext unterscheidet sich von der Vorgehensweise einer Spontansprachanalyse in qualitativen Studien im Forschungskontext (Kohler 2016). Dies bezieht sich vor allem auf die Art und Weise der Transkription der Daten und deren Auswertung, wobei hier in der Praxis neben vorgegebenen und durch Erfahrung bewährten Routinen vor allem auch ökonomische Aspekte eine große Rolle spielen (Kohler 2016, 82).

      In der Literatur sind häufig Vor- und Nachteile von Spontanspracherhebungen aufgelistet, die diese Form der Datengewinnung der von Testverfahren gegenüberstellen. In der hier vertretenen Argumentation des sowohl-als-auch ist eher zu fragen, welche Methode welche (Qualität von) Daten erfasst und wie diese wiederum interpretiert werden können. Gerade vor dem Hintergrund der angesprochenen ökonomischen Aspekte ist eine vollständig transkribierte sowie fundiert und differenziert ausgewertete Spontansprachprobe in der Praxis eher nur im Einzelfall zu finden. Natürlich wird die Spontansprache des Kindes als obligatorischer Bestandteil der Diagnostik mit eingeschätzt – i. d. R. aber nicht in Form dieser vollständig transkribierten Kommunikationssituationen, sondern über eine ökonomische Dokumentation zentraler Phänomene bezogen auf die einzelnen Sprachebenen (z.B. Reduktion von Mehrfachkonsonanz, korrekte Verbzweitstellung, Genussicherheit) und vor allem kommunikativ-pragmatischer Fähigkeiten und des Interaktionsverhaltens mit den Eltern, dem Diagnostiker und den Peers. Gerade letzteres können Testverfahren nicht ersetzen. Ergänzend sollen an dieser Stelle aber auch die Vorteile und die Nachteile von spontansprachlich erhobenen Daten skizziert werden:

      ■ Vorteile, u. a.:

      – zeitliche Flexibilität: Für die Erhebung sind keine zeitlichen Vorgaben vorhanden, wie diese für standardisierte Testverfahren relevant sind. Im Gegenteil: Gerade die Erfassung der sprachlichen Fähigkeiten in unterschiedlichen Settings mit unterschiedlichen Interaktionspartnern ist gewünscht!

      – freie Materialwahl: Hier können die individuellen Interessen des Kindes Berücksichtigung finden – natürlich an die Zielstellung der Beobachtung geknüpft (Soll zum Beispiel ein Rollenspiel die pragmatischen Fähigkeiten des Kindes sichtbar werden lassen?). Auf der anderen Seite hat das Material bereits Einfluss auf den Wortschatz der potentiell im Fokus steht.

      – räumliche Flexibilität:Auch bzgl. des Ortes besteht für die Erhebung Flexibilität. Allerdings sollte beachtet werden, dass die Erfassung der Spontansprache i.d.R. auch mit einer Audio-Aufnahme verbunden ist und somit entsprechende akustische Gegebenheiten vorherrschen sollten.

      – hohe ökologische Validität: Die Spontansprachsituationen sind natürliche Situationen, die keine künstlichen Aufgabenstellungen beinhalten, die so im kindlichen Alltag nicht vorkommen (z.B. Sätze aus vorgegebenen Wörtern bilden). Gerade für den Bereich der Kommunikation-Pragmatik ist dies für die Beurteilung der kindlichen Fähigkeiten unerlässlich (vgl. Kapitel 10).

      ■ Nachteile, u.a.:

      – fehlende Strukturierung: Die offen gestalteten Interaktionssituationen leben von der natürlichen Kommunikation/Interaktion und sind somit nicht oder nur wenig vorstrukturiert. Somit wird häufig erst nach der Transkription und der sich anschließenden Analyse deutlich, welche Strukturen das Kind im Einzelnen produziert hat – wenn nicht (durch eine zweite Person) parallel schon einzelne Aspekte protokolliert werden.

      – Ablenkung durch das Material: Beim Einsatz von Testverfahren wird auf einen anregungsarmen Raum geachtet, in dem bei der Durchführung des Tests nur die aktuell notwendigen Materialien für das Kind sichtbar sein sollen. Bei einer freien Sprachprobe, beispielsweise in einem Spielzimmer einer Kita, können die ggf. vorhandenen vielfältigen Spielmaterialien die Erhebung deutlich erschweren.

      – Leistungsvergleich mit Gleichaltrigen schwierig: Die erhobenen individuellen sprachlichen Fähigkeiten des Kindes sind nur schwer mit den Fähigkeiten Gleichaltriger vergleichbar. Anhand von Entwicklungsdaten, die beispielsweise für den Laut- oder Grammatikerwerb vorliegen, können hier Einordnungen vorgenommen werden. Natürlich ist auch der Vergleich mit einer früheren Spontansprachprobe des Kindes möglich (individuelle Bezugsnorm), um Entwicklungen im Rahmen des Therapieprozesses zu dokumentieren (mit den methodischen Einschränkungen der Spontanspracherhebung).

      Die Spontansprachprobe basiert auf einer face-to-face-Kommunikation zwischen zwei oder mehr Kommunikationspartnern, wobei der sprachliche, kommunikative oder handlungsmäßige Verlauf offen bleibt und damit keine bestimmten Verhaltensweisen des Einzelnen vorgegeben sind (Heidtmann 1988, 18). Die Kommunikation ist i.d.R. in Handlungsabläufe eingebunden, wobei auch bestimmte (Spiel-)Materialien zur Verfügung gestellt werden können (Heidtmann 1988, 18).

      Schrey-Dern (2006, 43) formuliert die folgenden notwendigen Bedingungen für die Erhebung einer Spontansprachprobe:

      ■ Vertrautheit zwischen den Spiel-/Gesprächspartnern

      ■ Rahmenbedingungen:

      – Festlegung des Themas und der Situation

      – Festlegung des Stimulusmaterials

      – Festlegung der Medien

      – Festlegung der Aufzeichnungsdauer

      ■ Gesprächsverhalten des Untersuchers