Markus Spreer

Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen im Kindesalter


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(KMK 1998) hat ihre diagnostische Tätigkeit die Aufgabe, „[…] Art und Umfang des sonderpädagogischen Förderbedarfs auf der Basis einer Kind-Umfeld-Analyse zu erheben. Dabei werden insbesondere die sprachlichen Handlungskompetenzen des Kindes vor dem Hintergrund seiner persönlichen Lebenssituation und der schulischen Anforderungen beschrieben, pädagogisch interpretiert und als spezifisches Förderbedürfnis ausgewiesen“ (KMK 1998, 6).

      Exkurs Kind-Umfeld-Analyse: Die Kind-Umfeld-Analyse wurde u.a. von Sander und Hildeschmidt im Kontext der Etablierung schulischer Integration von Schülern mit Unterstützungsbedarf entwickelt (Hildeschmidt/Sander 1993). Sie versteht sich als breiter Ansatz, der sich von einer allein kindzentrierten Diagnostik abhebt und auch relevante Umwelteinflüsse (personelle und materielle Gegebenheiten) erfasst sowie hemmende und förderliche Bedingungen in der Schule und in schulrelevanten Umfeldern analysiert (Bundschuh/Winkler 2014, 350). Diese Aspekte finden sich heute auch in der ICF (DIMDI 2005). Somit steht nicht nur das Kind mit seinen Verhaltensmerkmalen im Fokus, sondern auch das Zusammenspiel von Personen und materialen Bedingungen in dem System, zu dem das Kind gehört (Bundschuh/Winkler 2014, 350). So bringt eine biographisch angelegte Kind-Umfeld-Analyse zum Ausdruck, „[…] dass und wie die jeweilige Umwelt als Variationsquelle und Einflussfaktor der sprachlichen Entwicklung der Einzelnen in der Perspektive der Entwicklung ihrer sprachlichen Handlungsfähigkeit qualifiziert ist“ (Welling 2007, 970).

      Reber/Schönauer-Schneider (2014) formulieren hierzu ein trichterförmiges Vorgehen. Ausgangspunkt sind gezielte Beobachtungen der spontansprachlichen Äußerungen der Schüler im Schulalltag, die zu ersten Hypothesen über Stärken und Schwächen im Bereich der sprachlichen Fähigkeiten führen. Soweit dies möglich ist, können im Anschluss Gruppenüberprüfungsverfahren zum Einsatz kommen, wie sie beispielsweise für den Bereich Sprachverständnis mit dem MSVK (Elben/ Lohaus 2000) vorliegen, welche die Erstellung eines Klassenprofils für bestimmte sprachliche Bereiche ermöglichen (Reber/Schönauer-Schneider 2014). Dies ergänzend werden kriteriengeleitete Schülerbeobachtungen angestellt, die hypothesengeleitet bestimmte Aspekte in den Blick nehmen. Hierzu liegen Checklisten und Beobachtungsraster unterschiedlicher Qualität vor. Hieraus kann es sich in der Folge ergeben, dass die Lehrkraft anhand dieser zusammengestellten Vorinformationen spezielle Diagnostikverfahren für die Einzeltestung einsetzt (vgl. auch Abb. 3).

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      In inklusiven schulischen Settings sind, je nach administrativen Rahmenbedingungen und Vorgaben, unterschiedliche Handlungsträger mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen im Bereich der Diagnostik betraut. Als Grundlage des Unterrichts verweisen die Empfehlungen der KMK zur inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen (KMK 2011) explizit auf eine den Lernprozess begleitende, pädagogische Diagnostik, wobei diese im Team von Lehrern mit unterschiedlichen Lehrämtern und Ausbildungen gemeinsam durchgeführt und verantwortet werden kann (KMK 2011, 19).

      So sind Regel- und/oder Sonderschullehrkräfte in ihrer Funktion als Lehrkraft oder direkt als sogenannte Diagnostiklehrer oder Diagnostikteams mit diagnostischen Fragen betraut. Dabei werden häufig über kriteriengeleitete Beobachtungen und vorwiegend Gruppenüberprüfungsverfahren zunächst diejenigen Kinder erfasst, die einer Förderung bedürfen, welche über Sprachfördermaßnahmen im Regelunterricht hinausgeht. Die differenzierte Feststellung des sprachlichen Leistungsstandes bzw. des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die sich daraus ergebende Erstellung von Förderplänen übernehmen dann in der Regel Sprachheillehrer als „case manager“ (Reber 2012, 268f.). Hoffmann/Böhme (2017) konnten zeigen, dass an Grundschulen nur ein geringer Anteil von Schülern mit sprachlichem Förderbedarf korrekt identifiziert wird (geringe Sensitivität) – Kinder ohne Förderbedarf werden allerdings sehr zuverlässig erkannt (hohe Spezifität). Ausschlaggebend hierfür ist vor allem die Güte der Informationsquellen. Zur Optimierung der Klassifikationsgüte wird eine mehrmalige Überprüfung mit sprachdiagnostischen Verfahren empfohlen, „[…] um Kinder mit ausgeprägtem Unterstützungsbedarf im sprachlichen Bereich möglichst zuverlässig zu identifizieren und anschließend in geeigneter Weise fördern zu können“ (Hoffmann/Böhme 2017, 146).

