Wie Abb. 2 verdeutlicht, gilt ein IQ-Wert von 100 als durchschnittliche Intelligenz, ein Wert über 100 als überdurchschnittliche, dagegen ein Wert von unter 100 als unterdurchschnittliche Intelligenz. Von geistiger Behinderung spricht man, wenn die getestete Person einen Wert von mindestens zwei Standardabweichungen unter dem Durchschnitt liegt. Da eine Standardabweichung einem Wert von 15 entspricht, bezeichnet man eine Person mit einem IQ von 70 und weniger aus psychologischer Sicht als geistig behindert.
Abb. 2: Normalverteilung der Intelligenz und Standardabweichungen (Speck 2016, 63)
zwei internationale Klassifikationsschemata
Im Folgenden werden die zwei internationalen Klassifikationssche mata für Menschen mit geistiger Behinderung beschrieben:
in der ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krank heiten und verwandter Gesundheitsprobleme) werden vier Niveau stufen sowie die Kategorien „andere“ und „nicht näher bezeichnete“ Intelligenzminderungen (DIMDI 2013) unterschieden, die hier kurz skizziert werden:
IQ 50–69: leichte Intelligenzminderung
IQ 35–49: mittelgradige Intelligenzminderung
IQ 20–34: schwere Intelligenzminderung
IQ > 20: schwerste Intelligenzminderung (Dilling / Freyberger 2014, 274ff.)
das DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) unterscheidet folgende Schweregrade der intel lektuellen Beeinträchtigung:
Tab. 2: DSM-IV (Fornefeld 2013, 66)
Codierung des DSM-IV | Schweregrad der intellektuellen Beeinträchtigung | IQ-Wert |
317 | leichte geistige Behinderung | IQ 50–55 bis ca. 70 |
318.0 | mittelschwere geistige Behinderung | IQ 35–40 bis 50–55 |
318.1 | schwere geistige Behinderung | IQ 20–25 bis 35–40 |
318.2 | schwerste geistige Behinderung | IQ unter 20 bzw. 25 |
Eine derartige Stufenfolge der Intelligenzminderung wird von vielen pädagogisch orientierten Autoren sehr kritisiert, da die Entwicklungsfähigkeit eines Menschen sowie die sozialen und kulturellen Bedingungen in diesen statischen Angaben nicht berücksichtigt werden. Alternativ ist die Theorie der multiplen Intelligenz zu sehen, die mehrere Intelligenzen, z. B. linguistische, musikalische, körperlich-kinästhetische Intelligenzen gleichberechtigt autonom nebeneinander sieht (Gardner 2001). Die Fokussierung auf Teilbereiche trägt besonders auch dem Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung Rechnung (Speck 2016, 64f.).
1.3.3 Soziologische Perspektive
soziale Konstruktion
Aus soziologischer Perspektive wird Behinderung als soziale Konstruktion gesehen (Thimm 1972, Cloerkes 2003). Damit verbunden ist der gesellschaftliche Auftrag, sich mit Behinderung als gesellschaftlichem Thema zu beschäftigen. Als Forschungsgegenstand der „Soziologie der Behinderten“ stellt Cloerkes (2007, 3) „die soziale Wirklichkeit von Menschen mit Behinderungen“ dar. Zum Forschungsinteresse der Soziologie gehört damit auch die Beschreibung von Einstellungen und Verhalten gegenüber diesem Personenkreis. Typische Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit (geistiger) Behinderung sind z. B. Anstarren aber auch Almosendenken. Ein bekanntes Beispiel aus den Medien ist die „Aktion Sorgenkind“, in der jahrzehntelang Spenden für „Sorgenkinder“ gesammelt wurden; in einer wöchentlichen „Bilanz der guten Taten“ wurden die Spender gelobt. Dadurch wurden Betroffene in der Tat als bedürftige „Sorgenkinder“ und nicht als gleichberechtigte Bürger dargestellt (Rothenberg 2012, 32). Eine soziologische Definition von geistiger Behinderung liefert Markowetz (2008, 249):
Ein Mensch wird als geistig behindert bezeichnet, „wenn eine unerwünschte Abweichung vorliegt, die soziale Reaktion auf ihn entschieden negativ ist und deshalb seine Partizipationsmöglichkeiten am gesellschaftlich-sozialen Leben nachhaltig beschränkt werden und desintegrative, aussondernde Maßnahmen der Institutionalisierung von Behinderung auf den Plan rufen.“
Schon in sehr frühen Zeiten wurden in der Gesellschaft Unterschiede in der Anerkennung und Achtung von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gemacht; Menschen mit geistiger Behinderung bzw. sogenannte Schwachsinnige standen schon damals in der Hierarchie weit unter den Menschen mit Sinnesschädigungen (Merkens 1988, 55). Auch heute werden Beeinträchtigungen und Behinderungen im geistigen Bereich gesellschaftlich „ungünstiger bewertet“ als z. B. körperliche Behinderungen (Cloerkes 2007, 105).
