Reinhilde Stöppler

Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung


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entsprechend den individuellen Möglichkeiten, Bedürfnissen und Ressourcen gestaltet werden. Dabei spielen spezifische Anregungen und Unterstützungsangebote, z. B. didaktisch / methodische Prinzipien für Bildung und Unterricht eine Rolle, wie beispielsweise Elementarisierung, Anschaulichkeit, Strukturierung, Lebensnähe, Individualisierung und adaptives Lernen (Stöppler / Wachsmuth 2010, 50ff.). Die pädagogische Sichtweise stellt nicht die Behinderung in den Mittelpunkt der Betrachtungen: Primäres Interesse hat die Beeinträchtigung von Bildung und Erziehung, daher bezeichnete Bleidick (1984, 186) Behinderung als „intervenierende Variable“ im Erziehungsprozess und führt als Beispiel die / den SchülerIn mit Körperbehinderung an, die / der aus medizinischer Sicht durchaus behindert ist, aber am Gymnasium lernzielgleich unterrichtet wird und demnach im pädagogischen Sinne nicht behindert ist. Erziehung und Bildung kann auch ohne Vorliegen einer nachweisbaren Schädigung beeinträchtigt sein. Der Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung ist aus pädagogischer Sicht äußerst heterogen, denn der besondere Bildungs- und Erziehungsbedarf kann als Resultat spezifischer Lebenssituationen, unter den Bedingungen einer organischen Schädigung sowie gesellschaftlicher Erwartungen und Zuschreibungen gesehen werden (Fornefeld 2013, 91f.).

      Zusammenfassung

      Der pädagogischen Perspektive dieses Buches liegt eine kompetenz- und entwicklungsorientierte Sichtweise zugrunde, die von lern- und entwicklungsfähigen Individuen ausgeht. Dabei wird der Begriff „Menschen mit geistiger Behinderung“ beibehalten, um einen notwendigen Begriff zu nennen und einen möglichst respektvollen Umgang zu gewährleisten.

      Fornefeld, B. (2013): Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik, 5. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel

      Speck, O. (2016): Menschen mit geistiger Behinderung: Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung, 12., überarb. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel

      Übungsaufgaben zu Kapitel 1

      Aufgabe 1

      Welche der im Kasten in Kapitel 1.1 genannten Begriffe enthalten stigmatisierende und vorurteilsbehaftete Inhalte? Welche sind exklusiv / inklusiv?

      Aufgabe 2

      Versuchen Sie, eine eigene Definition von geistiger Behinderung zu entwerfen.

      Aufgabe 3

      Schauen Sie sich einen der folgenden Spielfilme an, in denen geistige Behinderung thematisiert wird. Wie werden Menschen mit geistiger Behinderung dargestellt?

      

Die Kunst, sich die Schuhe zu binden (2011). Regie: Lena Koppel

      

Im Weltraum gibt es keine Gefühle (2010). Regie: Andreas Öhmann

      

Me too – Wer will schon normal sein? (2009). Regie: Álvaro Pastor Gaspar, Antonia Naharro

      

Ben X (2007): Regie: Nic Balthazar

      

Freakstars 3000 (2003). Regie: Christoph Schlingensief

      

Verrückt nach Paris (2002). Regie: Pago Bahlke, Eike Besuden

      2 Ätiologie der geistigen Behinderung

      „Es ist keine Krankheit! Es ist eine Kondition, ein Zustand.

      So wie der eine blond ist, habe ich eben das Down-Syndrom.

      Es ist viel mehr ein Charakteristikum als eine Krankheit. (…)

      Es war die Medizin, die damit begonnen hat, den Begriff im Diskurs als Krankheit zu prägen“ (Pineda 2010).

      medizinische Ursachen

      Ätiologie bedeutet die Lehre von den Ursachen von Erkrankungen und ihren auslösenden Faktoren, in diesem Kontext also die möglichen Ursachen der geistigen Behinderung aus medizinischer Sicht.

      Die neuere biogenetische Forschung hat detaillierte ätiologische Daten ermitteln können (Speck 2016, 58).

      Es ist zu berücksichtigen, dass eine Beeinträchtigung abhängig ist von Art, Schwere und Zeitpunkt der schädigenden Einwirkung sowie den Kontextfaktoren (Seidel 2006, 162). Die medizinische Perspektive wird häufig aufgrund der ihr zugewiesenen Defizitorientierung kritisiert, dennoch hat sie großen Nutzen für die pädagogische Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung (Fischer 2008, 21). Einige Erkrankungen können durch frühzeitiges Erkennen und Wissen über phänotypische Besonderheiten in der Entwicklung weitgehend gemildert werden. Untersuchungen der Ätiologie von Behinderungen sind wichtig, um ein mögliches Risiko für andere Familienmitglieder (weitere Kinder, Bruder oder Schwester mit Kinderwunsch) festzustellen. Auch kann eine ätiologische Diagnose Informationen über weitere Erkrankungen (Komorbidität), Verlauf, Folgen und therapeutische Implikationen verschaffen. Aufgrund klinisch-genetischer Untersuchungen können bei ungefähr 40–60 % der Menschen mit geistiger Behinderung die Ursachen festgestellt werden (Haveman / Stöppler 2014, 39).

      ätiologische Ursachen

      Es gibt verschiedene ätiologische Ein- und Aufteilungen der Behinderungen; im Folgenden soll eine Aufteilung nach

      1. chromosomal verursachter geistiger Behinderung,

      2. metabolisch verursachter geistiger Behinderung und

      3. exogenen Formen

      erfolgen. Daneben gibt es eine Reihe von Erkrankungen und Syndromen, die bislang noch ätiologisch unklar sind.

      2.1 Chromosomal verursachte geistige Behinderung

      Erbkrankheiten

      Die Chromosomen des Menschen

      Regelrechter Chromosomensatz: Die Chromosomen des Menschen enthalten die genetischen Informationen und bestehen aus DNS (Desoxyribonukleinsäure) und Proteinen. In jeder Körperzelle des Menschen befinden sich 46 Chromosomen bzw. 23 Chromosomenpaare. Jedes Chromosom ist demnach zweifach vorhanden bzw. besteht aus zwei haploiden Sätzen mit jeweils 23 Chromosomen (ein Chromosomensatz stammt aus der Eizelle der Mutter, ein Chromosomensatz aus dem Spermium des Vaters). Unterschieden werden können 22 Körper- oder autosomale Chromosomenpaare (1–22) sowie ein Geschlechts- oder gonosomales Chromosomenpaar (23) – dieses besteht beim Mann aus einem X-und einem Y-Chromosom, bei der Frau aus zwei X-Chromosomen. Jedes Chromosom ist mit einem DNS-Molekül ausgestattet, auf dem Tausende von Genen aufgereiht sind. Bei Teilung der Zelle wird die DNS verdoppelt bzw. repliziert, bei den sich neu bildenden Tochterzellen wird ein vollständiger Satz von Genen vererbt (Steffers / Credner 2011, 13ff.; Reece et al. 2016, 380ff.).

      Ein Karyogramm stellt eine geordnete Darstellung der Chromosomen einer Zelle dar und gibt eine gute Übersicht über mögliche numerische oder strukturelle Chromosomenfehler (Teufel 2014, 3).