Reinhilde Stöppler

Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung


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Handicap ist das eine Beleidigung. Da war ich sauer auf ihn. Der Spruch Spasti hat mir weh getan, den hat er sicher von Hitler gehört“ (Müller-Erichsen 2010, 10).

      Beschreibungsversuche

      Der Begriff geistige Behinderung steht am Ende einer langen Reihe von Be- und Umschreibungsversuchen für eine äußerst heterogene Gruppe von Menschen. Es gibt keine einheitliche Beschreibung oder Kennzeichnung des als geistig behindert definierten Personenkreises. Das liegt u. a. daran, dass Menschen mit geistiger Behinderung keine einheitliche Gruppe mit festgesetzten und -umschriebenen Eigenschaften bilden. Nicht einmal vorübergehend ist es möglich, sich in die Lage und Situation eines Menschen mit geistiger Behinderung zu versetzen. So ist der Begriff im Grunde genommen sehr unklar. Dagegen ist es leichter, sich für eine kurze Zeitspanne annähernd in die Perspektive eines blinden, gehörlosen oder gehbehinderten Menschen zu versetzen, indem wir versuchen, eine alltägliche Situation mit verbundenen Augen, Ohren oder im Rollstuhl zu erleben und dabei die Barrieren der Lebensumwelt zu erfahren.

      Folgende Übersicht zeigt die Vielfalt der Begriffe aus der Vergangenheit bis heute, die überwiegend negativ konnotiert sind.

      Begriffe zur geistigen Behinderung

      Adjektiva: debil, schwachsinnig, geistesschwach, blödsinnig, kognitiv anders, geistigbehindert, geistig behindert, geistig eingeschränkt, idiotisch, dumm, imbezill, praktisch bildbar

      Substantiva: Behinderte, Menschen mit geistiger Behinderung, Menschen mit Lernschwierigkeiten, SchülerInnen mit Lernbeeinträchtigungen, Menschen mit mentalen Einschränkungen, Menschen mit geistigem Handicap, Krüppel, Mongo

      Angloamerikanische Termini: Mental Handicap, Mental Retardation, Learning Difficulties, Intellectual Disabilities, Special Needs

      Begriffsvielfalt

      Der deutsche Begriff geistige Behinderung wurde 1958 von der Elternvereinigung Lebenshilfe in Deutschland eingeführt. Allerdings wurde der Begriff schon vom Hilfsschulrektor Breitbarth im Jahre 1926 auf dem „XI. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu München“ verwendet (Speck 2016, 45). Die bis dato vorherrschenden negativen Bezeichnungen wie „schwachsinnig“ oder „imbezil“ sollten durch einen nicht abwertenden Begriff ersetzt werden. Oftmals wird gegenwärtig der Terminus „Menschen mit geistiger Behinderung“ favorisiert, der von der „Internationalen Liga von Vereinigungen für Menschen mit geistiger Behinderung“ (ILSMH) empfohlen wurde (Mühl 2000, 45). Diese Bezeichnung soll den Zweck erfüllen, dass der Mensch nicht in erster Linie und ganzheitlich als geistig behindert etikettiert wird, sondern den Menschen in seiner Rolle als SchülerIn, Kind, SportlerIn etc. in den Vordergrund stellt. Der Anhang mit geistiger Behinderung und die damit verbundene Betonung des primären Menschseins schwächt die Substantivierung des lange gängigen Begriffs Geistigbehinderte ab, vermag jedoch eine Diskriminierung und Stigmatisierung nicht zu verhindern. Versuche, positivere Beschreibungen zur Vermeidung von Diskriminierungen zu finden, z. B. die Begriffe „anders denkend“ etc., haben den Nachteil, dass sie unspezifisch und nicht eindeutig sind.

      People First

      Die Organisation „Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V.“, eine Selbstvertretungsgruppe, die aus Menschen mit geistiger Behinderung und Lernbehinderungen besteht, lehnt den Begriff geistig behindert ab und bezeichnet sich selbst als „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ (Netzwerk People First Deutschland e. V. 2004, 5; Knust-Potter 1996, 519f.). Sie haben das Anliegen, zuerst als Person gesehen zu werden: „Zuerst sind wir Menschen“, so lautet der Leitspruch (Kniel / Windisch 2005).

      Den Vorstellungen und Bedürfnissen betroffener Personen entsprechend wurde in Großbritannien der Begriff Mental Retardation aus o. a. Stigmatisierungsgründen durch Learning Difficulties ersetzt.