Normabweichungen
Die soziologische Perspektive fokussiert somit Behinderung als Resultat eines sozialen Abwertungs- und Stigmatisierungsprozesses. Eine wesentliche Rolle spielen die sozialen Folgen, die eine Person erfährt, wenn sie aufgrund einer Behinderung von der Norm abweicht. Eine Abweichung auf körperlicher, geistiger oder seelischer Ebene wird aufgrund der bestehenden Normen und Werte innerhalb einer Gesellschaft als negativ aufgefasst. Geistige Behinderung kann als gesellschaftliche Positionszuschreibung betrachtet werden. Behinderung gilt als soziale Kategorie in der Interaktion, nicht als Merkmal einer Person. Ein Mensch wird demnach dann und dadurch behindert, wenn er von den Normalitätsvorstellungen der Umwelt abweicht und eine negative soziale Reaktion auftritt. Als Ergebnis des sozialen Abwertungsprozesses wird die soziale Teilhabe erschwert (Markowetz 2008, 240). Wacker (2008a, 42) stellt pointiert dar: „Menschen mit Behinderung sind ‚Gegenstand‘ der Soziologie, weil und solange sie als ‚Besondere‘ behandelt werden.“ Damit ist Behinderung aber auch kein unveränderlicher Zustand; Zeit, Lebenssituation, Lebensbereich, Kultur etc. spielen dabei eine Rolle. Was in unserem Kulturkreis als Behinderung gilt, kann in anderen Kulturen als Normalität angesehen werden (Cloerkes 2007, 9ff.; Wacker 2009, 101ff.).
Zielsetzung
Ziel der Soziologie der Behinderten ist es, unabhängig von Art und Grad der Behinderung ein Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen (Wacker 2008b, 115). Einstellungen und Barrieren müssen analysiert werden, darauf aufbauend können Entstigmatisierungskonzepte und Veränderungsmöglichkeiten erforscht werden.
1.3.4 Pädagogische Perspektive
Die pädagogische Perspektive betrachtet Behinderung vor allem im Kontext von Bildung und Erziehung. Behinderung stellt die Pädagogik vor die Aufgabe, Bildung und Erziehung trotz oder gerade aufgrund anderer Ausgangsbedingungen zu realisieren. Speck (2016, 74f.) formuliert diesen Zusammenhang:
„Was pädagogisch zu gestalten ist, bestimmt sich nicht primär oder allein von der Behinderungsart her, der ein Kind zugeordnet wird, und von Normen einer Behinderungs- oder Defizitorientierung, sondern hat sich umgekehrt daran zu orientieren, was ein Kind pädagogisch braucht, um trotz seiner Lernhindernisse die ihm möglichen Persönlichkeits- und Sozialkompetenzen (Fertigkeiten, Einstellungen) zu erlangen, die ihm eine sinnvolle soziale Teilhabe an seiner Lebenswelt ermöglichen.“
Pädagogik legt also den Fokus auf die Lernmöglichkeiten und die entsprechende Gestaltung der Lernumwelt, um den Lernprozess zu fördern. Dabei werden individuell verschiedene Möglichkeiten und individuell adäquate Erziehungs- und Bildungsziele und Methoden betrachtet.
Erziehung und Bildung
Die pädagogische Sichtweise