      In unterschiedlichen Aufgabenbereichen des inklusiven Settings kommen unterschiedliche diagnostische Methoden und Verfahren zum Einsatz. Das „Messen“, d. h. die direkte Erhebung sprachlicher Fähigkeiten des Kindes, stellt neben der Beobachtung und Befragung eine der möglichen diagnostischen Methoden dar (vgl. Kap. 3). Die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder werden mit Hilfe dieser Methoden, durch Beobachtung, Interaktionen und Analysen im Sinne einer zyklischen Diagnostik fortwährend überprüft (Ziemen 2016).

      „In einer inklusiven Diagnostik geht es also um ein Bewahren sonderpädagogischer Kompetenzen und um den Einbezug der Regelpädagogik und der dort gewonnenen Daten in Bezug auf das System Schüler in den gesamtdiagnostischen Prozess“ (Schäfer/Rittmeyer 2015, 109).

      Ziemen (2016) formuliert Aspekte zum Verständnis von Diagnostik „mit Blick auf Inklusion“. Demnach versteht sich Diagnostik […]

      ■ „im Interesse und unter Berücksichtigung der Perspektiven der Kinder […];

      ■ lernbegleitend, entwicklungsunterstützend und kompetenzorientiert;

      ■ analysierend und hypothesenbildend und –prüfend mit dem Ziel des Verstehens bzw. des Erklärens;

      ■ dialogisch mit den Kindern […]; Eltern und Bezugspersonen;

      ■ ggf. interdisziplinär;

      ■ orientierend auf das Schaffen eines sozialen Möglichkeitsraumes für Entwicklung und Lernen“ (Ziemen 2016, 47).

      Gegenwärtig erfolgt eine breite Diskussion der diagnostischen Ausrichtung im Kontext sich wandelnder Bildungssettings in Richtung Inklusion. An dieser Stelle sei beispielhaft auf die zukunftsweisenden Diskussionen in folgenden Publikationen verwiesen:

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      Amrhein, B. (Hrsg.) (2016): Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung. Theorien, Ambivalenzen, Akteure, Konzepte. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn

      Lindmeier, C., Weiß, H. (Hrsg.) (2017): Pädagogische Professionalität im Spannungsfeld von sonderpädagogischer Förderung und inklusiver Bildung. Sonderpädagogische Förderung heute, Beiheft 1, Beltz Juventa, Weinheim

      Schäfer, H., Rittmeyer, C. (Hrsg.) (2015): Handbuch inklusive Diagnostik. Beltz, Weinheim/Basel

      Diagnostikverfahren für die orientierende Einschätzung sprachlicher Leistungen durch Regel- und Sonderpädagogen im Klassenkontext

      In inklusiven Settings stehen Regelschullehrkräfte vor der Aufgabe, die Heterogenität der Schülerschaft im Unterricht zu berücksichtigen. Eine Grundlage dafür ist die Kenntnis der (sprachlichen) Voraussetzungen der Kinder im Sinne von Lernausgangslagen. Gerade für den Übergang von der Kita in die Grundschule existiert eine Vielzahl von Verfahren, die in ganz unterschiedlicher Qualität (vorwiegend als informelle Verfahren) mittels unterschiedlicher diagnostischer Methoden die Lernvoraussetzungen der Kinder in verschiedenen Entwicklungsbereichen in Einzel- und/oder Gruppensituationen ermitteln. Auch für Kinder im Grundschulalter liegen Beobachtungs- und Einschätzungsbögen bzw. Diagnosematerialien vor, die zu diesem Zweck von Regel- und Sonderpädagogen bevorzugt in Gruppensituationen eingesetzt werden können. Es muss an dieser Stelle allerdings nochmals explizit auf die häufig beschränkte Aussagekraft dieser Verfahren hingewiesen werden. Kinder, die anhand dieser Verfahren einen „auffälligen Sprachentwicklungsstand“ zugeschrieben bekommen, sollten unbedingt im Anschluss eine spezifischere Diagnostik durch entsprechende Fachkräfte durchlaufen. Wer dies mit wessen Weisung durchführt ist vom Zeitpunkt der Erhebung, vom Kostenträger und weiteren administrativen Vorgaben