      Notwendigkeit einer Bezeichnung

      Die nationale und internationale Begriffsvielfalt zeigt die Schwierigkeit auf, sich auf eine allgemeingültige Bezeichnung festzulegen, die zudem keine stigmatisierenden oder diskriminierenden Aspekte beinhaltet. Auch durch euphemistische Termini kann keine Verbesserung der gesellschaftlichen Situation und Akzeptanz von Menschen mit Behinderung realisiert werden (Kniel / Windisch 2005, 49f.). Es bedarf jedoch eines Begriffs, um die fokussierte Personengruppe zu thematisieren. Die Bemühungen, Menschen mit Behinderung nicht mit einem einzelnen Begriff zu definieren, führt zu Verunsicherungen und Problemen auf administrativer Ebene, z. B. bei schulpolitischen Entscheidungen sowie beim internationalen Vergleich (Speck 2016, 54ff.).

      Es gibt keine zufriedenstellenden Alternativen, die einen Begriffswandel ermöglichen (Speck 2016, 48ff.); geistige Behinderung kann nur als komplexes Phänomen verstanden werden. Speck (2016, 53) weist auch darauf hin, dass es nicht „die geistige Behinderung“ und dass es „kein einheitliches Bild von ihr“ gibt. Der Begriff der geistigen Behinderung ist nach wie vor nicht zufriedenstellend durch einen Alternativbegriff ersetzt worden, sodass er weiterhin vorrangig Verwendung findet. Auch im Kontext dieses Buches soll trotz vorhandener Kritikpunkte der Begriff geistige Behinderung geführt werden, da er zum momentanen Zeitpunkt der in Gesellschaft und Wissenschaft anerkannteste Begriff ist und eine Abgrenzung zu anderen Behinderungsformen ermöglicht. Ein anderer Terminus würde nicht zwangsläufig eine Stigmatisierung vermeiden. Gleichwohl soll die Heterogenität dieses Personenkreises stets beachtet werden.

      Geistige Behinderung ist ein Sammelbegriff für ein Phänomen mit oft lebenslangen, aber verschiedenen Äußerungsformen einer unterdurchschnittlichen Verarbeitung kognitiver Prozesse und Problemen mit der sozialen Adaption (Haveman / Stöppler 2010).

      Heterogenität

      Diese Personengruppe kann bei der Bewältigung von kognitiven Aufgaben geringe, mäßige, große oder sehr große Probleme haben. So gibt es Personen, die in ihrem Entwicklungsstand an der Grenze zur Lernbehinderung stehen und demnach im lebenspraktischen Bereich weitestgehend selbstständig sind. Darüber hinaus werden zu dem Personenkreis mit geistiger Behinderung Menschen mit schwersten bzw. Mehrfachbehinderungen gezählt, die zusätzlich zu ihrer geistigen Behinderung weitere schwerere Beeinträchtigungen im Bereich der Motorik oder der Sinnesfunktionen haben (Mühl 2000, 54).

      Zusammenfassung

      Deutlich werden zwei Kritikpunkte: Zum einen erfolgt mit dem Begriff geistig behindert eine negative Zuschreibung, die zu Stigmatisierungen durch die Gesellschaft führen können; zum anderen erfasst er nicht die Vielfalt und Heterogenität des Personenkreises. Mit diesem Begriff wird ein Mensch schnell etikettiert, was zu lebenslangen Einschränkungen in Selbstbestimmung, Selbstständigkeit etc. führen kann. Es gibt also tatsächlich nicht die geistige Behinderung, und somit keine einheitliche Definition, wie folgendes Kapitel zeigt.

      Die Auffassungen über geistige Behinderung unterscheiden sich erheblich und bieten ein sehr weites Spektrum an Definitionen, Theorien und Ansätzen, die eine einheitliche Begrifflichkeit nicht gerade erleichtern. Nach Fornefeld (2013) ist es unmöglich, geistige Behinderung durch eine allgemeingültige Definition zu beschreiben, da das Phänomen der Behinderung von Individualität geprägt ist (Fornefeld 2013, 59).

      Die verschiedenen Begriffe und Definitionen zur Beschreibung der Menschen mit geistiger Behinderung spiegeln auch die sich mit der Zeit verändernde Sichtweise wider, nämlich „von einem defektorientierten funktionalistischen hin zu einem individualistisch subjektorientierten Förderverständnis und damit zu einem grundlegend veränderten Menschenverständnis“ (Stöppler / Wachsmuth 2010, 15).

      breites Spektrum

      In dem breiten Spektrum der Definitionen und Beschreibungen der geistigen Behinderung gibt es unterschiedliche Sichtweisen: Einige Definitionen betonen mehr die Schwächen des jeweiligen Menschen, indem sie benennen, welche Fähigkeiten der Mensch mit geistiger Behinderung nicht hat; andere heben dagegen die vorhandenen Ressourcen hervor, wieder andere die besonderen Bedürfnisse. Tabelle 1 zeigt eine Übersicht verschiedener Sichtweisen und deren Merkmale.